Читать книгу Fesseln der Erinnerung - V.C. Andrews - Страница 10

4.
Schon wieder eine neue Familie

Оглавление

Am nächsten Morgen hörte ich in aller Frühe, wie die Verbindungstür aufging und Paul den Kopf hereinstreckte, um nachzusehen, ob ich schon wach war. Er wollte sich gerade wieder zurückziehen, als ich seinen Namen rief.

»Oh, ich wollte dich nicht wecken«, sagte er eilig.

»Wie spät ist es?«

»Es ist noch sehr früh, aber ich wollte nach dir sehen, ehe ich in die Konservenfabrik gehe. Zum Mittagessen komme ich nach Hause. Hast du gut geschlafen?«

»Ja. Das Bett ist sehr bequem«, sagte ich. »Und erst diese Kissen... es ist, als schliefe man in einem Butterfaß.«

Er lächelte. »Prima. Wir sehen uns dann später wieder.« Er schloß die Tür, und ich stand auf und kleidete mich an, ehe Pearl aufwachte. Als ich sah, wie fröhlich sie in ihrem Kinderbettchen lag, wußte ich, daß auch sie die erste Nacht in ihrem neuen Zuhause genossen hatte. Ich zog sie an und brachte sie nach unten. Nach dem Frühstück nahm ich Pearl auf den Dachboden mit, um dort Pläne für mein Atelier zu schmieden und eine Liste der Dinge anzufertigen, die ich kaufen würde, wenn wir nach New Orleans fuhren. Als Pearl am späten Morgen wieder einschlief, ging ich aus dem Haus, um zuzusehen, wie die Männer, die Paul engagiert hatte, an der Gestaltung unseres Gartens arbeiteten.

Der Duft nach frischem Bambus hing in der Luft, und in der Ferne sah ich, wie sich zwei schneeweiße Silberreiher in den blauen Himmel aufschwangen. Ich seufzte auf vor Freude und fühlte mich benommen. Ich war derart in den Anblick der sanft gewellten Wiesen versunken, der Gehwege, die mit Steinplatten gefliest waren, der Blumenbeete und der Sträucher, daß ich nicht hörte, wie ein Wagen unsere Auffahrt hinauffuhr, und auch nicht das Läuten an der Tür.

James kam heraus, um mir mitzuteilen, daß ich einen Besucher hatte. Ehe ich ins Haus zurückgehen konnte, tauchte Pauls Vater auf. Sowie James sich zurückgezogen hatte, kam Octavius eilig auf mich zu. Ein kühler Schauer rann mir über den Rücken.

»Ich habe Paul gesagt, daß ich mit euch beiden gemeinsam zu Mittag essen und dann mit ihm die Ölquellen ansehe, aber ich bin vorzeitig aufgebrochen, weil ich die Gelegenheit haben wollte, allein mit dir zu reden«, erklärte er mir überstürzt.

»Mr. Tate...«

»Du solltest dir am besten gleich angewöhnen, mich Octavius zu nennen oder... Dad«, sagte er, und es klang nicht gerade erbittert, aber auch nicht besonders liebevoll.

»Octavius, ich weiß, daß du mein Haus in dem Glauben verlassen hast, ich würde einen Rückzieher machen, aber das hat Paul das Herz gebrochen, und nachdem dann auch noch Buster Trahaw über mich hergefallen ist...«

»Du brauchst mir nichts zu erklären«, sagte er. Er holte tief Luft und blickte auf den Sumpf hinaus. »Was passiert ist, ist passiert. Schon vor langer Zeit«, fuhr er fort, »habe ich aufgehört, daran zu glauben, daß das Schicksal oder mein persönliches Los mir etwas schuldig sind. Was ich an Glück erfahre und welcher Segen mir zuteil wird, nichts von alledem habe ich verdient. Ich lebe nur noch dafür, das Glück und die Geborgenheit meiner Kinder und meiner Frau zu gewährleisten.«

»Paul ist sehr glücklich«, sagte ich.

»Das weiß ich. Aber meine Frau...« Er schlug einen Moment lang die Wimpern herunter und hob seine dunklen traurigen Augen dann zu mir. »In allererster Linie graut ihr davor, daß aufgrund dieser Eheschließung die Wahrheit ans Licht kommen könnte und daß das ganze Gebäude an Vorspiegelungen, das sie um Paul und sich selbst herum aufgebaut hat, einstürzen wird. Da wir eine sehr wohlhabende und erfolgreiche Familie sind, halten die Leute uns für steinhart, aber hinter geschlossenen Türen... sind unsere Tränen ebenso salzig wie die aller anderen auch.«

»Ich verstehe«, sagte ich.

»Wirklich?« Sein Gesicht heilte sich auf. »Ich bin nämlich nur deshalb eher gekommen, weil ich dich um einen Gefallen bitten wollte.«

»Selbstverständlich«, sagte ich, ehe ich mir seine Bitte auch nur angehört hatte.

»Ich möchte, daß du die... laß es mich in Ermangelung eines besseren Wortes so nennen... die Illusion aufrechterhältst, wenn ihr einander seht, obwohl du die Wahrheit kennst und Gladys weiß, daß du sie kennst.«

»Darum hättest du mich nicht zu bitten brauchen«, sagte ich. »Das tue ich nicht nur für Mrs. Tate, sondern allein schon um Pauls willen.«

»Ich danke dir«, sagte er erleichtert, und dann sah er sich um. »Dieses Haus, das Paul hier baut, ist wirklich ganz beachtlich. Er ist ein anständiger junger Mann. Er hat sein Glück verdient. Ich bin sehr stolz auf ihn, und das bin ich schon immer gewesen, und ich weiß, daß auch deine Mutter stolz auf ihn gewesen wäre.« Er wich ein paar Schritte zurück. »Nun... ich... ich werde mich jetzt wohl mit einem der Arbeiter unterhalten«, stammelte er. »Bis Paul kommt. Danke«, fügte er hinzu und wandte sich dann eilig ab, um sich in das Haus zurückzuziehen.

