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KAPITEL 2

Besucher in der Nacht

Der Butler meiner Großtante Leonora hinkte sehr stark. Es sah aus, als sei sein rechtes Bein kürzer als das linke. Wenn er mit dem linken Fuß auftrat, hob und senkte sich das rechte Bein fast, als sei es ein loses Anhängsel, das er umherschwingen musste. Er war ein großer dünner Mann von fast einem Meter fünfundneunzig mit lockigem braunem und grauem Haar wie einer der Marx Brothers. Das schmale Kinn in seinem langen Gesicht befand sich so weit unter seiner Lippe, dass es aussah, als tropfte es mit zunehmendem Alter herunter. Er hatte fein geschnittene Lippen, die in den Mundwinkeln heruntergezogen waren, und Augen, die tief im Schädel lagen. Ich fand, er erinnerte an einen Mann, der einmal etwas so Schreckliches gesehen hatte, dass Furcht seine Züge ergriffen hatte und sie in diesem Ausdruck ständigen Schocks erstarrt waren. Er wartete neben dem Auto darauf, dass Boggs herumkam und Großtante Leonora die Tür öffnete.

»Hol das Gepäck aus dem Kofferraum«, blaffte Boggs ihn an. Der Butler ließ den Kopf sinken wie ein Pferd und ging nach hinten zum Kofferraum. Boggs half Großtante Leonora heraus und trat dann zurück, als ich ausstieg.

»Das ist Rain Arnold, Leo«, teilte Großtante Leonora dem Butler mit. Er steckte den Kopf hinter dem Kofferraumdeckel hervor und rang sich ein schwaches Lächeln ab. Als er Boggs einen Blick zuwarf, der ihn wütend anstarrte, bewegte Leo sich schneller. Niemand schien sich darum zu kümmern oder auch nur zu sehen, welche Mühe ihm das alles bereitete. Boggs machte keinerlei Anstalten, ihm zu helfen.

»Da ist sie«, rief Großtante Leonora, als das Hausmädchen in der Tür erschien. Auf mich wirkte das so, als hätten der Butler und das Hausmädchen an den Fenstern stehend auf unsere Ankunft gewartet. »Mary Margaret zeigt Ihnen Ihr Quartier, meine Liebe.«

Ich schaute die zierliche junge Frau an, die mich mit ihren sanften blauen Augen interessiert anstarrte. Sie wirkte kindlich und war höchstens einen Meter fünfzig groß. Ihre Gesichtszüge waren so winzig und so perfekt wie die einer Puppe. In ihrer dunkelblauen Uniformbluse wirkte ihr kleiner Busen eher wie vorpubertäre Rundungen. Sie war so zerbrechlich, ihre Handgelenke so schmal, dass ich mich fragte, wie sie irgendjemandes Dienstbote sein konnte. Ich glaubte schon, dass sie mich anlächeln wollte, aber als sie Boggs einen Blick zuwarf, hinderte sie ihre Lippen daran, sich zu verziehen, und eiskalte Furcht glitt über ihre Züge. Stattdessen machte sie einen kleinen Knicks und trat zurück.

Hinter uns stöhnte Leo und quetschte einen meiner Koffer zwischen Arm und Körper. Dabei schob er die Hüfte so vor, dass das Gepäck nicht herunterrutschte. Das Gewicht der anderen beiden Koffer zog seine Schulter so herunter, dass sich auf seiner bleichen weißen Haut am Hals Falten abzeichneten, als er die Zähne zusammenbiss, um die Koffer nicht fallen zu lassen. Dennoch bot Boggs ihm keinerlei Hilfe an, und ich hatte Angst, ein Wort zu sagen.

»Mary Margaret wird Ihnen eine passende Uniform suchen, nachdem sie Ihnen Ihr Quartier gezeigt hat, meine Liebe, und dann wird Boggs Ihnen Ihre Pflichten zuweisen. Steh hier nicht herum wie eine Wachsfigur, Mary Margaret. Sag ihr guten Tag. Sie beißt nicht, hörst du«, sagte Großtante Leonora.

Mary Margarets Blick wanderte von ihr zu mir.

»Hallo«, sagte sie kaum hörbar.

»Hi.« Ich schenkte ihr mein schönstes Lächeln, aber sie schaute zu Boden und wartete.

Wir betraten das Haus. Mich überraschte sofort, wie dunkel die Eingangshalle war. Die Wände waren burgunderrot. Überall hingen Bilder, alles dunkle Ölgemälde in dunklen Rahmen. Ein grauer Teppich bedeckte den Boden des Flurs, und ein sehr schwach leuchtender Lüster hing von der Decke. Vor uns befand sich eine Treppe, sie sich nach rechts drehte. Sie hatte eine Mahagonibalustrade, aber die Stufen sahen aus wie Stein. Als ich näher kam, bemerkte ich, dass sie mit einem dünnen silbergrauen Teppich ausgelegt war.

Mary Margaret ging ins Haus, Leo schleppte mein Gepäck hinter uns her und ließ es dabei gegen den Türrahmen knallen. Er mühte sich wirklich ab, aber offensichtlich störte das niemanden. Anscheinend war ich die Einzige, die das bemerkte.

»Wartet«, rief Großtante Leonora, als ich hinter Mary Margaret hergehen wollte. »Ich habe beschlossen, Rain erst das Haus zu zeigen. Dann ist es einfacher für sie, wenn Boggs ihr Aufgaben erteilt. Sobald du sie in ihr Zimmer gebracht hast, Mary Margaret, bringst du sie zu Mrs Chester und besorgst ihr einen Tee.«

»Ja, Madam«, sagte Mary Margaret und senkte den Blick, als sei Großtante Leonora eine königliche Hoheit, die man nicht direkt anschauen durfte. Nach ihrer Antwort machte sie wieder einen winzigen Knicks wie ein Satzzeichen.

»Hier drüben ist der Salon«, sagte Großtante Leonora.

