Читать книгу In dunkler Nacht - V.C. Andrews - Страница 9
ОглавлениеKAPITEL 3
Wieder die Neue
Boggs klopfte am nächsten Morgen so fest an meine Tür, dass ich glaubte, sie würde bersten. Das ist ein Mann, der es auch genießt, Fliegen die Flügel auszureißen, dachte ich.
»Bist du wach?«, knurrte er auf dem Flur.
»Ja, ja!«, schrie ich zurück. Mama hätte gesagt, er könnte einen Friedhof in einen Haufen Lazarusse verwandeln.
»Ab in die Küche«, befahl er und ging davon.
»Jawohl, Sir«, rief ich und salutierte. Dann stöhnte ich. Es war jetzt nicht nur der Jetlag. Ich musste im Schlaf Saltos geschlagen haben. Es schmerzte mir jeder Muskel in meinem Körper und die Decke hatte sich um meine Beine gewickelt. Vor meinem kleinen Fenster war es grau und bewölkt, und die Luft war viel kühler, als ich erwartet hatte. Das führte zu einer weiteren entzückenden Entdeckung. In diesem Zimmer gab es nichts, um Wärme zu erzeugen, keinen Radiator, nicht einmal ein elektrisches Heizgerät. Diese Tatsache kam mir dramatisch zu Bewusstsein, als ich die nackten Füße auf den Holzboden setzte. Ich hatte das Gefühl, als wäre ich in eine eiskalte Pfütze getreten. Schnell suchte ich meine Hausschuhe und zog mir etwas Wärmeres als meinen Morgenmantel an. Ich hätte gerne Zeit gehabt, mich zu duschen, aber weder gab es eine Dusche, noch hatte ich Zeit. Ich musste baden, aber als ich auf meine Armbanduhr schaute, sah ich, dass mir nur noch fünfzehn Minuten blieben, bis ich in der Küche sein musste, um beim Vorbereiten und Servieren des Frühstücks zu helfen.
Nachdem ich Höschen und BH angezogen hatte, warf ich einen prüfenden Blick in den Flur, sah, dass die Luft rein war, und eilte mit meiner Kleidung unter dem Arm ins Badezimmer, wo ich mich wenigstens waschen konnte. Wieso überraschte es mich nicht festzustellen, dass es kein heißes Wasser gab? Das Wasser lief und lief, wurde aber überhaupt nicht wärmer. Mir blieb keine andere Wahl, als mich schnell abzuwaschen und zitternd Bluse und Rock anzuziehen. Der einzige Vorteil davon, dass ich mein Haar hochstecken musste, war, dass ich dafür nicht viel Zeit brauchte, aber meine Güte, es musste dringend gewaschen werden.
Das Haus war sehr still. Ich hörte eine Pfanne in der Küche klappern, und als ich eintrat, sah ich, dass Mary Margaret eine Teekanne mit heißem Wasser füllte. Sie warf mir einen Blick zu, ließ die Augen aber nicht von ihrer Arbeit, als ob das Zubereiten einer Tasse Tee für meinen Großonkel mit einer Herzoperation vergleichbar war. Sie ging aus der Küche und wünschte mir dabei einen guten Morgen.
»Nicht vergessen, Milch zuerst«, murmelte ich. Verblüfft schaute sie mich an, sah das Lächeln auf meinem Gesicht und riss die Augen weit auf. Machte hier denn nie jemand einen Scherz?
»Du bist also auf«, verkündete Mrs Chester, die aus der Vorratskammer kam. »Das is ‘ne Überraschung. Bestimmt hatte Mr Boggs was damit zu tun, was, Schätzchen?«
»In der Tat. Er hat unter meinem Bett geschlafen«, sagte ich, und sie gackerte los. »Was ist das?«, fragte ich, als ich sah, was sie zum Frühstück zubereitete.
»Pannas«, sagte sie. Als ich immer noch ungläubig guckte, fügte sie hinzu: »Gewürzte Blutwurst.«
»Igitt«, murmelte ich. Sie legte den Kopf schief.
»Mr Endfield isst dienstags gerne ein richtiges englisches Frühstück. Wir servieren ihm Spiegeleier, gebratene Tomaten sowie Toast und Marmelade. Schneid die Tomaten in Scheiben. Das kannst du doch, ohne dir in die Finger zu schneiden, oder?«
»Natürlich«, sagte ich und fing an. Ich merkte, dass sie mich aus den Augenwinkeln beobachtete.
»Du kannst gut mit dem Messer umgehen«, kommentierte sie.
»Ich habe viel für meine Familie gekocht.«
Sie nickte. Ich schaute die Marmelade an.
»Na los. Kannste probieren«, forderte sie mich auf, und das tat ich. Sie lachte über mein Gesicht. »Sie ist aus Bitterorangen. Mr Endfield mag das sehr gerne.«
»Isst denn niemand hier kalte Cornflakes?«, fragte ich.
»Kalte Cornflakes?« Sie überlegte einen Augenblick. »Mr Endfield isst jeden Donnerstag Haferbrei, aber nich kalt.«
»Jeden Donnerstag? Ist hier alles nach Tagen organisiert, selbst was sie essen?«
»So isses«, bestätigte sie.
Mary Margaret kehrte zurück. Mrs Chester schaute sie einen Augenblick an und entnahm ihrem Gesichtsausdruck etwas, dann nickte sie in Richtung Speisezimmer.
»Deck den Frühstückstisch«, befahl sie.
Ich hätte nicht gedacht, dass Großtante Leonora so früh am Morgen aufstand, aber so wie sie die Liste ihrer Pflichten herunterratterte, nachdem sie zum Frühstück heruntergekommen war, wurde mir klar, dass sie mit ihren Wohltätigkeitsveranstaltungen und sozialen Organisationen genauso beschäftigt war wie ihr Mann mit seiner Anwaltskanzlei. Sie wirkte sehr gepflegt, das Haar gebürstet, gekämmt und gesprayt. Heute trug sie ein hellblaues Baumwollkostüm mit einer Seidenbluse.