Mein beschleunigter Herzschlag verlangsamte sich wieder, doch das Gefühl der Leere in meinem Bauch, das mir den Eindruck vermittelte, ich hätte ein Dutzend Schmetterlinge verschluckt, legte sich nicht. Es würde Zeit kosten, dachte ich, und vielleicht würde selbst die Zeit die rauhen Kanten zwischen mir und Pauls Eltern nicht abschleifen, aber um Pauls willen würde ich mich bemühen. Jeder einzelne Tag dieser Ehe, die auf ganz speziellen Abmachungen beruhte, würde eine Reihe von Proben und Fragen mit sich bringen. Trotz allem, was wir hatten und haben würden, mußte ich herausfinden, ob ich es durchstehen konnte oder nicht.

James kam zurück und riß mich aus meinen bedrückten Gedanken. »Mr. Tate ist am Telefon, Madame«, sagte er.

»Oh. Danke, James.« Ich machte mich auf den Weg ins Haus, und dabei fiel mir auf, daß ich nicht genau wußte, wo sich das nächstgelegene Telefon befand.

»Sie können das Gespräch hier auf dem Innenhof entgegennehmen«, sagte James und wies mit einer Kopfbewegung auf den Tisch und die Stühle. Neben einem der Stühle stand auf einem kleinen Bambustischchen ein Telefon.

»Danke, James.« Ich lachte in mich hinein. Das Personal kannte sich in meinem neuen Zuhause besser aus als ich. »Hallo, Paul.«

»Ruby, ich komme gleich nach Hause, aber ich mußte dir von diesem Glücksfall berichten. Oder zumindest halte ich es dafür«, sagte er aufgeregt.

»Was ist passiert?«

»Unser Vorarbeiter hier in der Konservenfabrik kannte diese nette ältere Frau, die gerade ihren Job als Kindermädchen verloren hat, weil die Familie von hier fortzieht. Sie heißt Mrs. Flemming. Ich habe gerade mit ihr telefoniert, und sie kann heute nachmittag zu einem persönlichen Vorstellungsgespräch nach Cypress Woods kommen. Ich habe auch mit der Familie gesprochen, die sie in den höchsten Tönen lobt.«

»Wie alt ist sie?«

»Anfang Sechzig. Sie ist schon seit geraumer Zeit verwitwet und hat eine verheiratete Tochter, die in England lebt. Sie vermißt ihre Familie und sucht eine Stellung, weil ihr der Umgang mit Kindern fehlt. Wenn alles klappt, können wir sie vielleicht sofort einstellen und Pearl bei ihr lassen, während wir nach New Orleans fahren.«

»Oh, ich weiß nicht, ob sich das so schnell machen läßt, Paul.«

»Nun, das wirst du sehen, nachdem du mit ihr gesprochen hast. Soll ich ihr sagen, daß sie etwa um zwei Uhr vorbeikommen soll?«

»Einverstanden«, sagte ich.

»Was ist? Freust du dich nicht darüber?« fragte er. Sogar am Telefon konnte Paul spüren, wenn ich nervös oder besorgt war, traurig oder froh.

»Doch. Es ist nur einfach so, daß du zu schnell für mich bist. Ich finde kaum die Zeit, um Atem zu holen und eine erstaunliche Neuigkeit zu verdauen, da konfrontierst du mich schon mit der nächsten Überraschung.«

Er lachte. »Genau das habe ich vor. Dich mit schönen Dingen zu überschütten und dich in Glück zu ertränken, damit du niemals bereuen wirst, was wir getan haben und warum wir es getan haben«, sagte er. »Oh, übrigens, mein Vater wird mit uns zusammen zu Mittag essen. Es könnte sein, daß er schon vor mir eintrifft, das heißt...«

»Mach dir keine Sorgen«, sagte ich.

»Ich werde jetzt Mrs. Flemming anrufen, und dann mache ich mich auf den Heimweg. Was kocht Letty heute?«

»Ich hatte Angst, sie zu fragen«, sagte ich, und erst jetzt wurde mir klar, daß es sich so verhielt. Er lachte.

»Sag ihr ganz einfach, daß du sie verhexen wirst, wenn sie sich nicht benimmt«, sagte er.

Ich legte auf und lehnte mich zurück. Ich kam mir vor, als säße ich in einer Piragua, die einen Wasserfall nach dem nächsten durchfuhr, während ich keine Gelegenheit fand, Luft zu schnappen.

»Die Kleine ist wach geworden, Mrs. Tate«, rief mir Holly aus einem Zimmer im oberen Stockwerk zu.

»Ich komme schon«, sagte ich. Ich fand im Moment absolut keine Zeit zum Nachdenken, aber vielleicht hatte Paul recht. Vielleicht war das das Beste.

Beim Mittagessen verrieten weder ich noch Pauls Vater mit einem Wort oder einer Geste, daß wir bereits vorher miteinander geredet hatten, aber wir waren alle nervös. Paul redete wie ein Wasserfall. Er war so aufgeregt, daß es eines Orkans bedurft hätte, um ihn zu bremsen. Das Gespräch mit seinem Vater wandte sich schließlich geschäftlichen Problemen zu.

Pünktlich um zwei traf Mrs. Flemming mit einem Taxi ein. Pauls Vater war gegangen, doch Paul war länger geblieben, um sie gemeinsam mit mir zu empfangen. Das erste, was mir an ihr ins Auge stach, war, daß sie in etwa die Größe von Grandmère Catherine hatte. Mrs. Flemming war knapp einen Meter sechzig groß und hatte auch die puppenhaften Gesichtszüge meiner Großmutter: eine Knopfnase, einen kleinen zarten Mund und leuchtende graublaue Augen. Ihr helles silbriges Haar war noch von weizengelben Strähnen durchsetzt. Sie hatte es zu einem weichen Knoten aufgesteckt und ihren Pony kurz geschnitten.