Ich schaute hinein, ohne einzutreten. Er hatte einen kleinen Kamin mit einem Sims aus weißem Marmor. Im Zimmer hingen rundherum eine Vielzahl romantischer Gemälde und einige Porträts von mürrisch aussehenden Frauen und streng dreinschauenden Männern in grauen Perücken. Die Fenster waren mit Vorhängen aus cremefarbener Seide dekoriert, und jeder Tisch, jeder freie Fleck war mit einem Kunstwerk belegt – Vasen, Zinnfiguren oder Miniaturen. Vor den Sesseln standen Fußschemel, die Möbel waren mit dunkelbraunem Chintz bezogen. An der Wand zu meiner Rechten befand sich eine hohe dunkle Standuhr, deren Zeiger auf zwölf Uhr stehen geblieben waren.

»All diese Bilder haben die Vorfahren meines Mannes gesammelt. Die National Gallery würde sie gerne in die Finger bekommen«, fügte sie mit einem kleinen Lachen hinzu.

»Hier«, fuhr sie fort und ging weiter den Flur hinunter, »ist unser Speisezimmer.«

Wieder stand ich da wie jemand in einem Museum, der an einer Führung teilnimmt und dem kostbare Antiquitäten gezeigt werden, die man nur anschauen, aber niemals berühren darf. Ich hatte das Gefühl, als befände sich eine unsichtbare Samtschnur zwischen mir und jedem Möbelstück, jedem Kunstwerk, jeder Statue. Großtante Leonora war so beschlagen wie ein Museumsführer.

»Unser Speisezimmer ist um einen Kamin herum erbaut worden, der inspiriert wurde von einem Kamin, der aus Brighton in den Buckingham Palace gebracht wurde. Die Tapete wurde mit einem Dekor bemalt, das auf ein Muster aus dem achtzehnten Jahrhundert zurückgeht. Unsere Speisezimmerstühle sind bezogen mit einem Stoff von Bertram and Fils. Sie sind heutzutage der letzte Schrei. Dieser Kronleuchter«, sie deutete mit einem Kopfnicken auf einen Lüster aus Kristall und grünem Glas, »stammt aus Russland. Kürzlich haben wir hier Glastüren einbauen lassen, damit wir die Frühlings- und Sommerluft genießen können, während wir speisen.«

Die Türen führten zum Garten, der in voller Blüte stand.

Sie zeigte mir das so genannte Empfangszimmer und teilte mir mit, dass der bessarabische Teppich mehrere tausend Pfund wert sei. Dort stand ein Stutzflügel mit aufgeschlagenen Noten, als hätte gerade jemand gespielt. Alle Möbel waren dunkel gehalten und der Raum selbst wirkte so unbenutzt und unberührt wie ein Schaufenster in einem Möbelgeschäft.

Von der Bibliothek war ich wirklich beeindruckt. Sie war ebenso wie die anderen Zimmer voll gestopft mit Kunst und wertvoll aussehenden Objekten, aber sie war auch im wahrsten Sinne randvoll mit Büchern auf eingebauten Bücherregalen an allen Wänden. Die Regale reichten bis zur Decke; es gab eine Leiter, die man entlangschieben konnte, um so Zugang zu jedem Buch zu bekommen.

»Richard ist sehr stolz auf seine Sammlung seltener Bücher«, sagte Großtante Leonora. »Das meiste, was Sie hier sehen, sind Erstausgaben, manche aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert. Er besitzt Originalausgaben von Dickens, Thackeray, Samuel Johnson, George Eliot. Nennen Sie einen Autor, Richard hat bestimmt etwas von ihr oder ihm«, fügte sie mit einem winzigen Lachen hinzu, das sich eher wie das Klingeln kleiner Glöckchen anhörte.

Die Fenster der Bibliothek zierten ebenfalls Seidenvorhänge. Dort stand auch ein Samtsofa mit einem passenden Sessel. Am entgegengesetzten Ende prunkte ein großer Eichenschreibtisch. Darauf war alles wohl geordnet. Alles Holz, das zu sehen war, glänzte frisch poliert.

»Hier ist der einzige sexistische Teil unseres Hauses«, verkündete Großtante Leonora, als sie das nächste Zimmer präsentierte, in dem ein großer Poolbillardtisch stand. »Dieses Billardzimmer ist wirklich nur für Männer. Aber wer will denn schon da herauskommen und wie eine Tabakpflanze stinken?«

Wir spähten ein paar Sekunden hinein, aber das reichte, damit mir der Geruch von kürzlich gerauchten Zigarren in die Nase stieg.

Während wir durchs Haus gingen und in jedes Zimmer hineinschauten, fragte ich mich, wie jemand, der so klein und zerbrechlich war wie Mary Margaret, das alles in Ordnung halten konnte. Was für ein Tummelplatz für Staub, dachte ich, mit all diesen Kunstwerken, Statuetten, Glasfiguren und Zinnsachen.

Während dieser Tour zogen Leo mit meinen Koffern und Mary Margaret hinter uns her. Boggs blieb im Flur wie ein Wachtposten stehen. Plötzlich wirbelte Großtante Leonora herum und klatschte in die Hände.

»Ich habe beschlossen, Ihnen auch oben einiges zu zeigen. Alle anderen können hier warten«, verkündete sie. Ich warf Mary Margaret einen Blick zu, aber sie schaute mich nicht direkt an. Ihr Blick wich aus, so dass sie auf die nackte Wand zwischen zwei Ölgemälden mit Landschaftsszenen schaute.

Ich folgte Großtante Leonora die Treppe hinauf. An der Doppeltür zum Schlafzimmer von ihr und ihrem Mann blieb sie stehen.

»Ich weiß, was Sie denken«, sagte sie plötzlich und zögerte, die Tür zu öffnen. Ich zog die Augenbrauen hoch. Sie wusste, was ich dachte? Hoffentlich nicht. »Sie finden unsere Zimmer so klein im Vergleich zum Haus meiner Schwester. Bei Amerikanern ist immer alles größer«, fuhr sie fort. Wieder sprach sie von Amerikanern wie von Ausländern, obwohl sie doch selbst Amerikanerin war. »Diese älteren Häuser sind nicht so gebaut. Hier mussten wir unter anderem daran denken, wie wir sie heizten und was das kostete. Dafür ist dies jedoch ein Haus mit Geschichte. Wussten Sie, dass es fast hundert Jahre vor dem Haus gebaut wurde, in dem Frances wohnt?«, fragte sie. Ich schüttelte den Kopf. »Das ist ein Land mit Vergangenheit, in dem Gesetze und Kunst und Literatur ihren Ursprung nahmen.

