Читать книгу Im Schein des Mondes - V.C. Andrews - Страница 7

Оглавление

KAPITEL 1

Happy Birthday, Summer

Es sah aus, als ob ein Regenbogen gerade über unserem Anwesen explodiert wäre. Ich wusste zwar, dass Daddy insgeheim einige Überraschungen geplant hatte, war aber nicht darauf vorbereitet, was er alles getan hatte. In dem Augenblick, als die Morgensonne auf meine Augen fiel, hörte ich das zarte Klimpern von »Happy Birthday to You«. Mit verschlafenem Blick schaute ich auf ein kostbares, erstaunlich anzusehendes Karussell, bei dem sich eine Menagerie von Tieren um eine Ballerina drehte, die in der Mitte tanzte.

»Ich hoffe, dass du immer mit so einem Lachen aufwachst, Summer«, sagte Daddy. Ich schaute hoch und sah Daddy dort stehen. Sein Gesicht strahlte fast so sehr wie meines. Ich hatte seine türkisgrünen Augen, aber Mommys ebenholzschwarze Haare und einen Teint, der ein paar Schattierungen heller als ihrer war, so dass jeder sehen konnte, dass ich auch Daddys Sommersprossen geerbt hatte, besonders auf den Wangenknochen.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Schätzchen«, wünschte er mir und beugte sich vor, um mich auf die Wange zu küssen.

Mommy beobachtete uns aus ihrem Rollstuhl von der anderen Seite des Bettes. Einen Augenblick lang wirkte sie so distanziert, fast als befände sie sich außerhalb einer großen Glasglocke um mich herum. Ich wusste, dass sie einen ihrer Böser-Blick-Gedanken hatte, diese Befürchtungen, dass immer etwas Schreckliches passieren würde, wenn sie zu glücklich war. Anscheinend merkte sie das selbst und fing schnell an zu strahlen. Ich stand auf, um sie zu umarmen.

»Was habt ihr beiden gemacht?«, rief ich, als das Karussell sich immer weiter drehte. »Dagesessen und darauf gewartet, dass ich aufwache? Wie lange seid ihr schon da?«

»Wir haben dich die ganze Nacht beobachtet«, scherzte Daddy. »Wir haben uns abgewechselt, nicht wahr, Rain?«

»Wirklich«, bestätigte Mommy.»Dein verrückter Vater hat sich aufgeführt, als sei dies eher sein Geburtstag als deiner.« Im Scherz zog sie ein missbilligendes Gesicht. »In letzter Zeit führt er sich mehr und mehr wie ein Sechzehnjähriger auf.«

»Das Kind in einem verschwindet nie ganz«, versicherte Daddy uns. »Ich möchte, dass du bei meinem neunzigsten Geburtstag die Kerzen ausbläst und Geschenke auspackst. Vergesst nicht, das zu arrangieren, ihr beiden«, befahl er und es klang, als stünde dieses Ereignis unmittelbar vor der Tür.

Mommy schüttelte den Kopf und lächelte, als ob wir beiden Verbündete wären, die gezwungen waren, einen weiteren närrischen Mann zu tolerieren. Für mich konnte Daddy niemals ein närrischer Mann sein.

»Was für ein wunderschönes Karussell«, jubelte ich, als es stillstand.

»Das«, sagte meine Mutter, »ist nicht einmal die Spitze des Eisbergs. Schau mal aus dem Fenster«, drängte sie mich.

Mein Zimmer ging auf den See hinaus. Großmutter Megan hatte mir erzählt, dass es früher einmal ihr Zimmer gewesen war, und von Mommy wusste ich, dass sie es benutzt hatte, als sie hier einzog. Jetzt wohnten sie und Daddy in Großmutter Hudsons früherem Zimmer; sie hatten nur die Dekorationen geändert und die Möbel ersetzt. Das Badezimmer war an Mommys spezielle Bedürfnisse angepasst worden.

Zu Anfang wollte Mommy keine dramatischen Veränderungen im Haus vornehmen lassen. Sie sagte, sie fühle sich Großmutter Hudsons Erinnerung verpflichtet, alles so zu belassen, wie es gewesen war, aber im Laufe der Zeit nutzten Teppiche sich ab, Wände mussten neu gestrichen, Lampen ersetzt, Armaturen ausgetauscht werden, und Daddy brachte einen Innenarchitekten mit, der dem Ganzen einen neuen Stil verlieh.

Die Flure verströmten immer noch den Geist des neunzehnten Jahrhunderts mit Antiquitäten wie einer White-und-Dogswell-Uhr, die auf einem runden Spiegel aus dieser Epoche hing. Mommy war sehr stolz auf all die Antiquitäten, die meine Urgroßmutter Hudson hinterlassen hatte. Mommy hatte sie so sehr geliebt, dass ich eifersüchtig war und wünschte, ich hätte sie auch gekannt.

Urgroßvater Hudsons Arbeitszimmer war noch genauso wie immer, aber der Großteil des Hauses – das Wohnzimmer, die Küche, mein Zimmer und Daddys und Mommys Schlafzimmer – waren in helleren Farben und mit weicheren Materialien modernisiert worden. Kürzlich hatten meine Eltern das Dienstbotenquartier renovieren lassen; der Boden war mit einem dicken weißen Hirtenteppich bespannt und das Krankenbett durch ein übergroßes Bett aus Kirschholz ersetzt worden. Darüber freute Mrs Geary sich sehr.

Nachdem Glenda Onkel Roy geheiratet hatte, waren sie und Harley aus dem Haupthaus ausgezogen. Mommy und Daddy engagierten Mrs Geary über eine Agentur. Damals war sie Anfang vierzig; mit Ende zwanzig war sie aus Irland gekommen, um in Amerika zu leben und zu arbeiten. Ihr mittlerweile von grauen Strähnen durchzogenes Haar war einst fast so rot gewesen wie Daddys. Sie hatte für entfernte amerikanische Verwandte gearbeitet, die sie so schlecht behandelten wie Aschenputtels Stiefmutter Aschenputtel.