Sie legte ihr Empfehlungsschreiben vor, und wir gingen alle ins Wohnzimmer, um miteinander zu reden. Keine ihrer bisherigen Erfahrungen und kein noch so dicker Packen von Empfehlungsschreiben hätte jedoch etwas bewirkt, wenn Pearl sie nicht mochte. Ein Baby ist ausschließlich auf seine Instinkte angewiesen, dachte ich, auf seine Gefühle. In dem Moment, in dem Mrs. Flemming mein Baby sah und Pearls Blick auf sie fiel, stand mein Entschluß fest. Pearl lächelte strahlend und erhob keinerlei Einwände, als Mrs. Flemming sie auf ihre Arme nahm. Es war, als hätten sie einander schon seit dem Tag gekannt, an dem Pearl geboren war.

»Oh, was für ein niedliches kleines Mädchen«, rief Mrs. Flemmings aus. »Du bist eine kleine Kostbarkeit, mein Süßes, so kostbar wie eine Perle. Ja, das kann man wohl sagen.«

Pearl lachte und richtete den Blick auf mich, als wollte sie sehen, ob ich eifersüchtig war oder nicht; dann schaute sie zu Mrs. Flemmings liebevollem Gesicht auf.

»Ich hatte nicht allzuviel Gelegenheit, mit meiner eigenen Enkelin zusammenzusein, als sie noch so klein war«, bemerkte sie. »Meine Tochter lebt in England, wissen Sie. Wir schreiben einander häufig, und einmal im Jahr fahre ich hin, aber trotzdem...«

»Warum sind Sie nicht mit ihr nach England gegangen?« fragte ich. Das war eine sehr persönliche Frage, und vielleicht hätte ich sie nicht ganz so direkt stellen sollen, aber ich hatte das Gefühl, soviel wie möglich über die Frau wissen zu müssen, die fast soviel Zeit wie ich mit Pearl verbringen würde, wenn nicht gar mehr.

Mrs. Flemmings Augen wurden dunkler.

»Oh, sie führt jetzt ihr eigenes Leben«, sagte sie. »Ich wollte mich nicht einmischen.« Dann fügte sie hinzu: »Die Mutter ihres Mannes lebt bei den beiden.«

Mehr brauchte sie nicht zu erklären. Wie Grandmère Catherine gesagt hätte: »Zwei Großmütter friedlich unter demselben Dach zu vereinen, ist so, als versuchte man, einen Alligator in einer Badewanne zu beherbergen.«

»Wo leben Sie jetzt?« fragte Paul.

»Ich habe ein einfaches Zimmer in einer Pension.«

Er sah mich an, während Mrs. Flemming mit Pearls winzigen Fingern spielte.

»Wenn das so ist, dann sehe ich keinen Grund dafür, daß Sie nicht gleich hier bei uns einziehen«, sagte ich. »Sie werden mit der Unterbringung zufrieden sein«, fügte ich hinzu.

Sie blickte auf und strahlte über das ganze Gesicht.

»Oh, ja, meine Liebe. Ja. Ich danke Ihnen.«

»Ich werde Sie von einem meiner Männer zu Ihrer Pension zurückfahren lassen. Dort kann er auf Sie warten, während Sie Ihre Sachen zusammenpacken«, sagte Paul.

»Vorher möchte ich Ihnen zeigen, wo Sie schlafen werden, Mrs. Flemming«, sagte ich und sah Paul fest an. Er tat es schon wieder; er handelte so schnell, daß ich kaum Atem holen konnte. »Ihr Zimmer grenzt direkt an das Kinderzimmer.«

Pearl jammerte nicht, als Mrs. Flemming sie auf dem Arm behielt und in ihr Zimmer trug. Ich hatte immer noch das Gefühl, daß etwas nahezu Mystisches daran war, wie die beiden einander auf Anhieb ins Herz geschlossen hatten, und natürlich entdeckte ich bald darauf, daß Mrs. Flemming Linkshänderin war. Für die Cajuns hieß das, daß sie spirituelle Kräfte besaß. Vielleicht waren sie in ihrem Fall subtiler, eher die Kräfte der Liebe als heilende Kräfte.

»Also, was ist?« fragte Paul, nachdem Mrs. Flemming mit einem seiner Männer fortgefahren war, um ihre Sachen zu holen.

»Sie scheint perfekt für den Posten zu sein, Paul.«

»Demnach würde es dir keine Sorgen bereiten, sie mit Pearl allein zu lassen?« schlußfolgerte er. »Wir werden schließlich nur ein oder zwei Tage fort sein.« Ich zögerte, und er lachte. »Schon gut. Mir ist die ideale Lösung eingefallen. Von Zeit zu Zeit muß ich mir ins Gedächtnis zurückrufen, wie reich ich wirklich bin. Wie reich wir sind, sollte ich wohl besser sagen.«

»Was soll das heißen?«

»Wir werden Pearl ganz einfach mitnehmen und ein angrenzendes Zimmer mit einem Kinderbettchen reservieren«, sagte er. »Warum sollte ich vor den Kosten zurückscheuen, solange es dich glücklich macht?«

»O Paul«, rief ich aus. Es schien tatsächlich so, als könne dieser neu begründete Reichtum jedes Problem aus der Welt schaffen. Ich schlang ihm die Arme um den Hals und küßte ihn auf die Wange. Seine Augen wurden vor Freude und Erstaunen groß. Ich wich zurück, als hätte ich eine unerlaubte Grenze überschritten. Einen Moment lang hatten mich mein Glück und meine Aufregung überwältigt. Ein seltsamer versonnener Blick trat in seine blauen Augen.

»Es ist schon in Ordnung, Ruby«, sagte er eilig. »Wir können einander reine Liebe entgegenbringen, wirklich. Wir sind nur Halbbruder und Halbschwester, verstehst du. Die andere Hälfte ist auch noch da.«

»Das ist die Hälfte, die mir Sorgen macht«, gestand ich leise.

»Ich will nur, daß du weißt«, sagte er und nahm meine Hände in seine, »daß dein Glück alles ist, wofür ich lebe.« Sein Gesicht wurde ernst und finster, als wir einander ins Gesicht starrten.

»Ich weiß, Paul«, sagte ich schließlich. »Und genau das macht mir manchmal angst.«

»Warum?« fragte er erstaunt.