Aber«, meinte sie mit einem leichten Kopfschütteln, »vermutlich wissen Sie das alles, da Sie eine gute Schülerin sind. Voilà!«, rief sie und riss die Schlafzimmertüren mit einer dramatischen Geste auf.

Sofort erklärte sie, dass ihr Bett ein im georgianischen Stil bemaltes Himmelbett sei. Auf der Seite des Zimmers, wo ihr Frisiertisch stand, hing ein indischer Spiegel mit einem Elfenbein-Ebenholzrahmen, den Richard angeblich auf einer Auktion erstanden hatte, indem er jemanden namens Lord Flunders um fünftausend Pfund überbot. Dort stand ein Atlasholztisch, an dem sie ihre Notizen und Briefe schrieb, lange Samtvorhänge zierten das Fenster. Einige der Lampen waren angeblich aus Ägypten importiert worden, andere Original Tiffany. Laut ihrer Darstellung waren alle Möbel von historischer Bedeutung, bei allen handelte es sich um restaurierte Antiquitäten. Rechts an der Wand neben dem Eingang hing ein großes Porträt eines Mannes, der, wie sie mir sofort mitteilte, Sir Godfrey Rogers hieß.

»Es ist ein Selbstporträt. Er malte aus Liebhaberei. Dabei erlangte er nie einen besonderen Ruf, aber … es ist gut«, stellte sie nickend fest. Sie schaute mich an, als erwartete sie irgendeine Reaktion.

»Ich fürchte, ich weiß nicht, wer er war«, gestand ich. Sie lachte wieder dieses dünne Klingelglöckchenlachen.

»Oh, natürlich, das habe ich ganz vergessen. Er war der ursprüngliche Besitzer von Endfield Place. Und ich will es Ihnen gleich sagen«, fügte sie mit ernstem Gesicht hinzu, »die Geschichten über den Geist seiner toten Geliebten, der die Flure dieses Hauses entlangwandert, sind reine Erfindung. Lassen Sie sich nicht von Leo oder Mary Margaret oder Mrs Chester oder sonst jemandem etwas anderes einreden.«

»Seine tote Geliebte?«

»Es gibt eine lächerliche Geschichte, dass er seine Geliebte in einer Geheimkammer dieses Hauses unterbrachte, weil sie von ihm schwanger wurde. Um seinen Ruf nicht zu beflecken, brachte er sie hierher, damit sie ihr Kind bekommen konnte, ohne dass jemand davon erfuhr. Die Legende – und ich betone, dass es sich um eine Legende handelt – berichtet weiter, dass seine Frau sie vergiftete. Darauf geisterte sie durch dieses Haus, bis seine Frau Selbstmord beging.«

»Wie schrecklich«, sagte ich.

»Alles Blödsinn«, erklärte sie mit einem abwehrenden Wedeln der Hand, »aber über das Zeug kann man sich nett beim Tee unterhalten. Nun gut. Wollen wir dafür sorgen, dass Sie untergebracht werden.«

Ich schaute mich noch einmal im Schlafzimmer um und folgte ihr dann nach draußen. Etwas ließ mir keine Ruhe, als wir die Treppe hinuntergingen. Es war die Art Gefühl, das man hat, wenn man etwas sagen möchte, etwas fragen möchte, aber was genau, fällt einem nicht ein, weil man abgelenkt oder müde ist. Es ist wie eine Feder, die einem das Gehirn kitzelt.

Ich warf erneut einen Blick in die Räume, die wir bereits gesehen hatten, als wir zu Mary Margaret und Leo zurückgingen, die schon auf uns warteten. Boggs stand immer noch in der Eingangshalle, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und wippte ungeduldig auf und ab.

»Zeig Rain jetzt ihr Quartier, Mary Margaret, und wie gesagt, bring sie hinterher sofort zu Mrs Chester«, befahl Großtante Leonora. Mir fiel auf, dass sie immer, wenn sie mit den Dienstboten sprach, den Kopf zurücklegte, so dass ihre Kinnspitze auf sie deutete.

Boggs räusperte sich ziemlich nachdrücklich.

»Oh«, sagte Großtante Leonora, »aber bevor du das tust, bringst du sie natürlich zurück hierher, damit Boggs ihr ihre Pflichten zuweisen kann.« Sie drehte sich zu mir. »Noch einmal willkommen, meine Liebe, und viel Glück bei Ihrem Studium.«

Sie ging zurück zur Treppe. Meine Blicke folgten ihr und wanderten dann beiseite, um Boggs anzuschauen, der mich anstarrte. In seinem Gesicht zeigte sich immer noch keine Spur freudigen Willkommens.

Ich folgte Mary Margaret den Gang entlang. und als wir in die so genannten Dienstbotenquartiere einbogen, fiel mir ein, was mir die ganze Zeit keine Ruhe gelassen hatte.

In keinem der Zimmer, nicht einmal in ihrem Schlafzimmer, hatte ich ein Bild ihres toten Kindes gesehen.

Wenn Großmutter Hudson mir nicht davon erzählt hätte, hätte ich gar nicht gewusst, dass es überhaupt existierte. Wie seltsam, dachte ich. War es etwas typisch Englisches, die engsten Familienmitglieder, die tot waren, zu verstecken?

Ich musste viel über dieses Haus und seine Bewohner lernen, und zwar rasch.