»Ich wurde einfach nicht respektiert. Alles, was ich tat, wurde einfach von mir erwartet. Kein Funke von Dankbarkeit! Ich war froh, dort herauszukommen«, erzählte sie mir.

Daddy sagte, er mochte sie, weil sie über eine innere Stärke und ein Selbstvertrauen verfügte, was sie zu einem Gewinn für jeden Haushalt machen musste, in dem die Hausherrin behindert war. Mommy und sie mochten einander sofort, und mittlerweile war sie für mich nicht weniger als ein Familienmitglied. Oft war sie für mich wie eine zweite Mutter, die mir sagte, ich solle mich wärmer anziehen oder besser essen. Sie hatte sogar etwas dazu zu sagen, wo ich hinging und mit wem. Eine Glucke konnte ihr Küken nicht besser behüten als Mrs Geary mich, als ich unter ihren und Mommys Fittichen aufwuchs.

»Ich habe fast genauso viel Zeit und Energie darauf verwendet wie deine Mutter, um dafür zu sorgen, dass du gesund und stark aufwächst, und ich werde nicht zulassen, dass meine Bemühungen zunichte gemacht werden«, sagte sie mir, wenn ich mich beklagte. Sie wählte gerne Ausdrücke, die es vermieden, ihre wahren Empfindungen mir gegenüber preiszugeben. Als ob sie glaubte, in dem Moment, wo man jemandem sagte, dass man ihn mochte, würde man ihn verlieren. Ich sollte noch erfahren, dass ihre eigene Kindheit und Jugend mit genug Verlusten angefüllt waren, um sie so denken zu lassen.

Trotzdem neckte ich sie, wann immer ich konnte, besonders wegen ihrer endlosen Romanze mit Clarence Lynch, dem Bibliothekar in der städtischen Bücherei. Wie sie war er Ende fünfzig. Sie trafen sich schon, so lange ich mich erinnern konnte.

Einmal als ich sie fragte, warum sie ihn nicht heiratete, lautete ihre Antwort: »Warum sollte ich diese perfekte Beziehung ruinieren?«

Das verwirrte mich natürlich, und ich lief mit meinen Fragen zu Mommy. Sie lächelte einfach und sagte: »Summer, nicht jeder passt so akkurat in die kleinen Kästchen, die die Gesellschaft geschaffen hat. Warum sollen sie es ändern, solange sie glücklich sind?«

Nach Mommys Vorstellung und, ich glaube, jetzt auch nach meiner waren Glück und Gesundheit zwei Seiten einer Medaille, der wichtigsten und wertvollsten Medaille. Menschen, die glücklich waren, konnten eher darauf hoffen, gesund zu sein; natürlich waren Menschen, die gesund waren, glücklich. Lachen war die beste Medizin für Krankheiten der Seele.

Niemand war ein besseres Beispiel dafür als Daddy. Er liebte Mommy und mich so sehr und war so glücklich, dass jeder sehen und spüren konnte, dass er Wärme und Wohlbefinden ausstrahlte. Er war immer noch ein hoch angesehener Physiotherapeut, der die Therapiepraxis seines Onkels übernommen und dann eine Reihe einzigartiger Fitnessclubs ins Leben gerufen hatte, die normale Übungen mit therapeutischen Programmen kombinierten. Sie wurden bekannt als Verjüngungsclubs; es ging darum, durch Training und Medikamente den Alterungsprozess zu verlangsamen und in manchen Fällen sogar teilweise rückgängig zu machen. Sogar Gesundheits- und Fitnesszeitschriften berichteten über Daddy. Ich war sehr stolz auf ihn und Mommy auch.

Ja, Glück und Gesundheit waren die beiden Zwillingsschwestern, die meine Familie adoptiert hatte, um bei mir zu leben. Sie nährten die Klugheit und schufen einen Schutzwall um unser Haus. Nichts Schreckliches von außerhalb konnte uns verletzen. Aber ich wusste auch, dass Ärger ganz in der Nähe in Onkel Roys trauriger Welt lauerte; und auch in unsere Festung drang er ein in Form eines trojanisches Pferdes namens Alison, meiner Tante Alison.

»Menschen, die sich selbst nicht mögen, können auch keinen anderen mögen«, erklärte Mommy mir einmal. »Deine Tante Alison hasst sich selbst. Sie weiß es nur einfach nicht oder will es nicht wahrhaben. Ich empfinde mehr Mitleid für sie als Wut, und das wirst du auch eines Tages«, prophezeite Mommy.

Tante Alison würde ebenso wie Großmutter Megan und mein Stiefgroßvater Grant Randolph heute zu meiner Geburtstagsparty kommen.

Jetzt im Morgenlicht stand ich am Fenster und teilte die Vorhänge, wie Mommy mich angewiesen hatte. Einen Augenblick lang glaubte ich noch zu träumen. Mir fiel die Kinnlade herunter.

Alle Bäume unten waren übersät von leuchtend bunten Bändern. An viele Zweige waren Ballons gebunden, die jetzt im Rhythmus des Windes tanzten. Auf dem Rasen verteilt standen mit grünen, roten und gelben Papiertischtüchern gedeckte Tische. Während ich hinausschaute, wurde gerade ein Tanzboden errichtet. Selbst eine kleine Bühne für Musiker gab es.

Daddy hatte die Vorbereitungen für meine Party streng geheim gehalten und die Leute offensichtlich extra dafür bezahlt, dass sie leise sehr früh am Morgen kamen, noch bevor die Sonne aufgegangen war, um alles aufzustellen.

»Dein Vater war im Dunkeln mit einer Taschenlampe dort draußen, um die Ballons aufzuhängen«, erzählte Mommy mir.

»Ich dachte, es würde größeren Spaß machen, davon geweckt zu werden, als zu sehen, wie es schon Tage vorher vorbereitet wird«, kommentierte er aus dem Hintergrund.