Mein Großonkel steckte während des Frühstücks die Nase in die Londoner Times und tauchte nur auf, um einen Kommentar über etwas abzugeben, das er gerade gelesen hatte. Mir fiel auf, dass Großtante Leonora zu allem, was er sagte, nur lächelte und entweder ein langes »Oooh« murmelte oder einfach nickte. Schließlich faltete er die Zeitung zusammen und wandte sich an mich, als ich Mary Margaret gerade half, den Tisch abzuräumen.
»Wissen Sie, wie Sie zur Schauspielschule kommen?«, fragte er.
Ich warf Großtante Leonora einen nervösen Blick zu. Sollte ich die Wahrheit sagen?
»Natürlich weiß sie das nicht, mein Lieber«, erwiderte sie.
»Das habe ich vermutet. Ich kann Boggs heute Morgen nicht entbehren. Sie müssen deshalb selbst den Weg finden«, erklärte er.
Ich war nicht besonders traurig darüber.
Er steckte die Hand in die Innentasche seines Jacketts und zog einen kleinen Block heraus. »Passen Sie auf«, befahl er, und ich trat näher zum Tisch. Mary Margaret warf mir einen Blick zu und eilte dann in die Küche, als sei für ihre Ohren verboten, was er mir sagen wollte.
»Obwohl London mehr als ein Jahrhundert lang die bevölkerungsreichste Stadt auf Erden war, war es auch immer stets eine Ansammlung von Dörfern«, begann er. »Jedes Dorf hatte für sich genommen eine ganz einmalige Qualität, und manche haben dies bis heute bewahrt.«
Als er sprach, schaute er mich nicht direkt an.
Er redete zum Tisch hin, als sei er der Lehrer in einem Klassenzimmer, der gerade mit einer Stunde anfing.
»Beispielsweise konzentriert sich in Whitehall die Regierung, deren Macht sich vom Parlament in Westminster herleitet, das natürlich ohne die Königin unvollständig ist, deren königliches und öffentliches Leben sich immer noch rund um den St. James’s Park abspielt.«
Er schaute hoch zu mir.
»Haben Sie das so weit verstanden?«
»Ja«, sagte ich, obwohl ich nicht wusste, was das damit zu tun hatte, mir den Weg zur Schule zu beschreiben. War es erforderlich, die englische Geschichte zu kennen, bevor man durch die Stadt fahren konnte?
»Gut. Die beste Art und Weise, überall hinzukommen, ist mit der U-Bahn. Alle Stationen sind ganz deutlich mit diesem Symbol gekennzeichnet«, sagte er und zeichnete, »das kreisförmige Symbol von London Transport. Am besten kaufen Sie sich eine Monatskarte.«
»Oh, ich muss noch mein Geld in Pfund wechseln«, sagte ich, etwas in Panik.
Er schaute Großtante Leonora scharf an.
»Das ist noch nicht erledigt worden, Leonora?«
»Natürlich nicht, mein Lieber. Sie ist erst gestern angekommen.«
»Warum bist du nicht direkt mit ihr zu unserer Bank gefahren und hast es erledigt?«
»Ich dachte, sie hier unterzubringen und ihr von Boggs ihre Pflichten erklären zu lassen sei wichtiger. Es blieb keine Zeit dafür.« Sie schüttelte den Kopf.
»Ich muss mich heutzutage um jede Kleinigkeit kümmern«, murrte er.
Er griff wieder in seine Innentasche, holte seine Brieftasche heraus und zog eine Banknote hervor.
»Das ist ein Zehner«, sagte er, hielt ihn hoch und wedelte damit vor mir herum, »eine Zehn-Pfund-Note. Kennen Sie den Unterschied zwischen englischem und amerikanischem Geld?«
»Ja«, sagte ich.
»Gut. Das wird Ihnen für heute reichen, aber Sie müssen sich sofort um Ihre Bedürfnisse kümmern. London ist in eine Anzahl von Zonen unterteilt. Eine Fahrkarte muss für all die Zonen gültig sein, durch die Sie fahren möchten. Die Kosten der Fahrkarte richten sich nach der Anzahl der Zonen, durch die Sie fahren wollen, verstanden?«
Er redete zu schnell, und das alles ergab für mich keinen Sinn.
»Man kann nicht nur eine Fahrkarte kaufen?«
»Doch, natürlich, aber es hängt davon ab, wo Sie hinwollen.«
»Aber das weiß ich doch noch nicht«, stöhnte ich.
Er schüttelte den Kopf.
»Das ist nicht schwierig. Sogar Kinder werden alleine damit fertig.«
»Also, in den Staaten ist das nicht so«, protestierte ich.
»Die Staaten«, murrte er, »besitzen kein halb so gutes öffentliches Transportsystem wie wir. Das werden Sie schon bald merken. Wenn Sie zur Haltestelle kommen, wird Ihnen der Angestellte dort helfen. Hier«, sagte er und warf ein paar Notizen auf seinen Block, »ist Ihr Streckenplan.
Von der Haltestelle aus fahren Sie nach Notting Hill Gate, dort wechseln Sie in die Circle Line zum Sloane Square, wo Ihre Schule ist. Sie befindet sich in der Nähe des Royal Court Theatre. Es sollte nicht sehr schwierig sein, sogar für eine Amerikanerin.«
Er reichte mir den Zettel und die Zehn-Pfund-Note.
»Danke«, sagte ich.
»Sie gehen vorne zur Tür hinaus, wenden sich nach rechts und gehen zwei Straßen Richtung Westen zur Haltestelle.«
»Ist das nicht aufregend für Sie?«, rief Großtante Leonora und klatschte in die Hände.
»Ich werde Sie wissen lassen, wann ich zurückkomme«, sagte ich. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie die Augen meines Großonkels von einem Lächeln strahlten.