»Es... es ist nun einmal so«, sagte ich.

»In Ordnung. Laß uns jetzt über nichts Trauriges reden. Dir müssen packen und Pläne schmieden. Ich muß mich mit dem Vorarbeiter der Ölbohrungsarbeiten absprechen und dann noch ein paar Stunden in die Konservenfabrik gehen. Du wirst in der Zwischenzeit einen Einkaufszettel schreiben und nichts auslassen«, sagte er. »Meine Familie wird gegen halb sieben hier erscheinen«, fügte er hinzu und ging.

Das hatte ich ganz vergessen. Vor der Begegnung mit Pauls Mutter graute mir. Trotz des Versprechens, das ich Pauls Vater gegeben hatte, war ich nicht gut darin, jemandem ins Gesicht zu sehen und die Wahrheit zu überspielen. Darin war meine Zwillingsschwester Gisselle Expertin, aber nicht ich. Trotzdem mußte ich es irgendwie schaffen.

Ich zog mich fünfmal um, ehe ich mich für ein Kleid entschied, das ich für das Abendessen mit meiner neuen Familie tragen würde. Ich konnte mich nicht entschließen, ob ich mir das Haar aufstecken oder es lang und offen tragen sollte. Jede kleinste Einzelheit nahm plötzlich enorme Bedeutung an. Ich wollte einen möglichst guten Eindruck machen. Schließlich entschied ich, das Haar aufzustecken. Ich kam in dem Moment nach unten, in dem die Tates eintrafen. Paul hatte sich bereits umgezogen und erwartete sie unten in der Eingangshalle.

Toby und Jeanne betraten zuerst das Haus, und Jeanne sprudelte über vor Aufregung und konnte es kaum erwarten, uns zu schildern, wie die Gemeinde auf unsere heimliche Hochzeit reagierte. Octavius und Gladys folgten; sie klammerte sich an seinen Arm, als fürchtete sie, sie könne ohne seine Stütze nicht auf den Füßen bleiben oder würde gar in Ohnmacht fallen. Sie drückte Paul einen Kuß auf die Wange und schaute dann zu mir auf, als ich die Treppe herunterkam.

Gladys Tate war eine große Frau, nur etwa zwei oder drei Zentimeter kleiner als ihr Mann, und gewöhnlich hatte sie eine majestätische Haltung. Ich wußte, daß sie von einer wohlhabenden Cajun-Familie in Beaumont, Texas, abstammte. Sie hatte ein Mädchenpensionat und dann das College besucht und dort Octavius Tate kennengelernt. Oft überraschte es mich, daß nicht mehr Leute den Verdacht geschöpft hatten, Paul könnte in Wirklichkeit nicht ihr Kind sein. Ihre Züge waren soviel schärfer geschnitten, und sie war soviel hagerer. In ihrem Gesicht war Härte, ein Ausdruck von Überlegenheit und Arroganz, sogar Hochmütigkeit, und dadurch unterschied sie sich von den meisten Frauen in unserer Cajun-Gemeinde, sogar von denen, die ebenfalls wohlhabend waren.

Im allgemeinen hatte sie einen modischen Haarschnitt und kleidete sich nach der neuesten Mode, doch heute abend wirkte sie so niedergeschlagen und deprimiert, daß selbst die modischste Kleidung und die kunstvollste Frisur nichts daran ändern konnten, wie traurig sie erschien. Sie vermittelte mir das Gefühl, nicht etwa einem Essen mit ihrer Familie, sondern einer Totenwache beizuwohnen. Als ich näher kam, forschten ihre Augen besorgt in meinem Gesicht.

»Hallo«, sagte ich mit einem nervösen Lächeln. Ich warf einen Blick auf Paul und sagte dann: »Ich vermute, ich sollte mich daran gewöhnen, euch beide Mom und Dad zu nennen.«

Octavius lächelte nervös, und sein Blick fiel auf Gladys, die nur deshalb, weil Pauls Schwestern anwesend waren, die Lippen zu einem flüchtigen Lächeln verzog. Augenblicklich setzte sie ihre förmliche Miene wieder auf.

»Wo ist das Baby?« fragte sie mit einer kalten, harten Stimme und richtete die Frage eher an Paul als an mich.

»Oh, wir haben gerade erst heute ein Kindermädchen engagiert, Mom. Sie heißt Mrs. Flemming. Die beiden sind oben im Kinderzimmer. Sie hat Pearl schon früher gefüttert, aber sie wird sie nach unten bringen, nachdem wir gegessen haben.«

»Ein Kindermädchen?« sagte Gladys und schien beeindruckt zu sein.

»Es ist eine sehr nette Frau«, warf ich ein. Gladys Tates Lippen wurden ein wenig weicher, als sie mich ansah. Ich hatte das Gefühl, die Luft zwischen uns sei so dick, daß man sie in Scheiben hätte schneiden können.

»Ich werde jetzt nach dem Abendessen sehen«, sagte ich. »Warum führst du nicht alle ins Eßzimmer?«

»Ich habe dein Haus noch gar nicht gesehen, Paul«, beklagte sich Gladys.

»Ach, ja. Richtig. Laß mich meine Mutter erst durch das Haus führen, Ruby.«

»Ja, sicher«, sagte ich und war froh über diese Gelegenheit, seiner Mutter eine Zeitlang entgehen zu können. Es würde noch schwerer werden, als ich erwartet hatte, dachte ich.

Als sei sie in die tiefsten und finstersten Geheimnisse eingeweiht, bereitete Letty eine ganz besondere Mahlzeit zu, noch außergewöhnlicher als das erste Essen, das sie für uns gekocht hatte. Octavius sagte immer wieder, wie sehr er seinen Sohn um die bessere Köchin beneidete. Gladys äußerte sich mit angemessenem Lob zu allem, doch jedesmal, wenn sie etwas sagte, nahm ich eine Anspannung wahr, die wie eine überdehnte Feder jeden Moment hätte zerspringen und in Hysterie umschlagen können. Es war, als könne sie jeden Moment wegen einer belanglosen Kleinigkeit schrill losschreien. Daher saßen Paul, sein Vater und ich auf Kohlen. Ich war erleichtert, als wir das Dessert hinter uns gebracht hatten, ein Schokoladenrumsoufflé, von dem Pauls Vater sagte, er habe nie ein besseres gegessen.