Mein Schlafzimmer war kaum größer als Großmutter Hudsons begehbarer Kleiderschrank. Ich hatte ein quietschendes, ächzendes Eisenbett mit einer so dünnen Matratze, dass mir mein Bett in Großmutter Hudsons Haus weich wie eine Wolke vorkam. Vor dem schmalen Fenster hing eine ausgeblichene gelbe Jalousie, der Boden aus unbedecktem Hartholz war so feucht und dunkel und stark gemasert, dass es sich durchaus um den Originalboden des Hauses handeln konnte. Leo stellte meine Koffer mit einem Seufzer der Erleichterung ab, hinkte sofort davon und ließ uns allein. An der Wand zu meiner Rechten stand ein Mahagonischrank, der mir als einziger Kleiderschrank diente. Daneben befand sich eine kleine Kommode mit flachen Schubladen. Das ganze Zimmer stank nach Mottenkugeln.

»Können wir das Fenster aufmachen?«, fragte ich Mary Margaret.

Sie starrte es an und schüttelte den Kopf.

»Ich weiß nicht«, sagte sie mit weit aufgerissenen Augen. »Habe ich noch nie gemacht.«

Ich ging hin und kämpfte mit dem verrosteten Schloss, bis ich es geöffnet hatte. Dann versuchte ich, das Fenster mit den Handballen nach oben zu schieben. Es rührte sich nicht.

»Ich bekomme hier drin ja gar keine Luft«, beschwerte ich mich, während ich mich umschaute.

»Ich hole Boggs«, sagte sie und ging hinaus, bevor ich ihr sagen konnte, dass ich mich lieber selbst damit abquälen wollte. Ich versuchte es noch einmal, aber es knirschte nicht einmal. Vermutlich war es schon seit hundert Jahren fest verschlossen.

Ich legte meine Koffer auf das Bett und öffnete sie, um meine Kleidung herauszuholen und einiges davon in den Kleiderschrank zu hängen. Wenige Augenblicke später tauchte Boggs auf. Er hielt einen Moment inne, um mich anzuschauen, und ging dann direkt zum Fenster. Mit geschlossener Faust hämmerte er gegen den Rahmen. Dann legte er seine Handballen dagegen und schob es hoch. Ächzend ging das Fenster in die Höhe.

»Ich tue später etwas Öl drauf«, murmelte er verärgert. »Beeilt euch jetzt«, sagte er, als er ging.

Ich schaute Mary Margaret an.

»Das war doch nicht das Zimmer, in dem Sir Godfrey Rogers’ Geliebte gestorben ist, oder?«, fragte ich halb im Scherz.

Sie wurde noch ein wenig blasser, war fast weiß wie Schnee.

»Wer hat dir das gesagt?«

»Ist es das?«, fragte ich energischer.

»Niemand soll darüber reden«, erwiderte sie.

Sie ging hinaus und kehrte kurz darauf mit einer gefalteten Uniform über dem Arm zurück. Ohne ein Wort legte sie sie aufs Bett. Ich faltete sie auseinander und hielt sie gegen mich. Sie entsprach ungefähr meiner Größe.

»Das Klo ist den Gang hinunter«, sagte sie.

»Das was?«

»Das Klo.« Sie überlegte einen Augenblick. »Die Toilette.«

»Ach, du meinst das Badezimmer. Okay, danke«, sagte ich. »Ich würde mir gern das Gesicht mit kaltem Wasser waschen. Ich habe immer noch das Gefühl, als würde ich fliegen.«

Sie lächelte nicht.

»Beeil dich«, riet sie mir. »Mr Boggs wartet auf uns.«

»Genau«, sagte ich. »Wir wollen doch nicht, dass er sich die Beine in den Bauch steht«, murmelte ich.

Sie legte den Kopf schief, als hätte ich etwas gesagt, das völlig über ihr Verständnis ging. Ich schüttelte nur den Kopf und steuerte das, was sie Klo genannt hatte, an. Das Badezimmer war nichts Besonderes. Es gab keine Dusche, nur eine Badewanne, ein Waschbecken und eine Toilette. Über dem Becken hing ein kleiner Spiegel. Offensichtlich war jeder Teil des Hauses modernisiert worden – außer den Dienstbotenquartieren. Sie sollten sich besser nicht darüber beklagen, dass die Amerikaner klassenbewusst und voller Vorurteile sind, dachte ich.

Ich zog die Uniform an und folgte Mary Margaret dann zurück ins Vorderhaus, wo Boggs auf uns wartete. Er musterte mich von Kopf bis Fuß.

»Steck dein Haar zurück«, befahl er. Er schaute Mary Margaret an. »Warum hast du ihr das nicht gesagt?«

Sie wirkte nervös und verängstigt.

»Sie hatte keine Zeit dazu«, sagte ich. »Sie hatte Angst, Sie länger warten zu lassen.«

»Ich rede nicht mit dir, oder?«, fragte er mich mit wütendem Blick. »Ich rede mit ihr.«

Mary Margaret senkte den Blick und ließ schnell den Kopf hängen. Ich holte tief Luft, um nicht zu explodieren, und wartete.

»Du hilfst beim Frühstück und beim Abendessen bedienen, und nach dem Abendessen hilfst du das Speisezimmer aufzuräumen. Samstags morgens musst du mit Mary Margaret Staub putzen und die Möbel polieren. Auch den Boden im Billardzimmer putzen. Sorge dafür, dass auf jedem Klo Papier ist, und halte die Toilette neben dem Billardzimmer makellos sauber. Mr Endfields Gäste benutzen sie. Mrs Chester wird dir zeigen, was sie in der Küche erledigt haben möchte. Wenn sie etwas vom Gemüsehändler braucht, wird sie dir oder Mary Margaret Bescheid sagen. Margaret kann dir beim ersten Mal den Weg zeigen.«

»Noch etwas?«, fragte ich trocken. Hatte Großtante Leonora ihm nicht gesagt, warum ich nach London gekommen war? Ich musste doch die Schule besuchen und lernen.

»Du musst wissen, wo du hingehörst«, verlangte er. »Jeder, der weiß, wo er hingehört, kommt gut zurecht. Wer aus der Reihe tanzt, wird dafür zur Verantwortung gezogen.«

»Machen Sie Witze?«, fragte ich ihn und merkte, dass ich wütend wurde.

»Mr Endfield ist stolz darauf, wie gut sein Haus geführt wird. Darüber werden hier keine Witze gemacht. Bring sie zu Mrs Chester«, befahl er Mary Margaret.