»Es ist nicht annähernd so schwierig, wie es sich anhört«, sagte er, »und anders als in den Staaten sind die Leute hier freundlich und hilfsbereit. Achten Sie aber dennoch darauf, wen Sie ansprechen, und machen Sie eine Weile erst mal keine Umwege«, riet er mir. Er faltete seine Zeitung zusammen, stand auf und schaute zu Großtante Leonora am Tisch herab, als befände sie sich am anderen Ende eines langen Tunnels. »Kümmere dich so bald wie möglich um dieses Geldproblem, Leonora.«
»Das werde ich, mein Lieber«, versicherte sie.
»Also, einen schönen Tag«, fügte er hinzu und ging hinaus.
Ich erzählte Großtante Leonora von dem Verrechnungsscheck, den ich hatte, und sie versprach, sich persönlich darum zu kümmern.
»Jetzt wo Richard es zu einer Staatsaffäre gemacht hat«, meinte sie.
Ich half Mary Margaret den Tisch abzuräumen. Dann frühstückten wir selbst, und ich ging zurück in mein Loch in der Wand, um mir die Haare zu richten und ein bisschen Lippenstift aufzutragen. Bevor ich ging, gab ich Großtante Leonora den Scheck, den Großmutter Hudson mir ausgehändigt hatte. Sie schaute ihn an, riss die Augen auf und zog die Augenbrauen hoch.
»Das ist eine Menge Taschengeld«, kommentierte sie. »Ich wusste gar nicht, dass meine Schwester so großzügig ist. Bestimmt weiß Victoria nichts davon«, fügte sie nachdenklich hinzu. Dann schüttelte sie den Kopf, als wollte sie einen üblen Gedanken verscheuchen, und lächelte. »Das soll nicht heißen, dass Sie es nicht brauchen. London ist ein teures Pflaster. Ich sorge dafür, dass Sie mit ein paar hundert Pfund anfangen. Einen schönen Tag, meine Liebe«, fügte sie hinzu.
Mit einem Herzen, das klopfte wie die Standuhr im Salon, verließ ich das Haus und machte mich auf den Weg zu meiner neuen Schule.
Mein erster Fehler unterlief mir nur einen Block von Endfield House entfernt. Ich konzentrierte mich auf all die Dinge, die Großonkel Richard mir gesagt hatte, und trat vom Bürgersteig herunter, ohne daran zu denken, dass die Engländer auf der anderen Seite fahren. Als ich nach links schaute und kein Auto sah, glaubte ich mich sicher. Als Nächstes hörte ich das Kreischen von Bremsen und sah einen wutschnaubenden Fahrer vor mir. Mit klopfendem Herzen sprang ich auf den Bürgersteig zurück.
»Pass doch auf die Ampel auf«, schrie der Fahrer mich mit wütendem Blick an, als er an mir vorbeifuhr.
Ich schloss die Augen, hielt die Luft an und ging über die Straße, als es sicher war. Der Himmel war noch ganz grau, und mir fiel auf, dass jeder Fußgänger einen Regenschirm bei sich trug. Ich hatte keinen, und keiner im Haus hatte mir einen angeboten, bevor ich ging. Die ersten Tropfen fielen, kurz bevor ich die Haltestelle erreichte. Wegen des Verkehrs konnte ich nicht über die Straße laufen, deshalb musste ich warten, auch wenn ich dabei durchnässt wurde. Schließlich stürzte ich in die Haltestelle und schüttelte mich. Meine Bluse war klatschnass. Was für ein schrecklicher Anfang.
Leute drängten an mir vorbei, hasteten hin und her. Ich fand, es sah nicht viel anders aus als die U-Bahn-Haltestellen in den USA. Jemand, der eine Dose für Münzen aufgestellt hatte, spielte Saxophon. Der Stationsbeamte war jedoch sehr hilfsbereit, und wenige Augenblicke später wartete ich neben anderen auf meinen Zug.
Etwa jede Minute hörte ich eine Ankündigung, auf die Lücke aufzupassen. Ich konnte mir nicht vorstellen, was das bedeutete, bis der Zug einfuhr und ich sah, dass eine Lücke entstanden war zwischen Zug und Bahnsteig.
»Achten Sie auf die Lücke«, murmelte ich lachend vor mich hin und stieg in meine erste Londoner U-Bahn ein. Ich studierte die Karte und wartete auf die Stationen, die Großonkel Richard mir aufgeschrieben hatte. Kurze Zeit später stieg ich aus und begab mich in einem leisen, stetigen Nieselregen auf die Suche nach der Schule. Ich geriet in Panik und glaubte, den falschen Weg gegangen zu sein. Vor einem Geschäft blieb ich stehen, um wieder zu Luft zu kommen. Meine feuchte Kleidung klebte mir am Körper. Wie peinlich, mich am ersten Tag so vorzustellen, dachte ich und überlegte, ob ich nicht einfach umkehren und zum Endfield Place zurückkehren sollte.
»Alles in Ordnung, Schätzchen?«, fragte eine kleine ältere Dame, als sie aus dem Geschäft kam.
Vermutlich sah es merkwürdig aus, wie ich die Arme um mich schlang und mich auch noch gegen die Wand drückte.
»Nein, ich kann den Weg nicht finden«, sagte ich.
»Und wohin, Schätzchen?«
Sie schaute zu mir hoch und blinzelte. Ihr Gesicht wirkte wie gemalt, so viel Make-up trug sie.
»Hier«, sagte ich und hielt ihr die Adresse hin. Sie warf einen Blick darauf und schaute hoch.
»Oh, du bist nicht weit davon entfernt, Schätzchen. Geh hier einfach links, bis du zum Plowman’s Pub kommst, dann ist es direkt um die Ecke. Tatsächlich wollte ich gerade eine Freundin besuchen, die in der Nähe wohnt. Trinke immer um diese Zeit eine Tasse Tee mit ihr«, sagte sie. »Später wenn der Pub öffnet, gehen wir hinunter und trinken einen Shandy. Nun komm schon«, forderte sie mich auf. Ich bückte mich, um unter ihren Schirm zu treten. Wir mussten einen komischen Anblick geboten haben, wie wir gemeinsam den Bürgersteig entlanggingen.