Mir blieb noch immer die Sprache weg. Schließlich schüttelte ich den Kopf und kreischte vor Freude.

»Es ist … wunderbar!«

Ich eilte in seine Arme, um ihn zu küssen, dann umarmte und küsste ich Mommy, die gar nicht aufhören konnte, über meine Aufregung zu lachen.

»Ist dein Vater verrückt oder nicht?«

»Nein!«, schrie ich. »Er ist wundervoll!«

»Siehst du«, sagte Daddy, »wenigstens eine Frau in diesem Haus sieht einen Sinn in dem, was ich tue.«

»Du armer Mann«, neckte Mommy ihn.

»Also, du hättest hören sollen, wie Mrs Geary darüber gemurrt hat, es sei zu viel dies oder zu viel das, und dass selbst ein Freudenschock schädlich sein könnte für einen jungen, leicht zu beeindruckenden Geist.«

»Mach dich nicht über sie lustig«, tadelte Mommy ihn sanft.

»Mich über sie lustig machen? Alle anderen machen sich lustig über mich. Schon gut. Ich muss mich um ein paar Kleinigkeiten kümmern, beispielsweise um die Parkplätze. Ich will doch nicht, dass irgendeiner von Summers Teenagerfreunden über die Blumen fährt«, sagte Daddy und ging.

Mommy schüttelte den Kopf und lächelte hinter ihm her. Würde ich jemals jemanden finden, den ich so sehr liebte und der mich so sehr liebte, wie meine Eltern einander liebten? Sie waren der lebende Beweis, dass es wirklich so etwas wie Seelenverwandtschaft gab.

»Besser, du ziehst dich jetzt an und kommst zum Frühstück herunter«, sagte sie, drehte sich um und wollte hinausfahren.

»Ich bin zu aufgeregt, um etwas zu essen, Mommy.«

»Wenn du nichts isst, wird Mrs Geary eigenhändig jeden einzelnen Luftballon von den Bäumen reißen und die Tische und Stühle zusammenpacken«, warnte sie. Wir lachten. Ich umarmte sie noch einmal.

»Alles, alles Liebe und Gute zum Geburtstag, Summer. All deine Geburtstage waren etwas Besonderes für mich, weil es wirklich ein Wunder für uns war, dich zu bekommen«, sagte sie leise, »aber ich weiß, dass dieser Geburtstag etwas ganz Besonderes für dich ist.«

»Danke, Mommy.«

Ich wusste, wie sehr das stimmte, wie schwierig meine Geburt für sie gewesen war, und dass sie entschieden hatten, ihr Glück nicht aufs Spiel zu setzen und weitere Kinder zu bekommen.

»Ich sehe dich gleich unten«, sagte sie und rollte sich weiter hinaus zu dem Treppenlift, der sie die Treppe hinunterbrachte zu dem Rollstuhl unten.

Nie in meinem Leben hatte meine Mutter neben mir gestanden. Nie waren wir nebeneinander hergegangen oder zusammen gelaufen. Nie waren wir durch Warenhäuser geschlendert oder hatten einen Schaufensterbummel gemacht.

Als ich alt genug war, um sie zu schieben, machte mir das Spaß. Schließlich war ich ein kleines Mädchen, das seine Mutter bewegte. Aber irgendwann drehte ich mich um und beobachtete andere Mütter und Töchter, die durch Einkaufszentren gingen, und als ich in Mommys Gesicht schaute und die Sehnsucht und Traurigkeit sah, fand ich es nicht länger aufregend oder amüsant.

Bedeutete das, älter zu werden, fragte ich mich. Alle Illusionen zu verlieren?

Wenn das so war, warum waren wir alle jetzt so glücklich und freuten uns darauf, die Kerzen auszublasen?

Mrs Geary lief länger als nötig um den Frühstückstisch herum und beobachtete eingehend, wie ich aß, als ob mein Verzehren von Nahrung Teil eines wichtigen Experimentes sei.

»Heute ist ein wichtiger Tag«, predigte sie, als ich mich darüber beklagte, dass ich zu viel aufgetischt bekommen hatte. »Große Tage erfordern größere Stärkung. Ich weiß, was da draußen passieren wird, nachdem die Feierlichkeiten begonnen haben. Du wirst überhaupt nichts mehr essen, du wirst immer weitermachen und deinen schmächtigen Körper völlig auslaugen. Genau dann steht plötzlich und unerwartet die Übelkeit vor der Tür.«

Mommy senkte den Kopf auf ihre Grapefruitscheiben, um ihr Lächeln zu verbergen.

»Ich bin nicht schmächtig«, protestierte ich.

Schließlich war ich einen Meter zweiundsechzig groß und wog 52 Kilo. Mommy sagte, dass ich eine Figur hätte wie sie früher. Das brauchte man mir allerdings nicht sagen. Ich sah es selbst auf den Fotos von ihr, als sie eine Schauspielschule in London besuchte. Auf all den Fotos sah sie aus wie jemand, der gerade in dem Augenblick nach einer wunderbaren neuen Erfahrung erwischt worden ist. Ihr Gesicht glühte. Es gab kein schöneres Kompliment für mich, als mit Mommy verglichen zu werden.

Mrs Geary machte ihre Schmeicheleien immer hintenherum, besonders welche über mein Aussehen und meine Figur.

»Die Natur spielt jungen Mädchen einen Streich«, informierte sie mich. »Bevor sie den Verstand einer Frau haben, bekommen sie bereits den Körper einer Frau. Das ist so, als legte man einem vierjährigen Mädchen ein Diamantenkollier um den Hals. Es hat keine Ahnung, warum jeder, besonders Erwachsene, es anstarren, und es weiß auch nicht, wie es diesen Schmuck tragen soll.«

»Heute sind junge Leute anders«, behauptete ich, wenn sie mir diese Predigten hielt. »Wir sind viel weltgewandter als junge Leute damals, als Sie in meinem Alter waren.«

»Oh, bitte«, rief sie und schlug sich die Hand gegen die Stirn. Das war ihre dramatische Lieblingsgeste. Ich hörte tatsächlich, wie ihre Handfläche gegen die Haut knallte. »Weltgewandter? Es gibt heute mehr Teenagerschwangerschaften, mehr Kinder, die wegen Drogen in Schwierigkeiten geraten, mehr Autounfälle, mehr Jugendliche, die von zu Hause davonlaufen.