Sie nickte.

»Hier entlang bitte«, sagte sie.

Ich zögerte und starrte ihn an. Mama hätte gesagt, jemand wäre ihm auf die Finger getreten, als er noch ein Baby war, und das hätte seine Persönlichkeit augenblicklich geformt.

Ich trabte hinter Mary Margaret her und spürte plötzlich den Jetlag, vor dem jeder zu Hause mich gewarnt hatte. Ich hatte eher das Gefühl, entlangzuschweben, im Schlaf zu wandeln. Warum gaben sie mir nicht wenigstens Gelegenheit, mich umzustellen, fragte ich mich. Wenn ich mich beklagte, würde sich das dann undankbar anhören?

Allmählich fragte ich mich, ob mir das überhaupt etwas ausmachte.

»Du bist also das Yankeemädchen, das hergekommen ist, um Schauspielerin zu lernen, was?«, sagte Mrs Chester, nachdem Mary Margaret mich in die Küche gebracht hatte. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt.

Sie war eine dralle kleine Lady mit Armen wie Nudelhölzer, breiten Hüften und einem üppigen Busen. Ihr Haar war blaugrau und zu einem festen Knoten zusammengesteckt. Ihre Wangen glühten rosig, aber ansonsten hatte ihre Gesichtshaut die Farbe von ausgeblichenem altem Papier. Unter den Schläfen hatte sie einige Altersflecken und an der rechten Halsseite befand sich ein kleines Grübchen.

Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab und schaute mich an.

»Also, du bist ja ein hübscher Vogel. So viel kann ich sagen, aber kannst du auch deinen Mann stehen?«

»Meinen was stehen?«

»Deine Aufgaben erledigen?«

»Oh, ja«, versicherte ich.

Sie nickte und schaute mich mit leicht verzogenen Mundwinkeln an. »Wir fangen um halb sieben an, das Frühstück vorzubereiten. Mr Endfield möchte gerne um sieben eine Tasse Tee gebracht bekommen. Wer soll das machen?«, fragte sie und schaute dabei von Mary Margaret zu mir.

»Ich mache das«, sagte Mary Margaret rasch, fast als hätte sie Angst, ich könnte mich freiwillig melden und ihr das Vergnügen rauben.

Mary Margaret war nicht dumm. Ich fragte mich, warum sie nicht mehr aus ihrem Leben machen wollte. War es nur Schüchternheit? Sie benahm sich, als stammte sie aus einer niedrigeren Kaste, der es nicht erlaubt war, Höhergestellte anzusprechen oder ihnen gar zu widersprechen.

Durch sie fühlte ich mich noch klassenbewusster als zu Hause gegenüber einigen dieser reichen Mädchen in Dogwood.

»Gut. Ich will nich, dass ihr beide eure Pflichten durcheinander schmeißt und es versaut, und ich hab dann den Chef am Hals, hört ihr?«, fragte sie energisch. Mary Margaret nickte mit weit aufgerissenen Augen.

»Wer ist der Chef?«, fragte ich.

»Wer ist der Chef?« Mrs Chester schaute Mary Margaret an. »Das ist Mr Boggs. Er ist verantwortlich für uns. Ich dachte, du wärst so schlau«, sagte sie. »Wenn du bei ihm nur einmal den Mund aufmachst, weißt du, wer hier der Chef ist, nich wahr, Mary Margaret?«

»Ja, Ma’am.«

»Ja, Ma’am«, äffte Mrs Chester sie nach. Und wandte sich wieder mir zu. »Besser du kommst Mr Boggs nich in die Quere, wenn er sauer is. Jetzt zu dem, was du hier tun sollst«, sagte sie. »Als Erstes will ich nich, dass was von meinen Tellern oder meinen Gläsern oder Tassen zerbrochen wird, hörst du? Du trägst sie vorsichtig und passt beim Abwaschen besonders auf. Ich brauche keinen Dummkopf, der ein Chaos in meiner Küche anrichtet. Bei uns is alles tipptopp in Ordnung. Guck mal, wie mein Herd glänzt«, sagte sie und deutete darauf. »Mr Endfield ist ein richtiger Captain Bligh, wenn es darum geht, wie dieses Haus geführt wird.« Sie überlegte einen Augenblick und fügte dann hinzu: »Damit du es von Anfang an weißt: Sollte er dich um eine Tasse Tee bitten, ist es immer Mz, hörst du?«

»Mz?«

»Milch zuerst, Mädchen. Ich dachte, du wärst so ’ne Schlaue«, sagte sie diesmal noch verächtlicher.

»Ich bin erst vor ein paar Stunden angekommen, Mrs Chester. Ich glaube, es ist nicht fair zu erwarten, dass ich bereits all ihre komischen Ausdrücke gelernt habe.«

»Komische Ausdrücke?« Sie schaute Mary Margaret an, die natürlich den Blick senkte. »Das is ja vielleicht ’ne Freche.«

»Mrs Endfield wollte, dass Sie Rain eine Tasse Tee und einen Keks geben«, flüsterte Mary Margaret Mrs Chester zu.

»Tatsächlich?«

»Ich brauche keinen Tee. Ich warte bis zum Abendessen«, sagte ich scharf.

»Wirklich? Was für ’ne Erleichterung. In Ordnung, Mary Margaret. Zeig ihr, wie sie den Tisch decken muss. Zu deiner Information, wir essen, nachdem wir ihnen das Abendessen serviert haben, also musst du noch ’ne ganze Weile warten«, teilte sie mir mit. Sie starrte mich einen Augenblick an.

»Was ist?«, fragte ich sie.

»Du und deine Familie in Amerika, ihr lebt auf Stütze, nich?«

»Auf Stütze?« Ich schaute Mary Margaret ratlos an.

»Almosen des Staates«, flüsterte sie.

Mein Rücken straffte sich augenblicklich.

»Wie kommen Sie denn darauf?«, fragte ich energisch.