»Was ist ein Shandy?«, fragte ich sie.
»Ein Shandy? Oh, halb Bier, halb Limonade. Hast du noch nie einen Shandy getrunken?«
»Nein«, gestand ich lachend.
»Mein erster Mann und ich verbrachten in den letzten fünf Jahren jeden Nachmittag zusammen im Plowman. Er starb vor sechs Monaten.«
»Das tut mir Leid«, sagte ich.
»Ja, es zahlt sich nicht aus, alt zu werden, Schätzchen. Bleib jung und halt dich trocken«, rief sie, als sie in den Torweg eines Gebäudes neben dem Pub einbog.
Ich flitzte um die Ecke, bis ich die Adresse fand. Es sah eher aus wie ein kleines Bürogebäude als eine Schule, aber der Name stand auf den Doppelglastüren. Ich trat ein, gerade als zwei Mädchen in schwarzen Tanztrikots laut kichernd die Treppe zu meiner Rechten hinuntersprangen. Sie sahen aus wie Schwestern. Beide hatten sehr dunkles braunes Haar, bei einem war es im Nacken kurz geschnitten, beim anderen länger und wirkte auf sehr attraktive Weise ungekämmt. Beide hatten hübsche Gesichter. Ihr Teint war fast so dunkel wie meiner.
»Bonjour«, sagte diejenige mit den kurzen Haaren. »Können wir dir helfen?«, fragte sie.
»Ich suche Mr MacWaine.« Ich strich mir mit den Handflächen übers Haar.
»Ah, ja. Monsieur MacWaine ist in seinem Büro, nicht wahr, Leslie?«, fragte sie das andere Mädchen.
»Mais oui. Willst du hier Schülerin werden?«, fragte sie mich.
»Ja.«
»Du bist das Mädchen aus Amerika?«
»Ja«, sagte ich und lachte in mich hinein. Das Mädchen aus Amerika.
»Très bien. Ich bin Catherine und das ist meine Schwester Leslie. Willkommen«, sagte sie.
»Danke.«
»Wohnst du auch im Studentenwohnheim?«, fragte Catherine.
»Nein. Ich wohne bei der Schwester einer Freundin. Tatsächlich arbeite ich für Unterkunft und Verpflegung, helfe im Haushalt, bei den Mahlzeiten.«
»Ein Au-pair-Mädchen«, verkündeten beide lachend.
»Ja.«
»Très bien«, sagte Leslie. »Was willst du werden, Sängerin, Tänzerin, Schauspielerin?«
»Ich soll Schauspiel studieren. Seid ihr Tänzerinnen?«
»Heute ja«, sagte Catherine. »Morgen sind wir Sängerinnen.«
Sie lachten wieder, wandten sich einander zu und kicherten. Beide hatten eine Stupsnase, einen kleinen Mund und ein hübsches Lächeln.
»Wir sind aus Paris«, sagte Catherine und streckte die Hand aus.
»Ich heiße Rain Arnold und komme aus Virginia.«
»Enchanté«, sagte Leslie. »Sprichst du Französisch?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Du wirst etwas aus jeder Sprache lernen und vielleicht sprichst du ja Französisch, wenn du nach Amerika zurückgehst?«, sagte Catherine. Sie schaute Leslie bestätigungheischend an, aber die zuckte nur die Achseln.
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Monsieur MacWaines Büro ist hier drin«, sagte sie und deutete auf eine Tür. »Er ist damit beschäftigt, seine Zahlen zusammenzuaddieren.«
»Seine Zahlen?«
»Geld, Dollars, Franken, Pfund, Lire, Yen«, ratterte Catherine los. »Er ist Monsieur Geldsack, eh?«
»Oui. Er wird dich zum Star machen, chérie«, sagte Leslie. »Für einen Preis.«
Sie lachten wieder.
»Siehst du all diese Stars?«, verkündete ihre Schwester und deutete auf die gerahmten Fotos an den Wänden. »Wie sagt man … Abso… Absolventen von hier? Vielleicht hängt eines Tages auch dein Bild hier?«
Ich nickte. Die »Wall of Fame« sah wirklich eindrucksvoll aus.
»Wir müssen jetzt zum Technikunterricht. Wir sehen dich vielleicht später, ja?«, sagte Catherine.
»Technikunterricht?«
»Oui. Dort lernt man perfekt zu sprechen.«
»Ach, du meinst Unterricht in Sprechtechnik.«
»Mais oui. Bis später.«
»Vermutlich«, sagte ich, als sie sich abwandten und rechts durch die Tür gingen.
Wie ein Wirbelwind voller Energie und Gelächter waren sie gekommen und gegangen. Ich stellte fest, dass die Tür zu Mr MacWaines kleinem Büro offen stand. Er telefonierte gerade. Sobald er mich sah, beendete er das Gespräch und bat mich hereinzukommen, während er aufstand und um den Schreibtisch herumkam. Auch hier hingen Bilder früherer Schüler und Bilder von Aufführungen an den Wänden. Plakate von Musicals und Theaterstücken bedeckten eine weitere Wand.
»Rain, wie entzückend, Sie zu sehen. War die Reise gut? Sind Sie bei Mrs Hudsons Schwester untergebracht?«
»Ja«, sagte ich zu beiden Fragen.
»Bitte setzen Sie sich. Ihr ganzer Papierkram ist schon lange erledigt«, erklärte er, während er sich wieder hinter den Schreibtisch setzte. »Ich führe Sie gleich durch die Schule, und Sie können dann mit Ihrer Monolog-Klasse anfangen. Laut Stundenplan beginnt sie in etwas weniger als einer halben Stunde. Sagen Sie, hatten Sie schon Gelegenheit, etwas von London zu sehen?«
»Nein, Sir. Ich bin erst gestern angekommen und habe bei den Endfields gleich angefangen zu arbeiten. Heute Morgen bin ich direkt hierher gekommen.«
»Sie werden noch genügend Zeit für Besichtigungen haben. Machen Sie sich darüber keine Sorgen. Es gehört auch zu Ihrem Stundenplan, im West End Theateraufführungen zu besuchen. Das verspreche ich Ihnen. Für Sie wird das in jeder Hinsicht eine lohnende Erfahrung. Ich freue mich so für Sie. Aber wir wollen keine Zeit verschwenden«, sagte er und sprang wieder auf. »Ich führe Sie herum.«
Ich erhob mich und folgte ihm aus dem Büro.