Als ich in deinem Alter war, war das einzige schwangere Mädchen im Dorf von ihrem schwachsinnigen Stiefbruder vergewaltigt worden.«

»Mommy!«, stöhnte ich verzweifelt.

»Sie will dir doch nur einen guten Rat geben, Schätzchen«, sagte Mommy, aber sie warf Mrs Geary einen Blick zu, der sagte: »Das reicht.«

»Ich esse etwas auf meiner Party«, versprach ich. »Daddy hat all meine Lieblingsgerichte bestellt.«

Das war ein Fehler. Ich wusste es in dem Augenblick, als die Worte über meine Lippen kamen. Daddy hatte einen Partyservice beauftragt, obwohl Mrs Geary gesagt hatte, sie würde das Essen vorbereiten. Er bestand darauf, dass es unfair sei, ihr solch eine Last aufzubürden, aber sie konterte mit dem überraschenden Zugeständnis, dass es ein besonderes Vergnügen für sie sei, das Essen für meinen Geburtstag vorzubereiten. Schließlich übertrug man ihr die Verantwortung für die Geburtstagstorte.

Sie grunzte bei meiner Feststellung und schüttelte den Kopf. Gelegentlich ging Mrs Geary zum Friseur, um sich das Haar schneiden und legen zu lassen, aber meistens trug sie es zu einem strengen Knoten zurückgesteckt. Sie hatte hübsche grüne Augen, eine kleine Nase und einen kleinen Mund, aber ein etwas fliehendes Kinn. Bei einer Größe von einem Meter siebzig war sie etwas korpulent mit kräftigen Armen und einem üppigen Busen. Sie hatte eine sehr weiche Haut ohne das geringste Anzeichen von Falten, was sie der Tatsache zuschrieb, dass sie weder Make-up noch grobe Seife jemals an ihre Haut gelassen hatte.

»Fertiggerichte«, murrte sie voller Verachtung. »Das wird auch nach Massenware schmecken.«

» Also, Mrs Geary«, tadelte Mommy sie sanft. »Sie wissen doch, dass es keine Fertiggerichte sind.«

Mrs Geary biss sich auf die Unterlippe, schüttelte den Kopf und ging in die Küche. Mommy lächelte mich an und beruhigte mich, dass mit Mrs Geary alles in Ordnung sei.

Ich schlang den Rest des Frühstückes hinunter, zu aufgeregt, um einen Augenblick länger sitzen zu bleiben.

Daddy war draußen und sorgte mit den Gärtnern zusammen dafür, dass alles so aufgestellt wurde, wie er es wünschte. Etwas mehr als zwei Dutzend meiner Freundinnen aus der Dogwood School für Mädchen und fast zwanzig Jungen aus unserer Schwesterschule Sweet William würden ebenso kommen wie einige meiner Lehrer und natürlich meine Familie und Mrs Gearys Mr Lynch.

Ich ging nicht fest mit jemandem, aber ich traf mich mit Chase Taylor häufiger als mit irgendjemandem sonst. An den letzten vier Wochenenden hatte ich mit ihm ein Rendezvous gehabt; dabei reichten für die Mädchen an meiner Schule schon zwei Verabredungen in Folge aus, um praktisch als verlobt zu gelten. Ich wusste, dass fast all meine Freundinnen mich beneideten. Chase sah auf eine klassische Weise gut aus mit seiner perfekt geschnittenen Nase und den sinnlichen Lippen. Seine Augen waren so blau, dass sie den Himmel an einem vollkommenen Frühlingstag hätten inspirieren können. Daddy schätzte ihn, weil er sehr sportlich war; er war einen Meter achtundachtzig groß und hatte, was Daddy Footballspielerschultern und Schwimmertaille nannte. Die Wahrheit war, dass er als Halfback in der Footballmannschaft spielte und der Sweet-William-Rekordhalter im Freistilschwimmen war. Er dachte sogar daran, an Olympischen Spielen teilzunehmen.

Chase’Vater, Guy Taylor, war einer der erfolgreichsten Anwälte der Gegend. Ihr Haus war fast so groß wie unseres, aber ihr Besitz war nicht so schön. Chase erzählte mir, dass seine Mutter unseren sehr begehrte.

»Sie will immer haben, was irgendein anderer besitzt«, stellte er mit einer Offenheit, die ich nicht erwartet hätte, fest. »Deshalb arbeitet mein Vater immer härter. Er sagt, eine ehrgeizige Frau sei nötig, damit ein Mann Erfolg hat. Bist du ehrgeizig, Summer?«

»Ich glaube nicht, dass ich übermäßig ehrgeizig bin«, meinte ich. »Es ist nicht gut, zu ehrgeizig zu sein. Mrs Geary sagt: ›Dann wären Menschen Engel und Engel Götter.‹ Das ist ein Zitat von irgendeinem Dramatiker.«

Er lachte.

»Was für ein Glück du hast, solch ein kluges Hausmädchen zu haben«, sagte er. Mir gefiel nicht, wie er Hausmädchen sagte, und ich erklärte ihm entschieden, dass Mrs Geary in unserem Haus mehr als ein Dienstbote war. Mein aufflackernder Zorn erschreckte ihn nicht.