Als Holly gerade alle Kaffeetassen nachfüllte, erschien Mrs. Flemming mit Pearl im Arm.

»Ist sie nicht unglaublich süß, Mom?« rief Jeanne aus. »Ich finde, sie hat Pauls Augen, meinst du nicht auch?«

Gladys Tate starrte mich einen Moment lang an, ehe sie Pearl ansah. »Sie ist ein hübsches Kind«, sagte sie dann in einem unverbindlichen Tonfall.

»Möchten Sie sie einen Moment lang halten?« bot ihr Mrs. Flemming an. Ich hielt den Atem an. Mrs. Flemming war eine Großmutter, die wußte, wie gern jede Großmutter ihr eigenes Enkelkind in den Armen halten und küssen wollte.

»Ja, selbstverständlich«, sagte Gladys mit einem gezwungenen Lächeln. Mrs. Flemming brachte Pearl zu ihr. Sie wand sich unbehaglich in ihren Armen. Gladys Tate starrte ihr einen Moment lang ins Gesicht und drückte ihr dann einen schnellen Kuß auf die Stirn. Sie sah lächelnd zu Mrs. Flemming auf und nickte, um ihr zu bedeuten, sie solle sie wieder an sich nehmen. Mrs. Flemming kniff einen Moment lang die Augen zusammen, dann folgte sie schnell der Aufforderung.

»Was ist es für ein Gefühl, Großmutter zu sein, Mom?« fragte Jeanne.

Gladys Tate lächelte kühl. »Falls du damit meinst, ob ich mich dadurch älter fühle, Jeanne, dann muß ich dir mit einem Nein antworten.« Sie wandte sich um und richtete den Blick über den Tisch auf mich. Paul schlug daraufhin vor, wir sollten alle in die Bibliothek hinübergehen.

»Viel gibt es dort noch nicht zu sehen. Nichts in diesem Haus ist fertig, aber nachdem Ruby und ich aus New Orleans zurückkehren, wird dieses Haus ein Schmuckstück sein.«

»Warum erzählt ihr beide eurer Mutter nicht Genaueres über eure Pläne, wie ihr das Haus einrichten wollt?« schlug Octavius vor. Er wandte sich an mich. »Gladys hat die Inneneinrichtung unseres Hauses weitgehend übernommen.«

»Oh, ich würde mir liebend gern Anregungen geben lassen«, sagte ich und wandte mich an sie.

»Ich bin keine Innenarchitektin«, fauchte sie.

»Jetzt sei bloß nicht zu bescheiden, Gladys«, sagte Octavius unerschrocken. Er nickte mir zu. »Deine Schwiegermutter kennt sich wirklich aus, wenn es darum geht, Häuser kostspielig einzurichten und auszustatten. Ich wette, sie könnte mühelos mit dir durch das Haus laufen und Vorschläge einfach so aus dem Ärmel schütteln.«

»Octavius !«

»Das könntest du doch, Gladys«, beharrte er.

»Ihr beide macht jetzt einen Rundgang«, schlug Paul vor. »Ich werde alle anderen in die Bibliothek führen.«

Gladys schien einen Moment lang erzürnt zu sein. Dann sah sie ihre beiden Töchter an, die ihr Widerstreben zu erstaunen schien.

»Ja, natürlich, falls Ruby das wirklich möchte«, sagte sie widerwillig.

»Bitte«, sagte ich mit zitternden Lippen.

»Schön«, sagte Paul und erhob sich.

»Wo sollten wir uns zuerst umsehen?« fragte ich Gladys Tate.

»Zuallererst solltet ihr eure Schlafzimmer fertig einrichten«, schlug Jeanne vor. »Sie haben getrennte Schlafzimmer mit einer Verbindungstür. Ist das nicht wie bei einem Königspaar, Mom?«

Einen Moment lang herrschte tiefes Schweigen. Dann lächelte Gladys und sagte: »Ja, so ist es, meine Liebe. Ganz und gar.«

Als wir nach oben gingen und durch den Korridor liefen, blieb Gladys einen Schritt hinter mir zurück. Sie sagte kein Wort. Mein Herz schlug heftig, während ich rasend nach etwas suchte, was ich hätte sagen können, Banalitäten, die nicht albern klangen oder meine Nervosität verrieten. Ich begann, über die Farben zu sprechen, die ich in Betracht zog, plapperte über Farbzusammenstellungen, den Stil der Möbel, die mir vorschwebten, und einzelne Stücke, die dazu dienen sollten, Akzente zu setzen. Als wir in der Tür zu meinem Schlafzimmer stehenblieben, sah sie mich endlich an.

»Warum hast du das getan?« fragte sie mich in einem heiseren Flüstern. »Warum, wenn du die Wahrheit doch gekannt hast?«

»Paul und ich haben einander schon immer sehr nahegestanden, Mutter Tate. Ich war früher schon einmal gezwungen, Paul das Herz zu brechen, um die Wahrheit vor ihm zu verbergen. Du weißt selbst, wie es für ihn gewesen ist, als er sie herausgefunden hat«, sagte ich.

»Und was glaubst du wohl, wie es für mich war?« fragte sie barsch. »Wir waren noch nicht einmal allzu lange miteinander verheiratet, als Octavius ... als er mir untreu war. Natürlich hat deine Mutter ihn verhext. Catherine Landrys Tochter hat mystische Kräfte besessen, soviel steht für mich fest«, sagte sie.

Ich schluckte schwer. Ich hätte gern die Mutter in Schutz genommen, die ich nie gekannt hatte, aber ich sah deutlich, daß Pauls Mutter diese Theorie entwickelt hatte, um sich mit der Untreue ihres Ehemannes abfinden zu können. Ich hatte nicht die Absicht, Löcher in ihren Ballon zu stechen.