»Im Augenblick haben wir für das Sommersemester nur vierzig Schüler. Sie sind zu unterschiedlichen Zeiten hier und tun unterschiedliche Dinge, so dass Sie manchmal vielleicht nur mit einem Dutzend Schüler zusammen sind. Wir sind stolz darauf, dem Einzelnen individuelle Aufmerksamkeit zu widmen.«
Als wir tiefer in das Gebäude vordrangen, hörte ich auf einmal eine wunderschöne männliche Singstimme. Sie sang etwas Italienisches. Mr MacWaine sah das Interesse in meinem Gesicht.
»Das ist Randall Glenn«, erzählte er mir. »Eine echte Entdeckung. Er kommt aus Toronto, Kanada.«
Wir blieben an einer Tür mit einer großen Glasscheibe stehen und schauten in den Raum. Ich sah einen gut gebauten, etwa einen Meter fünfundachtzig großen Jungen, dessen hübsches Gesicht von dichtem haselnussbraunem Haar umrahmt war. Seine Augen waren von solch einem strahlenden Himmelblau, dass ich sah, wie sie zu leuchten anfingen, wenn er hohe Töne erreichte, als er sich uns langsam zuwandte.
Ein kleiner rundlicher Mann mit schwarz-grau meliertem Haar begleitete ihn am Klavier. Seine Finger waren so dick, dass sie wirkten wie zusammengeklebt, miteinander verwoben wie die Hand irgendeines amphibischen Geschöpfes. Als er sich Randall Glenn zuwandte, sah ich, dass sein Gesicht rund war und dicke weiche Züge hatte.
»Nein, nein, nein«, rief er und hob die Hände von den Tasten. »Zu sehr im Hals. Singen Sie von hier, von hier unten«, rief er und tätschelte sein eigenes Zwerchfell. Randall senkte den Kopf und schloss die Augen, als wäre er gerade verprügelt worden.
»Das ist Professor Wilheim aus Wien. Er ist ein harter Lehrmeister, aber er hat schon Dreck in Gold verwandelt. Wenn er an dich glaubt, lernst du schnell, an dich selbst zu glauben.«
Ich beobachtete, wie Randall Glenn aufschaute und wieder anfing. Seine Stimme trug mit solch einer Resonanzkraft, dass ich mir nicht vorstellen konnte, warum sich jemand darüber beschwerte. Sein Blick, der zur Decke gerichtet war, senkte sich, bis er meinen traf.
Als er sah, wie ich ihn anstarrte, muss das seine Konzentration gestört haben, denn Professor Wilheim knallte die Hände auf die Tasten. Der Professor machte eine Pause, um sich zu beruhigen, schaute dann zu Randall und fuhr auf seinem Klavierstuhl herum, als er sah, worauf dessen Augen gerichtet waren. Mr MacWaine hob die Hand und wandte sich dann an mich.
»Lassen Sie uns weitergehen. Der Professor hasst die geringste Unterbrechung«, erklärte er.
Er zeigte mir eine kleine Cafeteria neben einer winzigen Küche. Dort hing auch eine Korkpinnwand mit allen möglichen Notizen, in denen Dinge zum Verkauf angeboten wurden, einschließlich Theaterkarten.
»Die Schüler bereiten sich hier ihr Essen selbst zu. Wir haben immer Fleisch und Käse, Joghurt und andere Dinge vorrätig im Kühlschrank. Es gibt eine Mikrowelle und einen Herd, um Suppen und Tee zuzubereiten, wenn Sie mögen. Nach einer Weile werden Sie merken, dass wir alle eine kleine Familie sind.«
Die nächsten beiden Räume waren Klassenzimmer mit Tafeln. In einem lasen und studierten ein halbes Dutzend Schüler Der Widerspenstigen Zähmung. Ein große dünne Frau um die dreißig mit hellbraunem Haar ging mit geschlossenen Augen im Zimmer umher und lauschte der Rezitation. Hin und wieder unterbrach sie den Vorlesenden und bat ihn oder sie, zu interpretieren, was er gelesen hatte, fragte, wie es gespielt werden sollte und wie die Reaktionen der anderen Mitwirkenden auf der Bühne zu dem Zeitpunkt aussehen sollten.
»Jeder Schüler«, flüsterte Mr MacWaine, »wird ebenso zum Regisseur wie zum Schauspieler. Wir vertreten hier die Auffassung, dass diese beiden Dinge miteinander verwoben sind. Das ist Mrs Winecoup, die auch die Monolog-Klasse unterrichtet, an der Sie in etwa fünfzehn Minuten teilnehmen werden.« Bei ihm hörte sich das so an wie der Countdown zu einem Raketenstart. Ich spürte ein Kribbeln in meiner Brust.
Wir folgten dem Flur zu einer anderen Treppe, die uns zum Tanzstudio im ersten Stock führte. Mr MacWaine erklärte, dass sie Wände eingerissen hatten, um diesen Raum zu schaffen. Ein großer, muskulöser schwarzer Junge absolvierte Ballettübungen. Wir beobachteten ihn eine Weile.