»Hab gehört, das is bei all euch Schwarzen in Amerika so.«

»Da haben Sie was Falsches gehört«, sagte ich. »Ich glaube, ich kann Ihnen noch eine ganze Menge beibringen.« Die Augen schienen ihr einen Moment aus dem Kopf zu fallen. Mary Margaret hielt die Luft an, dann gackerte Mrs Chester laut los und drückte die Hände gegen ihren runden Bauch.

»Man kann ja nie wissen, was die so von sich gibt. Mr Boggs wird seine Arbeit mit dir haben. Wird mir ein Vergnügen sein, jeden Tag zur Arbeit zu kommen, solange du hier bist«, sagte sie mit einem Augenzwinkern. »Okay, Schätzchen, an die Arbeit. Decke heute zwei Teller mehr, Mary Margaret. Sie bekommen Gäste.«

Sie lachte in sich hinein und wandte sich wieder ihren Essenszubereitungen zu. Sie machte Yorkshirepudding, ein sehr stark aufgehendes Brot, wie sie mir erklärte, das zu Roastbeef serviert wurde und aus einem Teig aus Eiern, Mehl und Milch im Bratensaft gebacken wurde. Ich musste zugeben, dass es köstlich roch. Und zum Nachtisch, wie Mary Margaret das Dessert nannte, hatte sie eine Vanillesauce zubereitet, die über einen Madeirakuchen, eine Art Rührkuchen, gegossen werden sollte.

»Mrs Chester ist in Hörweite der Bow Bells geboren worden, aber sie arbeitet als Köchin in den feinsten Häusern«, erklärte Mary Margaret, als wir den Speisezimmertisch deckten.

»Der Bow Bells?«

»Den Glocken von St.-Mary-le-Bow. Das bedeutet, sie ist ein richtiger Cockney. Eine Londonerin aus dem East End«, fuhr sie fort. Ich schüttelte den Kopf.

»Weniger tratschen und mehr arbeiten da draußen, hört ihr?«, rief Mrs Chester aus der Küche.

Mary Margaret machte eine Bewegung, als verschließe sie ihren Mund mit einem Reißverschluss, und arbeitete schneller. Das ist ein Sklavenhaus, dachte ich, Sklaven, die Sklaven befehlen.

Mama, uns ging es doch gar nicht so schlecht.

Ich lachte in mich hinein und faltete die Leinenservietten. Hinterher hatte ich ein wenig Zeit, um in diesen begehbaren Schrank von einem Zimmer zurückzukehren und meine Sachen fertig auszupacken. Ich wollte mich nur einen Augenblick hinlegen und mich ein wenig ausruhen, aber unglücklicherweise packte mich der Jetlag, und ich schlief tief ein.

Ein harter Stoß an die Seite meines Eisenbettes schickte elektrische Schwingungen in meine Beine, in die Wirbelsäule, hoch bis in den Hinterkopf. Erschreckt wachte ich auf und fuhr hoch. Boggs stand da und hielt einen Besenstiel wie einen Knüppel gepackt. Er sah aus, als wollte er mich gleich damit verprügeln.

Einen Augenblick lang war ich so verwirrt, dass ich vergaß, wo ich war. Ich blinzelte, bis meine verworrenen Gedanken sich beruhigten und der Bildschirm meiner Erinnerung klar wurde. Dann wurde ich wütend.

»Was machen Sie in meinem Zimmer?«, wollte ich wissen. Gerade war mir aufgefallen, dass es keine Möglichkeit gab, die Tür abzuschließen, aber ich hatte sie zugemacht. Da war ich mir sicher.

»Du kommst zu spät, um beim Abendessen zu bedienen«, sagte er.

»Ich bin eingeschlafen. Ich bin heute aus den Vereinigten Staaten hierher geflogen. Vielleicht nennt ihr Leute hier das ja einen Teich, aber es ist ein Ozean, und es gibt einen großen Zeitunterschied!«

»Keine Ausreden. Ich habe dir gesagt, dass du deine Pflichten erfüllen musst. Das kommt als Erstes. Jetzt ab mit dir in die Küche. Mrs Chester wartet auf dich, und Mrs Endfield hat nach dir gefragt«, sagte er ungerührt.

»Sie haben kein Recht, in mein Zimmer zu kommen.«

»Das ist nicht dein Zimmer«, stellte er mit einem kalten Lächeln fest. »Du schläfst hier nur, und das auch nur, weil Mr Endfield so mildtätig ist.« Er ging zur Tür, drehte sich um und zeigte mit seinem langen dicken Zeigefinger auf mich. »Wenn du noch einmal deine Pflicht versäumst, werde ich dafür sorgen, dass du am Sonntag arbeiten musst.«

Er marschierte mit dröhnenden Schritten über die rostfarbenen Dielenbretter. Ich rieb mir das Gesicht und eilte dann ins Badezimmer, um es mit kaltem Wasser zu waschen. Meine Haare waren ein einziges Durcheinander, aber ich erinnerte mich daran, dass ich sie sowieso hochstecken musste, also tat ich das rasch und ging dann in die Küche.

»Ja, wer beehrt uns denn da mit seiner Gegenwart«, rief Mrs Chester, als ich durch die Hintertür kam. Mary Margaret schaute von dem Tablett auf, das sie gerade vorbereitete. Sie sah aus, als hätte sie meinetwegen Angst.

»Ich bin eingeschlafen. Na und? Zufälligerweise habe ich einen Jetlag. Der Zeitunterschied ist nämlich ganz schön groß, wissen Sie.«

»Tatsächlich? Vielleicht komme ich morgen später und sage Mr Endfield, ich hätte auch einen Jetlag«, spottete sie. »Hilf Mary Margaret, den Yorkshirepudding aufzutragen.«

Ich nahm das andere Tablett und folgte ihr ins Speisezimmer. Großtante Leonora klatschte in die Hände, sobald sie mich sah. Eine älter wirkende Frau hatte den Platz zu ihrer Rechten und ein sehr kleiner, stämmiger, glatzköpfiger Mann zu ihrer Linken. Mein Großonkel Richard saß mit dem Rücken zu uns, drehte sich aber um, als Großtante Leonora rief: »Da ist sie, Richard.«

Ich schaute in das Gesicht eines sehr distinguiert wirkenden, gut aussehenden Mannes mit Haar, das so schwarz war wie meines, und mandelförmigen grünen Augen, um die die meisten Frauen ihn beneiden würden. Das galt sicherlich auch für seine langen dichten Wimpern. Wegen seinem dunklen Haar und dem frischen Teint sah er jünger aus als Großtante Leonora. Er war ein wenig größer als einen Meter achtzig und wirkte in seinem Nadelstreifenanzug sehr gepflegt und adrett. Außer seinem Ehering trug er einen goldenen Ring mit einem kleinen Diamanten am kleinen Finger der linken Hand. Seine Finger waren lang, aber anmutig, wie ich mir die eines Künstlers vorstellte.