»Aber was habe ich getan?« fuhr sie fort. »Ich habe es akzeptiert und die Dinge vertuscht, um es uns zu ermöglichen, ehrbar zu bleiben und Paul behütet aufwachsen zu lassen. Und jetzt geht ihr beide... her und... es ist sündig«, sagte sie kopfschüttelnd. »Durch und durch sündig.«

»Wir leben nicht so zusammen, Madame. Deshalb haben wir schließlich getrennte Schlafzimmer.«

Sie schüttelte den Kopf, und ihre harten Augen drückten erbarmungslose Verdammung aus. Dann seufzte sie tief und setzte eine selbstmitleidige Miene auf.

»Jetzt muß ich schon wieder heucheln und meinen Stolz noch einmal schlucken, und ich muß tun, was ich eben tun muß, um meine Kinder vor der Schande zu bewahren. Das ist ungerecht«, sagte sie kopfschüttelnd. »Es ist einfach ungerecht.«

»Von mir wird niemand etwas erfahren. Kein Wort wird über meine Lippen kommen«, versprach ich ihr. Sie stieß ein kurzes schrilles Lachen aus.

»Weshalb solltest du auch etwas sagen? Sieh dir nur an, was du jetzt alles hast«, fügte sie schroff hinzu und hob die Arme. »Dieses Haus, dieses Grundstück, diesen enormen Reichtum... und einen Vater für dein Kind.« Sie heftete den Blick auf mich.

»Madame, Mutter Tate, ich versichere dir...«

»Du versicherst mir etwas. Ha! Ich bin sicher, daß du Paul mit demselben Zauber belegt hast, mit dem deine Mutter Octavius verhext hat. Diese Kräfte sind von der Mutter auf die Tochter übergegangen, nur bin ich diejenige, die für all das büßt... und nicht etwa mein braver Mann oder mein guter Adoptivsohn. Komisch«, sagte sie und unterbrach sich. »Ich habe diesen Ausdruck nie verwendet, nicht ein einziges Mal. Aber jetzt, in deiner Gegenwart, kann ich nichts anderes als die Wahrheit sagen: mein Adoptivsohn.«

»Es ist nicht die Wahrheit«, fauchte ich sie an. »In deinem Herzen liebst du Paul in derselben Form, in der du ihn lieben würdest, wenn du ihn selbst geboren hättest, und er liebt dich ebenso. Eins werde ich dir versprechen, Mutter Tate, und zwar, daß ich nie etwas tun werde, was diese Liebe beeinträchtigen könnte. Niemals«, beharrte ich mit zusammengekniffenen Augen und sah ihr voller Entschlossenheit fest ins Gesicht.

Sie lächelte so kalt, als wolle sie damit sagen, das könne ich selbst dann nicht, wenn ich es mir von ganzem Herzen wünschte.

»Aber du solltest wissen, daß Paul Pearl so sehr liebt wie ein eigenes Kind«, warnte ich sie. »Ich hoffe, du wirst das akzeptieren und sie wie eine Großmutter lieben.«

»Liebe«, sagte sie. »Jeder einzelne braucht soviel davon. Da ist es kein Wunder, daß wir alle derart erschöpft sind.« Sie seufzte noch einmal und sah sich dann in meinem Zimmer um. In ihrem harten Gesicht drückte sich herbe Kritik aus. »Du solltest hübsche Vorhänge für diese Fenster aussuchen. Die Sonne geht auf dieser Seite des Hauses unter. Und diese Farben, die du in Betracht ziehst... ich dachte, du hältst dich für eine Künstlerin. Hier wirst du Beige mit einem Hauch von Rosé nehmen«, ordnete sie an. »Wenn ihr nach New Orleans fahrt«, fuhr sie fort, während sie sich weiterhin umsah, »dort kenne ich dieses Geschäft in der Canal Street ...«

Ich folgte ihr und war froh über unseren Waffenstillstand, obwohl wir ihn zu ihren Bedingungen geschlossen hatten.

Am nächsten Morgen standen wir früh auf, um nach New Orleans aufzubrechen. Zum Glück riß die morgendliche Wolkendecke auf, und die blauen Flecken, durch die strahlender Sonnenschein schimmerte, gestalteten die Fahrt erfreulicher. Es war mir verhaßt, lange Wege bei Regen zurückzulegen. Als wir über die vertraute Schnellstraße fuhren, fühlte ich mich unwillkürlich, als durchlebte ich einen alten Alptraum noch einmal. Ich erinnerte mich wieder an meine erste Reise, als ich damals vor Grandpère Jack fortgelaufen war. Ich war während des Karnevals in New Orleans eingetroffen und beinah von einem Mann mit einer Faschingsmaske vergewaltigt worden, der mir vorgemacht hatte, er wollte mir helfen, mich in der Stadt zurechtzufinden.

Aber das war auch der Tag, an dem ich Beau zum ersten Mal begegnet war, fiel mir wieder ein. Als ich gerade den Mut verloren hatte und umdrehen wollte, nachdem ich das Haus meines Vaters gefunden hatte, war Beau erschienen wie ein Star, der von der Kinoleinwand herabsteigt. Vom ersten Moment an wußte ich, daß er etwas ganz Besonderes war; und daran, wie er mich ansah, sobald er wußte, daß ich nicht meine Zwillingsschwester war, erkannte ich, daß er genauso über mich dachte. Als der Lake Pontchartrain mit seinem dunkelgrünen Wasser und den kleinen Schaumkronen in Sicht kam, erinnerte ich mich lebhaft an mein erstes Rendezvous mit Beau und daran, wie leidenschaftlich wir schon damals gewesen waren.

Ich war in diese Erinnerungen so versunken, daß ich nicht einmal wahrnahm, wie Paul in die Stadt fuhr. Erst als wir vor dem Fairmont Hotel vorfuhren, erwachte ich aus meinen Träumereien. Pearl hatte während der Fahrt die meiste Zeit geschlafen, aber als wir aus dem Auto stiegen, war sie fasziniert von den Verkehrsgeräuschen, den Menschenmassen und dem ganzen Trubel um uns herum. Wir bezogen unsere Suite. Paul hatte arrangiert, daß ein Zimmer mit zwei Doppelbetten und ein angrenzendes Zimmer für Mrs. Flemming und Pearl für uns reserviert worden waren.