»Das ist Philip Roder«, erklärte Mr MacWaine in lautem Flüsterton. »Er ist bereits in einer Aufführung von The Student Prince in Amsterdam aufgetreten. Er stammt aus London. Mrs Hudson hatte übrigens arrangiert, dass alles, was Sie brauchen, für Sie gekauft worden ist. Wenn wir in mein Büro zurückkehren, gebe ich Ihnen Ihre Trikots, Tanzschuhe, Bücher und sonstigen Accessoires.«
»Oh, vielen Dank.«
»In Mrs Hudson haben Sie eine echte Wohltäterin«, sagte er mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Ich weiß.«
Auf dem Weg die Treppe hinunter kamen wir an der Sprechtechnikklasse vorbei. Ich sah Leslie und Catherine und zwei weitere Mädchen – eines sehr groß mit rötlich blondem Haar, das andere schlank, etwa von meiner Größe mit flachsblondem Haar –, die Sätze wiederholten, welche der Lehrer, ein dunkelhaariger Mann von etwa fünfzig, ihnen vorsprach. Dort befanden sich auch noch zwei etwas jünger aussehende Jungen.
»How now brown cow«, scherzte Mr MacWaine. »Worte sind hier unser Werkzeug«, erklärte er.
Als wir in sein Büro zurückkehrten, gab er mir meine Sachen und meinen Stundenplan. Nach der Monolog-Klasse sollte ich mich bei Professor Wilheim melden, der meine Stimme testen sollte, und nach dem Mittagessen sollte ich mich einer Mrs Vandermark vorstellen, die meine Tanzfähigkeiten beurteilen sollte.
»Auf diese Weise wissen wir genau, wo wir bei Ihnen anfangen müssen«, erklärte er. Er hieß mich noch einmal willkommen, warf einen prüfenden Blick auf seine Uhr und sagte, es sei Zeit für meinen ersten Unterricht. »Viel Glück«, wünschte er mir.
Nachdem ich einige der Schüler gesehen hatte, fragte ich mich wirklich, was ich hier sollte. Ich fühlte mich wie jemand, der bald getestet wurde und dann als Betrüger aufflog. Morgen würden sie mich hinauswerfen und ich säße in einem Flugzeug zurück in die Staaten. Fast wünschte ich mir, dass das passierte. So nervös war ich. In Schulen für darstellende Künste wie dieser wurden die Schüler vermutlich ständig eingehend betrachtet, eingeschätzt, beurteilt und aneinander gemessen. Bei so kleinen Klassen war es unmöglich, in der Menge zu verschwinden, wie es so viele Schüler in der öffentlichen Schule getan hatten, die ich besucht hatte. In meiner ehemaligen Schule in Washington gab es Schüler, deren Lehrer nach einigen Monaten Unterricht nicht einmal ihren Namen kannten. Was für ein Unterschied zwischen einer Schule wie dieser und einer im Ghetto.
Leslie und Catherine waren bereits im Klassenzimmer, als ich eintraf. Die anderen beiden Mädchen, die ich im Sprechtechnikunterricht gesehen hatte, saßen hinter ihnen. Sie schauten sich um, als ich eintrat.
»Ah, chérie«, rief Leslie, »wir warten schon auf dich. Das sind Fiona und Sarah«, sagte sie. Die Rotblonde namens Fiona lächelte mich an, aber das Mädchen mit den flachsblonden Haaren wirkte unfreundlich, misstrauisch.
»Hallo, ich bin Fiona Thomas.« Ich nahm ihre lange schmale Hand.
»Rain Arnold.« Ich schaute das andere Mädchen an.
»Hallo«, sagte sie, fast ohne die Lippen zu bewegen. »Du kannst dir vermutlich denken, dass ich Sarah bin, Sarah Broadhurst.«
Die Französinnen trugen immer noch ihre Tanztrikots, aber Fiona und Sarah hatten lange Röcke und weite Blusen mit Rüschenkragen an.
»Hi«, sagte ich zu Sarah. Sie zog die Mundwinkel herab.
»Bist du das Mädchen, das auf einer Schulbühne in Amerika entdeckt worden ist?«, fragte sie.
»Ich denke ja«, sagte ich. »Wo bist du entdeckt worden?«
»Unter einem Stein«, rief eine männliche Stimme hinter mir. Als ich mich umdrehte, sah ich in die sanften blauen Augen von Randall Glenn. Er brüllte vor Lachen über seinen eigenen Witz. Leslie und Catherine lachten ebenfalls, aber Fiona wirkte geschockt. »Hi«, sagte er und streckte seine Hand aus. »Ich bin Randall Glenn. Ich habe mir schon gedacht, dass du die neue Schülerin bist, als ich dich durch das Fenster schauen sah. Bist du auch im Wohnheim?«
»Nein, ich wohne bei der Schwester einer Freundin«, sagte ich.
»Wo?«, fragte Fiona.
»In Holland Park«, sagte ich. Sie schaute Sarah an, die grinste.
»Wir wohnen nicht weit von dir. Ich wohne am Notting Hill Gate und Sarah in South Kensington.«
»War dies das einzige Stück, in dem du aufgetreten bist?«, fragte Sarah mich. Sie schien besorgt, dass ich über weitere Theatererfahrung verfügen könnte.
»Ja, das einzige.«
»Entdeckt bei deinem Debüt? Das ist ja wirklich beeindruckend«, witzelte Randall. »Findest du nicht, Sarah?«
»Mich müsst ihr nicht fragen«, entgegnete sie. »Fragt Mr MacWaine.«
»Sarah hat Angst, dass sie Konkurrenz bekommen könnte für die Rolle der Ophelia in unserem Auszug aus Hamlet diesen Monat. Die Schule veranstaltet alle zwei Monate einen Aufführungsabend«, erklärte Randall.
»Ich mache mir wohl kaum Sorgen«, stellte sie fest, schaute mich aber einen Augenblick mit zusammengekniffenen Augen an, bevor sie sich umdrehte.
Ich setzte mich hin und Randall wählte einen Platz mir gegenüber, als Mrs Winecoup gerade den Raum betrat.
»Guten Morgen«, begrüßte sie uns und lächelte mich an.
»Haben alle schon unsere neueste Schülerin, Rain Arnold, kennen gelernt?«
»Ja, Mrs Winecoup«, bestätigte Randall. »Wir sind alle ordnungsgemäß vorgestellt worden.«
Sein albernes Grinsen brachte mich zum Lächeln. Er zwinkerte mir zu und drehte sich dann zu unserer Lehrerin um.