Er lächelte mich an und sagte, wenn ich wütend würde, wären meine Augen die aufregendsten Juwelen, die er je gesehen hätte. Ich wurde rot und er küsste mich. Vielleicht hatte Mrs Geary ja Recht damit, dass ein junges Mädchen mit dem Körper einer Frau belastet ist. Gefühle schrillten wie Alarmsignale durch meine Brüste und hinab in meine Schenkel. Wir küssten uns immer wieder, jeder Kuss war länger und länger; als unsere Zungen sich bei unserer letzten Verabredung berührten, musste ich losschreien, um ihn davon abzuhalten, den Reißverschluss meiner Caprihose herunterzuziehen.

»Möchtest du es nicht?«, flüsterte er in mein Ohr. Wir hatten abseits der Straße geparkt, nachdem wir im Kino gewesen waren.

»Ja«, sagte ich, »und nein.«

»Quälst du mich?«

»Ich quäle mich selbst«, sagte ich. »Also lass uns aufhören, bevor ich Pickel bekomme.«

Er lachte.

»Wer hat dir gesagt, dass das passieren würde – Mrs Geary?«

»Nein, das habe ich erfunden«, sagte ich. Mein Sinn für Humor brachte ihn zum Lachen, obwohl ich wusste, dass er frustriert war. Das war ich auch, aber eher wäre ich gestorben, bevor ich das zugegeben hätte.

Wenn er mich noch einmal bittet, mit ihm auszugehen, weiß ich, dass er sich wirklich etwas aus mir macht. Wenn nicht, habe ich Glück gehabt. Das war etwas, das Mommy mir beigebracht hatte.

Vielleicht war ich gar kein so kleines Mädchen mehr. Vielleicht war es eine Untertreibung zu sagen, dass ich sechzehn wurde. Vielleicht war ich für mein Alter klug und weise, und all die Dinge, die Mrs Geary von heutigen Teenagern dachte und befürchtete, trafen auf mich einfach nicht zu. Vielleicht war ich zu arrogant.

Überall lauerten Vielleichts, hüpften um mich herum wie die Luftballons in den Bäumen.

Ich lief Mommys Rampe vor dem Haus hinunter und gesellte mich zu Daddy bei den Tischen. Die Party wurde organisiert wie ein Ferienlager. Alle meine Gäste waren aufgefordert worden, ihre Badesachen mitzubringen. Vor vier Jahren hatte Daddy Onkel Roy dazu bewegt, ein Floß zu bauen, das in der Mitte des Sees lag. Wir hatten Tretboote und zwei Kajaks sowie zwei Ruderboote. Im See gab es Kattfische und Barsche. Onkel Roy beklagte sich jedoch darüber, dass Angeln in diesem See so leicht war, wie einen Angelhaken in ein Goldfischglas zu halten. Er meinte, das biete überhaupt keine Herausforderung.

Er war drüben beim Tanzboden und sorgte dafür, dass er ordentlich verlegt wurde. Ich schaute mich um und erwartete, auch Harley zu sehen, aber er war nirgends in Sicht.

»Hallo, Onkel Roy«, rief ich, als ich näher kam. Er kniete auf dem Tanzboden, drehte sich um und schaute zu mir hoch.

»Hallo, Prinzessin. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.« Er nannte mich schon Prinzessin, so lange ich denken konnte. Einmal als Onkel Roy sich mit Mommy unterhielt, kam ich zufällig herein, als er sehnsüchtig sagte: »Sie hätte meine Tochter sein können.« Ich hatte damals keine Ahnung, was er damit meinte, aber ich wusste, dass er mich meinte.

»Danke, Onkel Roy.«

»So wie ihr Kinder heutzutage tanzt, könnte dieses Ding binnen Minuten zersplittern«, klagte er. »Ich hatte ihnen doch gesagt, dass ich dickere Bretter wollte.«

»Das ist schon in Ordnung, Onkel Roy«, beruhigte ich ihn.

»Hm«, meinte er skeptisch und erhob sich.

Als ich noch jünger war, beschrieb Mommy oft, wie sicher sie sich gefühlt hatte, wenn sie an Onkel Roys Hand durch die Straßen von Washington spaziert war. Nicht nur seine Größe, seine Muskeln, seine riesigen Händen, die ihre völlig verschluckten, riefen dieses Gefühl von Sicherheit hervor. Onkel Roy umgab eine Aura von Kraft, von Gefahr, die von seinen in ihm schlummernden Wutanfällen ausging. Obwohl niemand so lieb und zärtlich zu mir sein konnte wie er – mit Ausnahme von Mommy und Daddy natürlich –, spürte ich immer die Spannung und den Zorn, die unter der Oberfläche jedes Lächelns, jedes Wortes, jedes Blicks lauerten.

Selbst Chase machte eines Tages eine Bemerkung, dass mein Onkel ihn an einen Geheimagenten oder so etwas erinnerte.

»Er schaut mich an, als erwartete er, dass ich versuchen würde, dich zu ermorden. Er macht mich nervös. Mann, dem würde ich nicht gerne in einer dunklen Straße begegnen.«

»Er ist eine Schmusekatze«, sagte ich, obwohl ich ihm insgeheim Recht gab.

Mommy erzählte mir, dass Onkel Roy wegen all der Enttäuschungen in seinem Leben so hart und misstrauisch geworden war.

Bald sollte ich auch erfahren, welches die größte Enttäuschung in seinem Leben gewesen war.

Das war ein weiteres Geschenk aus alten Zeiten, von dem man sich wünschte, dass es immer und ewig eingepackt unter dem Weihnachtsbaum liegen bleiben würde.

»Wo ist Harley?«, fragte ich Onkel Roy.

Er tat, was er immer tat, wenn Harleys Name erwähnt wurde. Er presste die Lippen zusammen und zog die Schultern hoch, als bereitete er sich darauf vor, einen Schlag auf den Kopf zu bekommen.

»Denkt sich irgendwelche Missetaten aus«, erwiderte er.

»Onkel Roy«, entgegnete ich lächelnd.

