Читать книгу In dunkler Nacht - V.C. Andrews - Страница 6
ОглавлениеPROLOG
Manchmal, wenn am frühen Abend die Schatten länger wurden und die Ecken der Räume in Großmutter Hudsons Herrenhaus verdunkelten, vernahm ich leises Flüstern. Als ich hier angekommen war, hatte ich das noch nicht wahrgenommen, erst jetzt hörte ich es in zunehmendem Maße. Das Wispern klang wie Stimmen, die mich warnten – aber vor was?
Zu Hause in Washington hatte Mama schließlich die Wahrheit meiner Herkunft enthüllt: meine leibliche Mutter war eine reiche weiße Frau, die auf dem College schwanger geworden war von ihrem damaligen Freund, einem Schwarzen namens Larry Ward. Nachdem ich zur Welt gekommen war, hatte der Vater meiner leiblichen Mutter dafür gesorgt, dass ich bei Ken und Latisha Arnold lebte. Ken war gut dafür bezahlt worden. Ich wuchs auf in dem Glauben, Beni Arnold sei meine jüngere Schwester und Roy Arnold mein älterer Bruder.
Nachdem Beni von den Mitgliedern einer Gang ermordet worden war und Mama mir die Wahrheit über mich erzählt hatte, zwang sie meine richtige Mutter Megan Randolph, sich mit uns zu treffen, und flehte sie an, mir aus dem Ghetto herauszuhelfen. Ich dachte, Mama versuchte, mich bei meiner wirklichen Familie unterzubringen, weil sie sich mehr Sorgen denn je machte über Drogen und Bandenkriminalität, aber es gab noch einen weiteren Grund, den ich erst viel später erfuhr. Mama starb an Krebs, und sie wollte mich in Sicherheit wissen und mir Möglichkeiten eröffnen, die sie selbst mir nie hätte bieten können.
Meine leibliche Mutter zögerte zunächst sehr und wollte Mama einfach mehr Geld geben. Sie sagte, es sei für alle eine denkbar ungünstige Zeit, weil ihr Ehemann eine politische Karriere anstrebte. Schließlich sorgte meine leibliche Mutter als Kompromisslösung, bei der meine wirkliche Identität verschwiegen wurde, dafür, dass ich bei ihrer verwitweten Mutter Frances Hudson leben konnte. Für den Rest der Welt galt dies als ein Akt der Wohltätigkeit: ein armes Mädchen mit Erfolg versprechenden Schulleistungen wurde aufgenommen. Reiche Leute engagierten sich bei so vielen karitativen Organisationen, dass eine weitere – tatsächliche oder fiktive – kein Problem darstellte.
Zu Anfang dachte ich, ich würde es nicht lange in dieser Welt aushalten, wo ich Dogwood, eine Privatschule, besuchte, auf der es von reichen Kids nur so wimmelte. Aber nicht, weil ich mich der schulischen Herausforderung nicht gewachsen sah. Trotz der schlechten Schule in Washington war ich immer eine gute Schülerin gewesen und hatte viel gelesen. Und ich machte mir auch keine Sorgen darüber, schlecht behandelt zu werden. Keiner meiner snobistischen Mitschüler schaffte es, auf mich herabzusehen und durch Bemerkungen oder Blicke dafür zu sorgen, dass ich mich schlecht fühlte. Da hatte ich viel Schlimmeres durchgemacht.
Nein, was mir Sorgen bereitete, war meine Großmutter. Sie war eine strenge alte Dame, die gerne ihren Arzt, ihre Rechtsanwälte und Buchhalter belehrte und beschimpfte, und besonders Victoria, die jüngere Schwester meiner Mutter, die die Leitung des Familienunternehmens übernommen hatte. Großmutter Hudson und ich standen einander in den ersten Tagen und Wochen wie zwei Preisboxer gegenüber. Ich sträubte mich, sie mit einer einzigen versteckten Anspielung davonkommen zu lassen, einer einzigen hässlichen Bemerkung über mein Leben mit Mama, Roy und Beni und selbst mit meinem Adoptivvater Ken Arnold.
Obwohl wir in einem Projekt des sozialen Wohnungsbaus in Washington gelebt hatten, gab Mama ihre hochgesteckten Hoffnungen für uns alle nie auf. Sie wollte, dass ich eine gute Ausbildung bekam und etwas aus mir wurde. Ich war schließlich kein Mädchen aus den Slums, kein schlimmes Ghettogirl, und Großmutter Hudson sollte ihre Vorurteile nicht bestätigt sehen.