Was mich beeindruckte, war seine Haltung, wie er, den Kopf hoch erhoben, die Schultern zurücknahm und den Rücken gerade hielt. Er drehte sich langsam mir zu, als ob jede Bewegung, jede Geste von großer Wichtigkeit sei. Er lächelte nicht, sondern kniff die Augen, die dunkler wurden, nachdenklich zusammen und presste die vollkommen geformten Lippen aufeinander. In seinem Gesicht herrschte große Disziplin, kein Runzeln, kein Zucken, keine Bewegung verriet seine Gefühle.

»Das ist Rain Arnold, das Au-pair-Mädchen, das mir meine Schwester aus Amerika geschickt hat«, fing Großtante Leonora an. »Sie ist hier, um an der Burbage Drama School Schauspiel zu studieren. Dies ist mein Mann Mr Endfield, Rain«, fuhr sie fort.

»Hallo«, begrüßte ich ihn, immer noch mit dem Tablett voller Yorkshirepudding in den Händen. Er bewegte die Lippen nicht, sondern nickte nur leicht und musterte mich immer noch eingehend, wie ein Arzt es tun würde.

»Und dies sind Sir Isaac Dudley und Lady Dudley, Rain«, fügte sie hinzu.

Ein Lächeln huschte über Sir Dudleys feistes Gesicht, seine dicken weichen Lippen rollten sich nach innen über seine Zähne, dass er einen Augenblick zahnlos wirkte. Seine Frau würdigte mich dagegen kaum eines Blickes. Stattdessen schaute sie auf den Yorkshirepudding, den Mary Margaret ihr vorgesetzt hatte.

»Rain ist erst heute angekommen«, verkündete Großtante Leonora.

Mary Margaret hob den Blick und bedeutete mir, dass ich den Yorkshirepudding auf meinem Tablett servieren solle.

Sir Dudley betrachtete ihn so gierig, dass er aussah, als wollte er nach oben langen und sich selbst seine Portion nehmen, wenn ich mich nicht rührte. Das tat ich rasch.

»Von links«, murmelte Großonkel Richard. Mein Arm erstarrte, ich ging um ihn herum, um ihn von links zu bedienen. So nahe bei ihm atmete ich das Duftgemisch aus seinem kräftigen Aftershave und einer kürzlich gerauchten Zigarre ein. Ich spürte seinen Blick, der immer noch auf mich geheftet war. Dies ließ meine Hand zittern, als ich den Teller mit einem lauten Klirren absetzte.

Als das geschah, schaute er zu mir hoch.

»Ich bin froh, dass meine Schwägerin so vernünftig war, eine Schule in England für Sie allem vorzuziehen, was die Kolonien zu bieten haben«, verkündete er.

»Die Kolonien?«

Sir Dudley gluckste in sich hinein. Es hörte sich eher an wie Husten.

»Beachten Sie ihn gar nicht, Rain«, sagte Großtante Leonora. »Mein Ehemann glaubt, in der Vergangenheit zu leben. Er versucht immer noch, über die amerikanische Revolution hinwegzukommen.«

»Die Welt wäre viel besser dran, wenn es sie nicht gegeben hätte«, sagte er. Alles, was er sagte, klang wie ein königliches Edikt. Seine Stimme war tief, seine Aussprache so korrekt und gestochen, dass man unwillkürlich zuhören musste.

»Deinem Volk wäre es sicher besser ergangen«, fügte er hinzu.

»Meinem Volk?«

»Nun leg dich doch nicht gleich beim ersten Mal, wo du sie siehst, so ins Zeug, Richard. Du wirst das arme Ding noch völlig verängstigen. Sie ist doch gerade erst eingetroffen.«

»Hört, hört«, murmelte Sir Dudley.

Lady Dudleys Blicke durchbohrten mich, aber Großonkel Richards Blick wurde plötzlich milder, seine Lippen entspannten sich endlich zu einem Lächeln, seine Augen blickten distanzierter. Er schaute mich direkt an, aber ich hatte das Gefühl, er sah durch mich hindurch, hatte eine Erinnerung im Blick.

Dann blinzelte er, und ich spürte beinahe das Klicken in seinem Gehirn, als seine Gedanken die Richtung wechselten. Es war, als wachte er auf und ihm wurde klar, dass ich immer noch da stand. Sein Blick änderte sich, nahm mich in sich auf, musterte mich von Kopf bis Fuß.

»Natürlich«, sagte er. »Entschuldigung. Ich heiße Sie in Endfield House willkommen und wünsche Ihnen, dass Ihre Erfahrungen hier und in der Schule angenehm und für Sie vorteilhaft werden.«

»Hört, hört«, rief Sir Dudley. Ich fragte mich, ob ihm auch noch etwas anderes einfiel.

Seine Frau wandte sich an meine Großtante und fragte sie etwas wegen der Wohltätigkeitsveranstaltung, die in Kensington Gardens stattfinden sollte. Ich war für sie nicht länger von Interesse. Ich schaute Großonkel Richard, dessen Blick immer noch auf mir ruhte, noch einmal an, lächelte ihm zu und kehrte in die Küche zurück. Erst als ich sie betrat, wurde mir klar, dass ich die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. Ich atmete auf und holte tief Luft.

»Tja, ja, sie hat den ersten Gang geschafft«, sagte Mrs Chester mit einem Glucksen.