»Ich weiß nicht. Er ist nicht zum Frühstück heruntergekommen, was ungewöhnlich ist. Dieser Junge schläft mehr, als er wach ist, und besonders an Wochenenden liegt er ewig im Bett. Bald wird er das aber nicht mehr können. Bald muss er für seinen Lebensunterhalt arbeiten«, stellte er genüsslich fest.

Onkel Roy bezog sich auf die Tatsache, dass Harley, wenn er seine Prüfungen bestand, dieses Jahr seinen Highschool-Abschluss machen würde. Er besuchte eine staatliche Schule. Unglücklicherweise hatte Harley in den letzten Jahren auf der Schule fast immer Schwierigkeiten gehabt. Er war dreimal von der Schule suspendiert worden und wäre fast wegen Prügeleien der Schule verwiesen worden. Er war des Vandalismus und des Diebstahls bezichtigt worden, aber das konnte nicht bewiesen werden.

Harley war alles andere als unintelligent, und er war auch alles andere als faul, besonders wenn es um etwas ging, das ihm gefiel. Er besaß künstlerische Fähigkeiten und zeichnete gerne, aber meistens Gebäude und Brücken. Mrs Longs, seine Kunstlehrerin, wollte, dass er Architekt wurde, aber Harley benahm sich so, als hätte man ihn aufgefordert, Astronaut zu werden.

Onkel Roy wollte, dass er zur Armee ging, obwohl seine eigenen Erfahrungen dort ein Reinfall gewesen waren. Er war von einem Kriegsgericht verurteilt worden, weil er sich unerlaubt von der Truppe entfernt hatte, nachdem Mommy vom Pferd gefallen und querschnittsgelähmt worden war. Damals war er in Deutschland stationiert und wollte direkt zu ihr kommen, aber er hatte seine Ausgangszeit bereits einmal überschritten und dafür eine Bewährungsstrafe bekommen. Als Ergebnis wurde er unehrenhaft aus der Armee entlassen, nachdem er einige Zeit in einem Militärgefängnis verbracht hatte – was Harley ihm immer vorwarf, wenn sie sich wieder einmal übel anschrien.

Es verblüffte mich, wie furchtlos Harley sein konnte, wenn er Onkel Roy gegenübertreten musste. Harley war ein schlanker, einen Meter zweiundachtzig großer dunkelhäutiger Junge mit haselnussbrauen Augen, in denen grüne Flecken funkelten. Er sah nicht so gut aus wie Chase, aber er besaß ein gewisses Etwas, das meine Freundinnen an Kevin Bacon erinnerte, besonders wenn er verächtlich oder spöttisch lächelte, was in der letzten Zeit häufig vorkam. Er machte sich lustig über all die Jungen am Sweet William, selbst über Chase, nannte sie und meine Freundinnen »Weicheier« wegen ihres privilegierten Lebens, ihres Geldes, ihrer Sportwagen, ihrer Kleidung und dem, was er ihre »seichten Gedanken« nannte.

Er weigerte sich jedoch, mich in die gleiche Kategorie einzuordnen, und behauptete, ich sei irgendwie anders, obwohl ich aus einer Familie mit Geld kam und die gleiche Privatschule besuchte.

»Warum bin ich anders?«, fragte ich ihn.

»Du bist es einfach«, beharrte er.

»Warum? Ich tue alles, was sie auch tun, nicht wahr? Nur wenige von ihnen besitzen mehr als ich.«

»Du bist es einfach«, wiederholte er.

»Warum?«

»Weil ich es sage«, platzte er schließlich heraus und ging davon.

Er konnte einen so wütend machen wie sonst kein Junge, den ich kannte, und dennoch … dennoch gab es Zeiten, da ertappte ich ihn dabei, wie er mich mit anderen Augen anschaute, mit einem sanfteren Blick, einem fast kindlichen und liebevollen Blick.

Es war alles so verwirrend.

Deshalb dachte ich manchmal, Mrs Geary könnte Recht haben damit, dass ich noch zu jung sei für die Segnungen der Weiblichkeit.

Ich schaute zu Onkel Roys Haus. Ich war enttäuscht. Ich hatte gehofft, Harley wäre fast genauso aufgeregt wegen meiner Party wie ich und wäre mittlerweile draußen.

»Vielleicht schaue ich einmal nach, ob er beim Frühstück ist«, sagte ich.

»Vergeude deine Zeit nicht«, riet Onkel Roy mir. »He«, schrie er einen der Arbeiter an. »Du setzt das falsch ein. Das sind eine Feder und eine Nut.«

Er marschierte davon, und ich ging auf sein Haus zu. Onkel Roy hatte sich ein zweistöckiges Haus von bescheidener Größe gebaut mit hellgrauen Wänden und dunkelblauen Fensterläden. Vorne prangte eine Veranda von beträchtlicher Größe, weil er sagte, er hätte schon immer ein Haus haben wollen mit einer Veranda, auf die er einen Schaukelstuhl stellen und die Welt an sich vorüberziehen lassen konnte. Er bekam seinen Wunsch erfüllt, aber hier gab es nichts zu beobachten außer den Vögeln, Kaninchen, Rehen und hin und wieder einem Fuchs. Da jede Hauptverkehrsstraße weit entfernt war, hörte man auch keinen Verkehr. Eine Autohupe erklang so entfernt wie das Schreien einer Wildgans, die im Sommer nach Norden zog.

Onkel Roy behauptete, er hätte das Stadtleben sowieso immer gehasst, und als er noch in Washington gelebt hatte, hätte er es geschafft, die Straßen entlangzulaufen und dabei völlig abzuschalten. Er sah aus wie ein Mann, der die Vorhänge herunterziehen und den Blick nach innen richten konnte, um seine eigenen Visionen und Träume vorbeiziehen zu lassen.

Über die Haustür hatte Tante Glenda ein Bronzekreuz gehängt. Einmal in der Woche holte sie eine Trittleiter heraus und polierte es. Die Haustür stand offen, aber die Fliegengittertür war geschlossen. Ich klopfte leise an den Türrahmen und rief sie dann. Drinnen hörte ich die Gospelsongs, die immer liefen, wenn sie in der Küche arbeitete oder putzte. Offensichtlich hörte sie mich nicht, deshalb öffnete ich einfach die Tür und betrat das Haus.