Das wurde ihr schnell klar. So schlossen wir bald einen Waffenstillstand und entwickelten nach einer Weile sogar eine tiefe Zuneigung füreinander. Eines Tages erfuhr ich sogar, dass sie mich in ihrem Testament bedacht hatte. Das versetzte ihre jüngere Tochter Victoria in Rage, die die Wahrheit über mich erst herausfand, nachdem ich das Schuljahr in Dogwood fast beendet hatte. Sie wollte meine Mutter erpressen und sie zwingen, dafür zu sorgen, dass ich wieder aus dem Testament gestrichen wurde.
Ich vermutete, dies war der wirkliche Grund, warum mir die Gelegenheit geboten wurde, eine renommierte Schauspielschule in London zu besuchen. Das war nur eine Möglichkeit, mich loszuwerden, eine Art Kompromiss. Großmutter Hudson hatte jedoch darauf bestanden, dass dem nicht so sei.
»Glaubst du, ich würde mir von meiner Tochter eine so wichtige Entscheidung vorschreiben lassen?«, blaffte sie mich an, als ich das ansprach.
»Nein«, bestätigte ich.
»Damit hast du Recht. Solange in dieser alten Lunge noch ein Atemzug ist, werde ich das nicht zulassen, also hör auf, dir Leid zu tun«, warnte sie mich. »Menschen, die sich bemitleiden lassen, haben bereits das Handtuch geworfen. Auf meinem Grabstein soll geschrieben stehen, dass dort eine Frau ruht, die sich niemals bemitleiden ließ. Verstanden?«
»Ja«, sagte ich und lachte sie an. Sie brummelte wütend vor sich hin, lächelte aber hinter ihrer Maske des Zorns, ein Lächeln, das nur ich sehen konnte.
Jetzt, da das Schuljahr vorüber war, dauerte es nur noch wenige Tage, bis ich nach England aufbrach. Mama war gestorben. Ken saß im Gefängnis, wo er hingehörte, Roy war in der Armee, und die arme Beni war tot. Ich hatte wirklich nur mich selbst, denn meine leibliche Mutter hatte es geschafft, das Geheimnis meiner Identität zu bewahren, und jetzt sah es so aus, als könnte sie ewig so weitermachen, nur um den Frieden in ihrer kostbaren, vollkommenen Welt aufrechtzuerhalten. Ihre Entschuldigung war immer die gleiche – dass sie ihren Ehemann Grant schützen musste, der Politiker werden wollte.
Ihre eigenen Kinder Brody und Alison hatten keine Ahnung, dass sie mein Halbbruder und meine Halbschwester waren. Mit Alison wollte ich sowieso nicht verwandt sein, aber Brody war zu aufmerksam geworden und meine Mutter hatte sich Sorgen gemacht, dass er zu tiefe Gefühle für mich entwickelte.
Brody war ein Footballstar und ein Überflieger, der sogar eine Klasse übersprungen hatte. Meine Großmutter machte sich ebenfalls Sorgen darüber, wie sehr er sich zu mir hingezogen fühlte.
Ich vermutete, dass es noch einen weiteren Grund gab, warum sie so begierig war, mich nach London zu schaffen. Sie hatte Pläne geschmiedet, mich auf der Hinreise zu begleiten, aber ihr Arzt, der es mit meiner Hilfe geschafft hatte, ihr einen Herzschrittmacher implantieren zu lassen, hatte ihr dringend geraten, Abstand von dieser Reise zu nehmen. Der Schrittmacher funktionierte noch nicht hundertprozentig. Natürlich hatte Großmutter Hudson einen Wutanfall bekommen und geschworen, sich ihrem Arzt zu widersetzen. Ich musste ihr entgegentreten und ihr sagen, dass ich nicht fahren würde, wenn sie mitkam.
»Ich übernehme nicht die Verantwortung dafür, was dir passieren könnte«, erklärte ich energisch. So viel sie auch polterte und mit den Händen wedelte, ich wich nicht zurück.
»Das ist doch Unsinn.« Wild gestikulierend ging sie im Zimmer auf und ab. »Was glaubst du eigentlich, mit wem du sprichst?«
»Ich hatte gehofft, mit einer reifen Erwachsenen«, sagte ich. Ihre Lippen bewegten sich einen Augenblick lang ohne einen Laut, obwohl sie nur zu gerne auf mich losgegangen wäre.