Als es Zeit war, kehrten Mary Margaret und ich ins Speisezimmer zurück, um den Tisch abzuräumen und den Nachtisch zu servieren. Sir Dudley wollte Kaffee trinken, alle anderen Tee, und ich erinnerte mich, dass Großonkel Richard ihn Mz trank. Er wirkte beeindruckt, als ich ihm die Milch zuerst eingoss, und machte mich dann wieder nervös mit seinem langen eindringlichen Blick.

Nachdem wir den Tisch abgeräumt und Mrs Chester beim Spülen geholfen hatten, war ich fast zu müde, um selbst zu Abend zu essen. Ich konnte nicht leugnen, dass Mrs Chester trotz ihrer sarkastischen Art eine sehr gute Köchin war. Wir aßen in der Küche. Während des Essens hörte ich Klaviermusik und schaute Mary Margaret an.

»Wer spielt?«, fragte ich sie.

»Mrs Endfield«, erwiderte sie und schaute dabei rasch zu Mrs Chester hinüber, um zu sehen, ob sie auch nichts falsch gemacht hatte, als sie mir das erzählte. Warum war es in diesem Haus so streng verboten, über irgendjemanden zu reden, fragte ich mich.

Mary Margaret sagte, sie würde sich um das Geschirr kümmern. Sie wusste, wie müde ich war. Ich dankte ihr und machte mich auf den Weg in mein Zimmer.

Ich war so müde, dass ich kaum die Kraft fand, mich auszuziehen und mein Nachthemd überzustreifen. Während ich mir die Zähne putzte, hörte ich Schritte im Flur und dachte, es sei Mary Margaret. Ich hörte immer noch, dass meine Großtante Klavier spielte. Ich kehrte in mein Zimmer zurück und schloss die Tür. Sobald ich mich hingelegt und die Augen geschlossen hatte, musste ich jedoch an Boggs denken, der mich mit seinem Besenstiel aus dem Schlaf gerüttelt hatte, und geriet in Panik. Ich hatte keinen Wecker. Bestimmt würde ich verschlafen. Ich musste Mary Margaret bitten, mich zu wecken, wenn sie aufstand. Also schlüpfte ich in meinen Morgenmantel und spähte den Flur entlang. Wo schlief Mary Margaret?

Großtante Leonora spielte immer noch Klavier. Das Flurlicht war schwach, die Schatten tief und lang. Ich ging am Badezimmer vorbei, tiefer hinein ins Dienstbotenquartier. Die Musik folgte mir. Gerade als ich die erste Tür erreichte, tauchte Boggs in der dunklen Tür auf. Er war in Unterhemd und Unterhose.

»Wo willst du hin?«, verlangte er zu wissen.

»Ich habe Mary Margaret gesucht. Ich wollte sie bitten, mich zu wecken, weil ich in meinem Zimmer keine Uhr habe«, erklärte ich schnell. Im düsteren Halbdunkel waren seine Augen glatt wie Öl. Er ängstigte mich mit seinem ausdruckslosen Gesicht und seiner mitleidlosen Stimme.

»Mach dir darüber keine Sorgen. Ich klopfe an deine Tür«, sagte er.

»Mir wäre es lieber, wenn Mary Margaret das täte«, sagte ich. »Wo ist sie?« Ich schaute zum Ende des Korridors. Ich konnte keine weiteren Zimmer sehen.

»Sie schläft nicht hier«, sagte er. »Sie wohnt bei ihrer Mutter. Ich wecke dich. Keine Angst«, sagte er. Sein Gesicht lag völlig im Schatten.

»Was ist mit Leo?«, fragte ich. Jeder andere als du, dachte ich.

»Er wohnt über der Garage. Ich dachte, du wärst müde von der Reise«, fügte er hinzu.

»Das bin ich auch.«

»Dann geh schlafen«, befahl er. Er trat einen Schritt zurück und schloss die Tür.

Ich stand einen Augenblick in dem schmalen Flur. Waren nur Boggs und ich hier? Teilte ich mir mit ihm das Badezimmer? Mir vorzustellen, dass er so nahe war, verursachte mir Übelkeit. Ich kehrte in mein Zimmer zurück und schloss die Tür. Morgen kaufe ich mir einen Wecker, dachte ich, und dann werde ich Großtante Leonora bitten, an meiner Schlafzimmertür ein Schloss anbringen zu lassen.

Ich kroch unter die Decke und legte den Kopf auf das harte Kissen. Die Nachtluft verringerte den starken Geruch nach Mottenkugeln, aber er war immer noch da, zusammen mit dem ranzigen Geruch, der mich an einige Wohnungen im Wohnungsbauprojekt in Washington erinnerte. Die Klaviermusik endete und wurde bald ersetzt durch die üblichen Geräusche eines großen Hauses.

Ich fiel eher in Ohnmacht, als einzuschlafen. Ich hatte das Gefühl, immer noch zu reisen.

Gesichter und Stimmen vermischten sich. Mama griff nach unten, versuchte mich zu packen und meinen Fall zu bremsen, aber sie war immer einige Zentimeter zu weit entfernt. Roy rief hinter mir her, mein Name hallte um mich herum wider. Ich kam an Beni vorüber, die einfach nur lächelte und ein bisschen tanzte, bevor sie sich in Luft auflöste. Großmutter Hudson blitzte einen Augenblick lang mit besorgtem Blick in meinem Traum auf. Ich verlor jeden, den ich liebte, aus den Augen, stürzte immer tiefer auf das Licht zu und platzte mitten in das lodernde Feuer hinein, als ich vom leise klickenden Geräusch meiner sich schließenden Tür aufwachte.

Mein Herz raste. Ich setzte mich auf. Es war schwierig, in der Dunkelheit etwas zu sehen. Eine Silhouette jagte mir Angst ein, aber rasch begriff ich, dass es nur der Kleiderschrank war. Niemand befand sich in meinem Zimmer, aber war jemand da gewesen? Ich lauschte auf Geräusche auf dem Flur, hörte aber keine. Dann ließ ich den Kopf wieder auf das Kissen fallen.

Ich bin so müde, dachte ich.

Ich bin so müde.

Zu müde, um mich um Gespenster zu kümmern.

In dunkler Nacht

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