Es duftete immer nach etwas, das sie kochte oder backte. Heute roch ich den Speck, den sie zum Frühstück gebraten hatte. Ich rief noch einmal nach ihr und spähte in das kleine Wohnzimmer. Sie hatte es in ein Heiligtum für Latisha verwandelt. Überall hingen und standen Bilder von ihr, auf dem Kaminsims, auf den Tischen, an den Wänden. Dazwischen Devotionalien – Heiligenbilder, Abbildungen von Kathedralen, Christusfiguren. Normalerweise brannten Kerzen, allerdings nicht heute Morgen. Das Zimmer selbst war dunkel eingerichtet; Möbel aus Kirschbaum-, Eichen- und Walnussholz auf einem Holzboden mit einigen kleinen Teppichen. Mommy und Daddy hatten ihnen eine wunderschöne Standuhr geschenkt, aber niemand machte sich die Mühe, sie aufzuziehen.

»Heute gleicht ein Tag dem anderen«, hörte ich einmal Onkel Roy zu Daddy sagen, als Daddy ihn nach der Uhr fragte. »Besonders für Glenda. Warum sich Gedanken machen über die Zeit?«

Niemand war im Esszimmer, deshalb ging ich den Flur entlang zur Küche. Die Musik schallte aus einem kleinen CD-Spieler, aber Tante Glenda war nirgends zu sehen. Mit einem Blick durch die Hintertür entdeckte ich jedoch, dass sie draußen war und Wäsche aufhängte. Das mochte sie lieber als einen Trockner, weil sie fand, die Wäsche rieche frischer vom Duft der Blumen in der Luft. Wie üblich trug sie einen verblichenen Kittel und Slipper. Ihr dunkelbraunes Haar mit den vorzeitig grauen Strähnen hing ihr auf die Schultern; an ihren Mundbewegungen erkannte ich, dass sie entweder mit sich selbst redete oder ein Gebet für ihre tote Tochter sprach.

Ich zog mich zur Treppe zurück und lauschte, ob ich etwas hörte, das darauf hindeutete, dass Harley bereits auf war. Aber ich hörte nur das schwache Tröpfeln des Badezimmerwasserhahns.

»Harley«, rief ich. »Bist du wach?«

»Nein«, rief er sofort zurück.

Ich musste lächeln.

»Redest du wieder im Schlaf?«

»Ja«, sagte er. »Weck mich nicht.«

»Es ist schon spät, Harley.«

Ich ging die Treppe hinauf. Harley und ich waren nicht genau wie Geschwister aufgewachsen, aber wir hatten so viele Jahre unserer Kindheit zusammen verbracht, dass ich manchmal an ihn wie an einen Bruder dachte. Wenn ich in der letzten Zeit entsprechende Andeutungen machte, bekümmerte ihn das anscheinend, deshalb hörte ich auf damit.

»Bist du anständig angezogen?«, rief ich vom oberen Treppenabsatz. Ein kurzer Flur nach rechts führte an seinem Zimmer und an Latishas früherem Zimmer vorbei. An einem ebenso kurzen Flur nach links lagen Onkel Roys und Tante Glendas Schlafzimmer und ein Badezimmer. Die Fenster an beiden Enden waren klein und die Holzverkleidungen dunkel. Selbst an einem sonnigen Tag wirkte dieser Flur wie ein finsterer Tunnel.

»Anständig? Das hängt davon ab, wer fragt«, erwiderte Harley.

Ich lachte und ging zur Tür seines Zimmers. Er lag noch im Bett, auf dem Bauch, das Kissen über den Kopf gezogen, um den Sonnenschein fern zu halten, die Decke bis zur Taille hinuntergeschoben. Ich wusste von anderen Malen, dass er gerne in Unterwäsche schlief.

Harleys Zimmer war halb so groß wie meines. Er hatte ein sehr schönes dunkles Ahornbett und dazu passende Kommoden. Der Schreibtisch, den Onkel Roy selbst angefertigt hatte, stand rechts neben den beiden Fenstern. Darauf lagen unordentlich Papiere herum, zwei Bücher lagen aufgeschlagen da, und daneben stapelten sich Hefte. Ich konnte seine Zeichnungen in einem der Hefte sehen. Daneben lag ein Buch mit dem Titel Amerikanische Häuser. Wie üblich waren seine Socken auf dem Boden neben dem Bett verstreut, wo er sie hingeworfen hatte und wo er seine Schuhe fallen gelassen hatte. Seine Jeans hingen über seinem Schreibtischstuhl, das dunkelblaue Hemd, das er gestern getragen hatte, lag zusammengeknüllt oben auf seiner Kommode.

Anders als in meinem Zimmer und in denen der meisten jungen Leute in unserem Alter hingen bei Harley keine Poster an den Wänden. Er mochte einige Rockbands, besonders aber sanfte Musik, sogar Barry Manilow, obwohl er das niemandem außer mir anvertraute. Offenbar befürchtete er, vor seinen Freunden das Gesicht zu verlieren oder, noch schlimmer, herausgefordert und gehänselt zu werden und noch verletzlicher zu sein, sobald sie herausfanden, wie sensibel er war.

»Ich hatte gehofft, du wärst mittlerweile auf und draußen oder zumindest beim Frühstück«, sagte ich.

Er drehte sich nicht um, und ich sah, dass er die Augen schloss, als hätte er schreckliche Kopfschmerzen. Als er seufzte, hob und senkte sich sein ganzer Körper. Schließlich drehte er sich um, ließ den Kopf zurück auf das Kissen fallen, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und schaute mich an.