»Du weißt doch, dass du eine äußerst aufreizende junge Dame bist, nicht wahr?«, brachte sie schließlich heraus.
»Ich frage mich, von wem ich das geerbt habe«, erwiderte ich.
»Nicht von deiner Mutter, so viel ist sicher«, sagte sie. »Wenn die in eine Krise gerät, zieht sie los und kauft sich ein neues Kleid.«
Sie ließ sich in den Sessel in ihrem Schlafzimmer fallen und lehnte sich zurück, die Arme auf die Sessellehnen gestützt.
»Ich warne dich. Meine Schwester Leonora, die sich einverstanden erklärt hat, dich bei ihr wohnen zu lassen, ist ganz anders als ich.«
»Welch eine Erleichterung.«
»Sei nicht unverschämt«, fauchte sie. Nachdem sie tief Luft geholt und zum Fenster hinausgeschaut hatte, wandte sie sich wieder mir zu. »Sie ist sehr pedantisch. Sie und ihr Ehemann Richard sind typisch englisch. Ihr Leben ist geprägt von einem Verhaltenskodex, der die Regeln, nach denen ich lebe, wie das reinste Chaos wirken lassen. Außerdem wirst du dort wie einer ihrer Domestiken leben und Hausarbeiten verrichten müssen. Vielleicht bist du dem allein nicht gewachsen. Jeden Tag werden sie dich daran erinnern, welches Glück du hast, sie bedienen zu dürfen.«
Ich erwiderte: »Glück. Ich frage mich jeden Tag, was ich getan habe, um dieses Glück zu verdienen.«
»Du bist ein freches Kind. Nun gut«, meinte sie seufzend, »sie können nicht erwarten, dass ich dir in der kurzen Zeit bei mir all deine Flausen ausgetrieben habe. Selbst einem Menschen wie mir sind Grenzen gesetzt.«
»Wie, Großmutter, du gibst zu, dass du nicht alles kannst?«
»Willst du, dass ich einen Herzanfall bekomme? Bist du deshalb so unverschämt?«
Ich lächelte.
Sie wandte sich ab, um ihr eigenes Lächeln zu verbergen, und schüttelte dann den Kopf.
»Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass du bei Leonora lebst. Das war eine schlechte Idee.«
»Bestimmt ist es nichts im Vergleich zu dem, wie ich in Washington lebte, Großmutter. Werden Menschen dort vor ihrer Haustür erschossen? Hängen Drogenabhängige in ihren Hausfluren herum, stehen Gangmitglieder an den Straßenecken und warten darauf, andere zu terrorisieren?«
»Es gibt dort andere Hindernisse, über die du springen musst«, entgegnete sie. »Sie glaubt, zum englischen Königshaus zu gehören. Schon gut«, wehrte sie ab und nickte mit zusammengekniffenen Augen. »Du wirst schon selbst sehen.« Sie seufzte tief. »Du wirst sowieso die meiste Zeit in der Schule verbringen, vermute ich. Wenn dieser Drachen von einem Arzt mich gesundschreibt, komme ich zu dir und sehe zu, dass du nicht ausgenutzt wirst.«
»Ich glaube, darauf kann ich schon selbst achten«, sagte ich.
»Sei nicht so arrogant, Rain. Das steht dir nicht und führt nur zu Schwierigkeiten.«
»Ich bin nicht arrogant. Ich bin … selbstbewusst«, sagte ich. »Glaubst du, es ist leicht für mich, alles zusammenzupacken und in ein fremdes Land zu gehen?«, fragte ich mit ausgestreckten Händen.
Sie lachte.
»Da hast du wohl Recht. Nun gut, lass uns keine Zeit verschwenden. Gib mir bitte meine Pillen«, befahl sie und deutete auf den Nachttisch neben ihrem Bett. Ich holte eine ihrer Tabletten heraus und reichte sie ihr mit einem Glas Wasser. »Deine Mutter behauptet, sie käme morgen her, um dir auf Wiedersehen zu sagen. Bestimmt kommt sie wieder mit irgendeiner Entschuldigung, dass sie mit Grant an einer politischen Veranstaltung teilnehmen muss.«
»Was meine Mutter betrifft«, gestand ich, »habe ich mich an Enttäuschungen gewöhnt.«
Sie nickte traurig.