Nachdem wir zum Mittagessen eine Kleinigkeit im Hotel zu uns genommen hatten, brachte Mrs. Flemming Pearl für ihren Mittagsschlaf nach oben, und Paul und ich brachen zu unserem Einkaufsbummel auf. Ich hatte vergessen, wie sehr ich diese Stadt liebte. Sie hatte ihren eigenen, ganz speziellen Rhythmus, der sich veränderte, wenn der Tag in den Abend überging. Am Morgen konnte es ganz ruhig hier sein. Die meisten Geschäfte waren nicht geöffnet, und die Rolläden und die Balkontüren waren geschlossen; insbesondere in dem berühmten Französischen Viertel, dem Vieux Carré. Die Schatten waren immer noch tief, und es war relativ kühl auf den Straßen.

Am späten Vormittag öffneten die Geschäfte, und die Straßen füllten sich mit Menschen. Die verschnörkelten Balkone über uns waren überladen mit Blumen. Straßenhändler boten lauthals ihre Waren feil; aus den Türen der Restaurants und Bars drang Musik, die die Touristen anlockte. Während der Nachmittag voranschritt, beschleunigte sich der Rhythmus. Straßenmusikanten und andere Künstler nahmen ihre Posten an den Kreuzungen ein und zeigten ihr Können im Steptanz, Jonglieren und im Gitarrenspiel.

Paul hatte eine Liste von Geschäften, in die er gehen wollte. Er gestand mir, daß seine Mutter sie zusammengestellt hatte.

»Sie kennt sich mit diesen Dingen bei weitem besser aus als wir«, erklärte er und zeigte sie mir. »Was meinst du dazu?«

»Mir ist das recht«, sagte ich, obwohl es sich bei vielen Punkten dieser Liste um Dinge handelte, die ich nicht ausgewählt hätte.

Paul und ich zogen von einem Geschäft zum nächsten und kauften Einrichtungsgegenstände wie Lampen und Tische, aber auch das schmückende Beiwerk, das seine Mutter vorgeschlagen hatte. Ich kam mir mit der Zeit vor, als liefe ich wie ein Kind hinter ihm her.

»Meine Mutter hat einen guten Geschmack, findest du nicht auch?« fragte er, ehe ich auch nur dazu gekommen war, mich zu den Einkäufen zu äußern.

»Ja«, sagte ich. Es war, als begleitete sie uns.

Am späten Nachmittag legten Paul und ich eine Pause ein und gingen ins Café du Monde, um dort Kaffee zu trinken und die berühmten Beignets zu essen. Wir konnten die Künstler an ihren Staffeleien beobachten und die Touristen, die mit ihren Kameras um den Hals vorüberliefen. Vom Fluß her wehte eine kühle Brise, und die Magnolienblüten, die sich in der Luft hoben und senkten, leuchteten intensiv.

»Für das Abendessen habe ich uns einen Tisch bei Arnaud’s reserviert«; bemerkte Paul.

»Bei Arnaud’s?«

»Ja. Mutter hat es vorgeschlagen. Findest du nicht, daß sie eine gute Wahl getroffen hat?«

»Oh, doch, es ist sehr hübsch dort«, sagte ich und lächelte gequält. Woher hätte Paul wissen sollen, daß Beau mich zu unserem ersten offiziellen Rendezvous zu Arnaud’s eingeladen hatte? Es schien mir jedoch so, als hätte sich die ganze Stadt verschworen, die Erinnerung an jede einzelne Kleinigkeit wachzurufen, die ich hier erlebt hatte, ganz gleich, ob gut oder böse.

Das Abendessen war wunderbar, und Pearl benahm sich gut. Hinterher wollte Paul mit mir im Hotelfoyer sitzen und Jazz hören. Das taten wir eine Zeitlang, doch die Fahrt und die Einkäufe des Tages mir all dem emotionalen Beigeschmack hatten mich mehr ausgelaugt, als ich es für möglich gehalten hätte. Immer wieder fielen mir die Augen zu. Paul lachte, und wir gingen nach oben in unser Zimmer.

Es war die erste Nacht, die wir gemeinsam im selben Schlafzimmer verbrachten, und wenn wir auch kein Bett miteinander teilten, dann brachte das doch eine gewisse Intimität mit sich, die mir anfangs leises Unbehagen erregte. Als ich, nur mit meinem Slip bekleidet, vor dem Waschbecken und dem Spiegel stand, sah ich Paul im Spiegel, der hinter mir stand und mich aus seinen tiefen blauen Augen anstarrte, und ich fühlte mich nackt. Sowie er sah, daß ich seinen Blick bemerkt hatte, entfernte er sich eilig.

Ich ging ins Bad und kleidete mich zum Schlafen an. Paul lag bereits in seinem Bett, als ich das Licht ausschaltete und unter die Decke kroch.

»Gute Nacht, Ruby«, sagte er liebevoll.

»Gute Nacht.« Die Stille und die Dunkelheit schienen dichter zwischen uns zu werden. Wir würden alles miteinander teilen, was ein Mann und eine Frau, die heirateten und eins wurden, nur teilen konnten, bis auf eines: einander. Dieser Gedanke schwebte in der Dunkelheit über mir, verhöhnte mich und marterte mich. Ich drehte mich auf die Seite, und als ich die Augen schloß, flohen meine Gedanken über in Erinnerungen an Beau und die Leidenschaft, mit der wir einander geliebt hatten. Für den Moment waren diese Erinnerungen alles, was ich hatte.

Am nächsten Tag setzten wir unseren Einkaufsbummel fort und hielten uns dabei weiterhin an Mrs. Tates Auflistung. Ich ging in ein Geschäft für Künstlerbedarf und ließ meine eigene Liste dort. Es würde alles ins Haus geliefert werden. Nach dem Mittagessen gingen Paul und ich im Französischen Viertel spazieren und hielten jetzt nach Geschenken für seine Schwestern und seine Eltern Ausschau.