»Wunderbar. Herzlich willkommen, Rain. Sie haben den Text bereits, wie ich sehe. Wir haben gerade mit einer Analyse von Hamlet begonnen als Vorbereitung für einen Abend mit Theater, Tanz und Gesang, der in vierzehn Tagen stattfinden soll. Haben Sie es je gelesen?«, fragte sie.
»Ja«, sagte ich, »aber nicht sehr genau.«
Endlich lächelte Sarah.
»Gut«, sagte Mrs Winecoup zu meiner Überraschung, »vielleicht bekommen wir ja so ein paar neue Interpretationen.«
Sarahs Lächeln verpuffte. Randall sah aus wie ein kleiner Junge, der gerade Kekse aus der Dose gestohlen hat, und die französischen Mädchen strahlten vor Freude. Fiona starrte mich an, als hätte ich bereits eine wichtige Äußerung von mir gegeben, und ich hatte das Gefühl, als klebte meine Zunge am Gaumen.
Sie brauchen hier nicht lange, um dich ins Rampenlicht zu stellen, dachte ich.
Aber das ist schließlich der Grund, warum ich hierher geschickt worden bin.
Glaube ich.
Nach der Stunde sollte ich mich bei Professor Wilheim melden, um meine Stimme beurteilen zu lassen. Ich erzählte Randall davon, und er bot sich an, mich zu begleiten.
»Ich kann nicht mit dir hineingehen«, sagte er, »aber ich habe nichts bis zur Bühnentechnik-Klasse, und ich kann zur moralischen Unterstützung in der Nähe bleiben, wenn du möchtest. Dann könnten wir zusammen Mittag essen. Ich bin selbst noch nicht lange hier, aber ich könnte dich informieren, so gut ich kann«, fuhr er fort, als ich einfach zuhörte, ohne einen Kommentar abzugeben. Er wirkte jetzt sehr nervös. »Ich hatte noch keine Gelegenheit, viele Freunde zu gewinnen. Wenn du mich nicht willst, gehe ich einfach …«
»Nein«, widersprach ich lächelnd. »Das ist prima. Danke.«
Er strahlte. Wusste er eigentlich, wie gut er aussah? Ich kannte eine ganze Menge, die das taten und deswegen einfach arrogant waren. Er schien jedoch ziemlich nervös zu sein und redete den ganzen Weg zum Musikraum, fast ohne Luft zu holen. Ich erfuhr, dass sein Vater Börsenmakler war. Randall sagte, er sei der älteste von drei Geschwistern. Er hatte einen jüngeren Bruder und eine Schwester, die das Nesthäkchen der Familie war.
Als ich Professor Wilheim vorsang, war ich so zittrig, dass ich selbst hörte, wie meine Stimme krächzte, als ich einfache Tonleitern sang. Er wollte wissen, ob ich Noten lesen konnte. Natürlich konnte ich das nicht, und das brachte einen Augenblick lang einen Ausdruck des Ekels auf sein Gesicht, bevor er seufzte wie jemand, der Kraft sammelt, bevor er weitere zehn Blocks geht. Dann fragte er mich, welche Lieder ich kenne. Keines, das ich nannte, gefiel ihm. Schließlich bat er mich, einfach Amazing Grace zu singen, während er mich auf dem Klavier begleitete.
»Sehr gut, sehr gut«, lobte Professor Wilheim, als ich fertig war. »Sie kommen in meinen Kurs für fortgeschrittene Anfänger jeden Dienstag und Donnerstag um neun. Kollidiert das mit irgendetwas?«, wollte er wissen. Ich warf einen Blick auf meinen Stundenplan und schüttelte den Kopf.
»Nein.«
»Gut. »
Als ich Randall erzählte, dass ich in dem Kurs für fortgeschrittene Anfänger war, reagierte er, als hätte ich bereits eine Rolle in einer größeren Show bekommen.
»Er glaubt, dass du den Ton halten kannst; sonst hätte er dich den Do-re-mi-auf-ewig-Kurs gesteckt«, sagte er. »Vielleicht singen wir demnächst ein Duett.«
»Bitte«, bat ich, »erspare mir diese falschen Komplimente.«
Er zog eine Grimasse, als hätte ich ihn geschlagen.
»Vergiss nicht, dass ich dich singen gehört habe. Ich bin nicht annähernd so gut wie du.«
Sein Gesichtsausdruck wechselte zu einem anerkennenden Lächeln. Aber als wir die Cafeteria betraten, wurde er ernst.
»Ich hoffe, ich kann den Erwartungen aller gerecht werden«, murmelte er.
Das war ein Gefühl, das ich verstehen konnte. Es musste schmerzlicher sein, ausgesucht zu werden und zu versagen, als überhaupt nicht ausgewählt zu werden. Man denke nur an all die enttäuschten Verwandten und Freunde, die von deinem Versagen erfuhren, und was fing man dann mit sich an? Würde mir das so ergehen? Aber wen würde ich schon enttäuschen? Vielleicht Großmutter Hudson, aber bestimmt nicht meine leibliche Mutter und bestimmt nicht Roy. Er wollte, dass ich jeden Gedanken an eine Karriere aufgab und ihn einfach heiratete.
Da bist immer noch du, Rain, dachte ich. Du wirst dich selbst enttäuschen.
Sarah und Fiona saßen bereits am Tisch, aßen Sandwiches und tranken Tee. Philip Roder, der Balletttänzer, den ich beim Training gesehen hatte, las eine Biographie von Isadora Duncan und aß einen Joghurt. Er schaute auf, als Sarah fragte, wie es mir mit Professor Wilheim ergangen war.
»Er hat sie in den Kurs für fortgeschrittene Anfänger gesteckt«, antwortete Randall, bevor ich reagieren konnte. Er schien wild entschlossen, ihr keine Gelegenheit zum Lächeln zu geben.
»Wirklich?«, fragte sie mit vor Enttäuschung triefender Stimme.