»Auf der anderen Seite«, meinte sie plötzlich lächelnd, »wäre Victoria bestimmt allzu gerne bereit, dir beim Packen zu helfen und dich wegzubringen.«
»Ich weiß.«
Ihr Lächeln wurde weicher und verschwand.
»Vielleicht bist du doch ein Glückspilz. Schließlich muss ich hier bei meinen Kindern und Enkeln bleiben, die mich nicht besonders oft besuchen. Vermutlich sehe ich jetzt, wo du weg bist, auch nicht mehr viel von Brody«, fügte sie mit einem misstrauischen Blick hinzu.
»Er hat mich weder angerufen noch mir geschrieben, falls es das ist, was du wissen möchtest, Großmutter.«
»Gut«, sagte sie. Sie schüttelte den Kopf. »Deine Mutter muss sich früher oder später der Wahrheit stellen.«
»Warum?«, fragte ich trocken.
Sie starrte mich an. Ich wollte, dass sie sagte, weil es das Richtige sei trotz der Gefahr und der Folgen. Blut war nun einmal dicker als Wasser.
Als ich meine leibliche Mutter kennen lernte, hatte ich gehofft, wir würden uns näher kommen. Ich hatte mich auf eine Mutter-Tochter-Beziehung gefreut. Sie war jedoch immer noch eine Fremde für mich, und die Chance, dass sich dies je ändern würde, war ziemlich gering.
»Ich mache ein kleines Nickerchen«, sagte Großmutter, statt die Diskussion fortzuführen.
Ich nahm eine Decke und legte sie ihr über die Beine, worauf sie die Augen schloss. Ich verabscheute es, sie so schwach und erschöpft zu sehen. Durch eine seltsame Fügung des Schicksals war sie zu meiner einzigen richtigen Familie geworden. Noch vor sechs Monaten hätte sie mich auf der Straße nicht einmal bemerkt, und ich sie ebenso wenig. Wie das Schicksal mit uns gespielt hatte, dachte ich, als ich Großmutter Hudsons Zimmer verließ.
Als ich durch das Haus ging, hörte ich, wie das Tuscheln in den Ecken lauter wurde. Vielleicht stammte es von den Geistern von Großmutter Hudsons Vorfahren, die sich fragten, was aus ihrer Welt geworden war, dass jemand mit meinem Hintergrund hier lebte. Vielleicht kamen die Warnungen, die ich mir einbildete, daher. Hier lebte ein Mädchen mit schwarzem Blut, ein Mädchen, dessen Vater ein Afroamerikaner war, wie ein echtes Enkelkind. Es erhielt von allem das Beste und wurde sogar im Testament dieser alten distinguierten weißen Familie bedacht. Die Geister dieser Familien glaubten wahrscheinlich, dass wir mit einem solchen Verhalten das Schicksal herausforderten.
Ich verließ das Haus und ging zum See hinunter. Zwei ziemlich große Krähen hockten auf einem Felsen. Sie starrten mich mit vorsichtigem Interesse an. Ich fragte mich, ob eine weitere Spezies außer dem Menschen der Farbe eine Bedeutung beimaß. Schauten andere Vögel auf die Krähen herab, weil sie schwarz waren? Sie waren sehr schön, eher schimmernd ebenholzfarben als schwarz, und ihre Augen wirkten in der Sonne wie Juwelen. Roy hatte ebenso schöne dunkle Augen, erinnerte ich mich.
Ich fragte mich, wie es ihm in der Armee ging. Seine Einheit war bereits nach Deutschland verlegt worden, und wir hatten darüber gesprochen, dass er mich in England besuchen sollte. Bestimmt fühlte Roy sich auch wie eine Waise, denn er hatte seinem Vater nie nahe gestanden. Jetzt, wo sein Vater im Gefängnis saß und seine Mutter tot war, blieb ihm nur noch die Armee. Ich hatte zumindest Großmutter Hudson.
Das Hupen eines Autos ließ die Krähen gen Himmel auffliegen. Sie strichen an mir vorbei, ihr simultaner Flügelschlag ließ sie fast wie ein einziger Vogel wirken. Mit ihren leicht geöffneten Schnäbeln sahen sie aus, als lachten sie, während sie über den See auf die Sicherheit der Dunkelheit im Wald zusegelten.