»Roy«, begann er, »kam gestern Abend hier herein und machte mir Vorschriften. Es lief darauf hinaus, dass ich mich unsichtbar machen, niemanden ärgern und ihn oder dich oder deine Familie nicht in Verlegenheit bringen sollte. Bei ihm klingt das, als ob ein wildes Tier wie ich nicht in die Gesellschaft so zivilisierter Leute wie euch gehört. Das weckt in mir nicht gerade Begeisterungsstürme. Glaub mir, ihm ist es viel lieber, wenn ich gar nicht herauskomme.«

»Das ist nicht wahr, und außerdem wäre es mir viel lieber, wenn du kommst«, entgegnete ich. »Heute ist ein ganz besonderer Tag für mich, Harley Arnold, und du kommst besser heraus. Und zieh dir deine schicksten Sachen an«, befahl ich.

Er lachte. »Meine schicksten Sachen sind die, in denen deine Weicheifreunde sich herumtreiben.«

»Das stimmt doch nicht. Ich weiß schließlich, was du hast und was nicht«, teilte ich ihm mit und ging geradewegs zu seinem Kleiderschrank. »Du solltest lernen, wie man Hosen und Hemden ordentlich aufhängt. Schau dir dieses Chaos an.«

»Ja, Mama.«

»Du Klugscheißer!«, schimpfte ich und zog das hellblaue Hemd heraus, in dem ich ihn so gerne sah, und eine Hose. »Nachdem wir schwimmen gegangen sind, gehst du nach Hause und ziehst dir das hier an«, instruierte ich ihn. »Zieh dir dazu diese Slipper an und blaue Socken. Und rasier dich! Und erzählt mir nicht, du hättest kein Aftershave«, warnte ich ihn rasch. »Ich habe es dir zum Geburtstag gekauft und weiß, dass du noch viel davon hast.«

»Warum willst du überhaupt, dass ich komme? Du hast doch deine Freunde«, schmollte er. »Du hast doch deinen Chase Taylor und seine Weicheikumpels.«

»Du kannst Chase eine Menge unterstellen, aber nicht, dass er ein Weichei ist.«

Harley lief dunkelrot an.

»Ja, das weißt du wohl besser«, murmelte er.

»Außerdem«, überging ich seine Bemerkung, »weißt du doch, dass du mein wichtigster Freund bist, Harley. Meine Geburtstagsfeier wäre keine Geburtstagsfeier ohne dich. Also hör auf!«

Sofort drehte er sich reuevoll um und starrte zum Fenster hinaus. » All dem Lärm nach zu urteilen, werden dort draußen zwei Geburtstage gefeiert.«

»Warte, bis du alles gesehen hast, was Daddy vorbereitet hat«, meinte ich. »Auf den Bäumen sind Ballons gewachsen.«

Er lachte.

»Und Mrs Geary hat eine Geburtstagstorte gebacken, für die man sterben könnte.«

Er nickte, schaute einen Moment zu Boden und verzog die Lippen dann zu seinem sanften Lächeln.

»Was ist?«, fragte ich und rechnete mit etwas, über das ich vermutlich schmollen musste.

»Erinnerst du dich daran, wie ich, bevor die Gäste kamen, die Finger in deine Geburtstagstorte steckte und so tat, als wären es die Kerzen, und wie Roy fast explodierte? Ich dachte, ihm springen die Augen aus dem Kopf.« Er lachte.

»Manchmal glaube ich, du stellst nur etwas an, um ihn wütend zu machen, Harley.«

»Nein. Ich?«

»Du weißt doch, dass du deiner Mutter auch wehtust, wenn du ihn auf die Palme bringst.«

Das Lächeln verschwand.

»Ihr tut nichts mehr weh«, sagte er. »Du musst sehen und riechen und fühlen können, um Schmerz zu empfinden, und das kann sie nicht.«

»Das stimmt nicht, Harley.«

»Oh doch. Okay«, sagte er. »Ich stehe auf, aber ich kann dir nicht versprechen, ob ich auch strahlen werde.«

Ich trat näher auf sein Bett zu und packte ihn an den Haaren. Überrascht blickte er hoch.

»Du stehst jetzt auf und du strahlst und hilfst mit, dass es der schönste Geburtstag meines Lebens wird, oder …«, sagte ich und schüttelte ihn ein wenig fester, als er vermutet hätte.

»Au«, rief er und griff nach meiner Hand. Er hielt mein Handgelenk einen Augenblick fest und schaute zu mir hoch.

»Du hast immer noch nicht den Anstand besessen, mir zum Geburtstag Glück zu wünschen, Harley Arnold.«

Ich ließ seine Haare los, aber er hielt mein Handgelenk weiter fest.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Summer«, sagte er, setzte sich auf und zog mich näher an sich heran, damit er mich auf die Wange küssen konnte. Seine Lippen waren meinen sehr nahe, so nahe, dass er sie mit dem Mund streifte, als er zurückwich.

Einen Moment lang versenkten sich unsere Blicke ineinander, dann rieb ich mir die Wange.

»Rasier dich«, befahl ich.

Mir klopfte das Herz. Er ließ mein Handgelenk los.

»Und zieh dich an und komm nach draußen, um zu helfen«, fuhr ich fort.

Er starrte einfach zu mir hoch, seine Schultern glänzten im Sonnenlicht, das jetzt durch die Fenster fiel.

»Okay«, sagte er mit brechender Stimme, die kaum lauter war als ein Flüstern. Er fasste sich schnell und lächelte mich spitzbübisch an. »Eure Majestät«, fügte er hinzu.

Er stieg aus dem Bett. Ich konnte mich nicht genau erinnern, wann es mir peinlich geworden war, dass er mich halb bekleidet sah, aber ihm schien es nie etwas auszumachen, ob ich ihn sah, selbst jetzt nicht. Vielleicht war das eine Besonderheit von Jungen, oder vielleicht lag es einfach daran, wie er und ich gemeinsam aufgewachsen waren.

Was auch immer der Grund war, mir blieb die Luft weg.

Ich rannte förmlich davon.

Im Schein des Mondes

Подняться наверх