»Das ist sehr gut«, sagte Philip Roder. »Mir hat er praktisch verboten, seinen Unterrichtsraum zu betreten. Hi. Ich bin Philip Roder.« Er streckte die Hand aus.
»Rain Arnold«, sagte ich und schüttelte sie rasch. »Ich habe dich vorhin tanzen sehen. Du bist sehr gut.«
»Danke«, sagte er.
»Oh, du hast Ahnung vom Ballett?«, fragte Sarah mich.
»Etwa so viel wie jeder dort, wo ich herkomme. Aber man muss, glaube ich, nicht allzu viel wissen, um festzustellen, dass er gut ist«, erwiderte ich scharf.
»Alles klar«, sagte Philip und strahlte. »Jemand mit Mumm in den Knochen.«
Sarah schaute einen Moment wütend drein und biss dann in ihr Sandwich.
»Was möchtest du gerne essen?«, fragte Randall mich. Ich ging mit ihm zum Kühlschrank und suchte mir etwas Käse aus. Er machte uns Tee, während ich die Sandwiches zubereitete. Bevor wir uns hinsetzten, gingen Fiona und Sarah.
»Was ist los mit ihr?«, fragte ich und nickte in ihre Richtung.
»Beachte sie gar nicht. Sie fühlt sich ständig angegriffen«, erzählte Philip Roder. »Sie ist zu jedem so, besonders zu neuen Schülern.«
Ich nickte und zuckte dann die Achseln.
»Wo ich herkomme, wäre sie nicht mehr als eine lästige Fliege. Ein Schlag und sie ist weg.«
Er lachte laut.
»In Ordnung«, sagte er und schaute Randall an. »Pass gut auf, wenn du irgendwelche Spielchen mit diesem Mädchen spielen willst, Randall, mein Junge«, sagte Philip, als er aufstand. »Ich muss gehen. Bis später, Rain Arnold.«
Ich schaute Randall an. Sein Gesicht war knallrot.
»Hör dir den an. Du bist ein bisschen freundlich zu jemandem«, sagte er, »und als Nächstes erfährst du, dass sie dich verlobt haben. Ich hoffe, du bist nicht beleidigt.«
Er wirkte wirklich nervös. Seine Hand zitterte, als er die Teetasse zum Mund führte.
»Mach dir keine Sorgen darüber«, tröstete ich ihn. »Das Letzte, wonach mir im Moment der Sinn steht, ist eine Romanze.«
»Mir auch«, sagte er schnell, als erwartete ich das von ihm zu hören.
Unwillkürlich zog ich die Augenbrauen hoch.
»Tatsächlich?«
»Ja, sicher, em, ich meine … ich meine nicht, ich würde dich nicht bitten, mit mir auszugehen oder so, aber … ich muss meine Arbeit sehr ernst nehmen und …«
»Ich weiß sowieso nicht, wie wir miteinander klarkommen könnten«, sagte ich und schaute in meinen Tee.
»Was? Warum?«
»Du hast einfach unterstellt, ich sei ein Tz. Ich bin ein Mz.«
»Wie bitte?«
»Du hast mir zuerst den Tee eingeschüttet«, sagte ich.
Er starrte mich einen Moment an und lachte dann.
»Ach ja. Klar. Tut mir leid. Ich hätte dich fragen sollen.«
»Ich habe doch nur Spaß gemacht. Mir fällt der Unterschied gar nicht auf. Ich bin doch gerade erst angekommen. Ich habe noch nicht einmal die City gesehen.«
»Tatsächlich? Also, vielleicht könnten wir uns irgendwann diese Woche einmal treffen und eine kleine Tour machen. Ich bin schon ein paar Mal hier gewesen, aber ich habe nie besonders auf irgendetwas geachtet. Ich war immer mit meinen Eltern bei diesen Gruppenausflügen. Hättest du Lust?«
»Klar«, sagte ich.
»Gut.«
Er wirkte so erleichtert.
Aber genau in dem Augenblick platzten Leslie und Catherine in die Cafeteria und machten sofort »oh, oh, oh«.
Randall wurde wieder knallrot, als Catherine sich neben ihn setzte und ihre Schulter an seiner rieb.
»Ich bin schon die ganze Woche hinter ihm her, und du gewinnst ihn bereits mit einem Lächeln für dich, chérie?«, fragte sie mich.
»Beherrsch dich, Catherine«, bat Randall.
Leslie trat hinter ihn und legte die Hand auf seine andere Schulter.
»Vielleicht sollten wir ihn uns teilen, was, Rain?«
»Wollt ihr beide wohl aufhören!«, rief Randall. Er warf mir einen Blick zu und schoss dann hoch. »Ich muss zu Bühnentechnik und dort etwas vorbereiten. Bis später«, sagte er und schaute mich noch einmal an, bevor er hinausstürmte.
Die beiden französischen Mädchen kicherten.
Ich musste mit ihnen lachen. Dann schaute ich hinter Randall her.
Ein gut aussehender, aber schüchterner Junge.
Vielleicht gefällt es mir hier ja. Eines hatte ich bei den anderen Schülern sofort gespürt, nämlich das völlige Fehlen von Spannungen wegen der Unterschiede der Hautfarben. Vielleicht lag es daran, dass wir alle so verschieden waren, manche sprachen eine völlig andere Sprache, und wir alle hatten einen anderen Background und stammten aus unterschiedlichen Kulturen.
Vielleicht konnte man im Theater sein, wer man wollte, und wenn man gut war, vergaßen die Leute im Publikum alles andere. Alle teilten diese Illusion.
Vielleicht war Großmutter Hudson ja viel klüger, als ich gedacht hatte. Vielleicht wusste sie dies alles. Vielleicht wusste sie, dass ich lieber in einer Welt der Fantasie lebte als in der Welt der Realität, in die das Schicksal mich hineingeworfen hatte.
Vielleicht wusste sie, dass dies ein Weg war, dem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen und mein Glück zu finden.
Endlich.
Bald würde ich es wissen.