»Auf Wiedersehen«, flüsterte ich und drehte mich um, um Jake, dem Chauffeur meiner Großmutter, zuzuwinken. Er hatte mein Flugticket abgeholt und hielt es hoch wie ein Lotterielos, das gezogen worden war. Ich eilte den Weg hinauf.
»Es ist alles bereit«, sagte er und reichte mir die Reiseunterlagen. »Übermorgen reisen Sie ab. England. Wow! Ich wette, Sie sind aufgeregt.«
»Eher nervös als aufgeregt, Jake.«
Er lächelte und nickte. Jake war hochgewachsen, schlank und wurde langsam kahl, hatte aber buschige Augenbrauen. Ich mochte seine Unbekümmertheit sehr. Kurz vor Ende des Schuljahres hatte er mich mitgenommen und mir sein Pferd gezeigt, ein neugeborenes Fohlen. Er hatte es nach mir benannt.
Großmutter Hudson hatte Glück, jemanden wie Jake zu haben, dachte ich. Er war schon lange bei ihr, und sie kannten sich schon lange, bevor er ihr Angestellter wurde. Sein Vater war einmal der Eigentümer dieses Besitzes gewesen. In mancher Hinsicht gehörte er für mich zur Familie.
»Sie werden das schon prima machen, Rain«, prophezeite er. »Schicken Sie mir nur von Zeit zu Zeit englische Toffees. Da wir gerade von England sprechen, wie geht es denn unserer Königin?«, fragte er und warf einen Blick auf das Haus.
»Mrs Hudson droht immer noch mitzukommen, falls es das ist, was Sie meinen.«
»Seien Sie nicht überrascht, wenn sie im Flugzeug sitzt«, warnte er mich.
»Wenn sie das tut, springe ich wieder hinaus. Das habe ich ihr gesagt.«
Er lachte und steuerte auf sein Auto zu.
»Ich stehe in aller Herrgottsfrühe putzmunter vor der Türe.«
»Erwarten Sie nicht, dass ich auch putzmunter sein werde«, rief ich. Er winkte, stieg ein und fuhr davon.
Es wurde schnell dunkel. Das große Haus ragte drohend hinter mir auf, in Großmutter Hudsons Zimmer brannte Licht. Ich war erst kurze Zeit hier, aber ich hatte zumindest angefangen zu verstehen, was es bedeutete, wieder ein Zuhause zu haben. Jetzt sollte ich mich wieder auf ein ungewisses Abenteuer einlassen. Ich hatte Erfolg gehabt in der Schultheateraufführung, und Leute, die angeblich Ahnung davon hatten, meinten, ich hätte vielleicht das Zeug zur Schauspielerin.
Warum sollte ich nicht das Zeug dazu haben, so zu tun als ob, dachte ich. Den größten Teil meines Lebens musste ich das: Ich musste so tun, als hätten wir ein sicheres Familienleben, einen Vater, der sich um uns kümmerte, eine Zukunft für mich und meine Familie. Jetzt tat ich so, als sei ich eine Waise, obwohl ich wusste, dass ich eine leibliche Mutter hatte, die mich immer noch verleugnete. Illusionen waren Teil meiner selbst.
Wie einfach sollte es doch sein, eine Bühne zu verlassen und eine andere zu betreten.
Wenn ich so leben muss und sein muss, ist es dann nicht besser, ein Publikum zu haben, das applaudiert und mich immer wieder auf die Bühne ruft, um mir Beifall zu spenden?
Der Mond sah aus wie ein Scheinwerfer, der auf mich gerichtet war. Die Welt um mich herum war ein großes Theater.
Eine Welle des Flüsterns erhob sich von einem imaginären Publikum und erreichte mich in der Dunkelheit hinter dem Vorhang.
»Hab keine Angst«, sagte Mama.
»Nimm deine Position ein, Rain«, befahl der Regisseur. »Sind alle bereit?«
»Mama … ich kann nicht anders. Ich habe Angst«, rief ich in Richtung auf die dunklen Seitenkulissen.
»Zu spät, Schätzchen«, flüsterte sie. »Schau. Der Vorhang geht auf.«
Ich nickte. Es war zu spät.
»Fangen wir an«, sagte ich zu mir und trat vorwärts ins Licht, auf die Bühne, als erwartete ich, wiedergeboren zu werden.