»Du hast es bisher nicht erwähnt«, sagte er, »aber hast du die Absicht, deine Stiefmutter zu besuchen? Sie weiß bisher noch nichts von uns.«

»Daran habe ich auch gedacht«, sagte ich. »Obwohl ich keineswegs darauf versessen bin.«

»Ich begleite dich.«

»Nein. Ich halte es für besser, wenn ich es allein tue«, sagte ich.

»Einverstanden.« Er lächelte. »Soll ich dir ein Taxi besorgen, oder...

»Nein, ich glaube, ich möchte die Straßenbahn nehmen«, sagte ich. Das hatte ich so oft getan, als ich in dem prächtigen Haus meines Vaters im Garden District gelebt hatte. Die Fahrt fand ich auch heute noch reizvoll, doch in dem Moment, in dem ich aus der Straßenbahn ausstieg und auf das Haus zulief, spürte ich, wie mein Herz schneller zu schlagen begann.

Konnte ich das tun? Einfach in dieses Haus zurückkehren und meiner Stiefmutter gegenübertreten, nachdem ich von hier fortgelaufen war? Ich wußte, daß Gisselle in der Schule war und ich mich daher nicht mir ihr befassen mußte. Dennoch erschien es mir wie eine selbstauferlegte Folter, dieses prunkvolle Haus zu betreten, obwohl ich wußte, daß mein Vater tot war, daß Nina fort war, daß Beau in Europa weilte und sich dort mit einer anderen jungen Frau eingelassen hatte.

Ich blieb auf der gegenüberliegenden Seite stehen und schaute das elfenbeinfarbene Haus an. Es wirkte unverändert, als sei die Zeit stehengeblieben. Wenn ich jetzt diese Straße überquerte, würde vielleicht alles, was sich seit dem Tag ereignet hatte, an dem ich hier erschienen war, ungeschehen sein, und ich würde noch einmal ganz von vorn beginnen, dachte ich. Daddy würde noch am Leben sein, ein lebhafter und gut-aussehender Mann von strotzender Gesundheit. Nina Jackson würde in der Küche ihre Selbstgespräche führen und über böse Geister klagen, die sich in den Schränken und der Speisekammer eingenistet hatten, und Otis würde in der Tür stehen und schon darauf warten, mich zu begrüßen. Ich würde hören, wie Gisselle sich im oberen Stockwerk lauthals über irgend etwas beklagte.

Ich wollte die Straße gerade überqueren, als der vertraute Rolls-Royce in die Auffahrt einbog. Ich beobachtete, wie er vor dem Haus anhielt und Daphne ausstieg; sie wirkte vollkommen unverändert. Sie war immer noch die Eiskönigin, als sie augenblicklich ihre statuenhafte Haltung einnahm und dem Chauffeur eine Anweisung erteilte. Der Wagen setzte sich in Bewegung, und sie stieg die Stufen hinauf. Ein neuer Butler, ein kleinerer Mann mit dunkelgrauem Haar, öffnete unverzüglich die Tür. Es schien, als täte er nichts anderes, als hinter der Tür ihre Rückkehr zu erwarten. Ohne ihn auch nur mit einem einzigen Wort zu begrüßen, betrat sie das Haus. Er machte eine leichte Verbeugung und schaute dann hinaus, als sehnte er sich nach der Freiheit. Im nächsten Moment hatte sich die Tür wieder geschlossen, und ich trat auf den Bürgersteig zurück.

Plötzlich erschien mir nichts anderes auf Erden erschreckender und unerfreulicher als der Gedanke daran, dieser Frau gegenüberzutreten. Ich machte schleunigst auf dem Absatz kehrt und entfernte mich eilig. Ich lief so schnell, daß ich sicher wie jemand wirkte, der vor etwas floh. Aber schließlich war ich tatsächlich auf der Flucht.

Ich floh vor den gräßlichen Erinnerungen an die Abscheulichkeiten, die Daphne begangen hatte. Vor den Erinnerungen an ihren Versuch, mich einweisen und einsperren zu lassen, an ihre Eifersucht auf die Liebe meines Vaters zu mir, an ihre Bemühungen, mich in den Augen von Beaus Eltern so schlecht wie möglich hinzustellen. Ich floh vor der Leere dieses prächtigen Hauses, die dort herrschte, nachdem Daddy gestorben war, vor der Dunkelheit und den Schatten, die in jedem Winkel lauerten.

Ich lief etliche Straßen weit, ehe ich die Straßenbahn nahm, und als ich im Hotel eintraf und Paul mir die Tür öffnete, wirkte ich gehetzt, mein Haar war zerzaust und mein Gesichtsausdruck gequält.

»Was ist passiert?« fragte er. »Was hat sie angerichtet?«

»Nichts«, sagte ich und warf mich auf das Bett. »Ich habe kein Wort mit ihr geredet. Ich konnte es nicht tun. Ich werde ihr schreiben«, sagte ich. »Und es dabei belassen. Laß uns nach Hause fahren... jetzt sofort!«

Er schüttelte den Kopf. »Aber wir haben immer noch einige Erledigungen zu machen. Mutter fand, wir sollten...«

»O Paul«, rief ich aus und packte seine Hand. »Bring mich nach Hause. Bitte... bring mich einfach nur nach Hause. Den Rest kannst du doch allein besorgen, oder nicht?«

Er nickte. »Ja, selbstverständlich«, sagte er. »Wir werden augenblicklich aufbrechen.«

Erst als wir das Bayou wieder erreicht hatten und die Auffahrt zu Cypress Woods hochfuhren, verspürte ich ein Gefühl von Erleichterung. Vor mir ragte unser prachtvolles Haus auf, und mir wurde klar, daß das mein Zuhause war, selbst dann, wenn meine Schwiegermutter diejenige war, die es einrichtete, und nicht ich. Jetzt war ich mehr denn je froh darüber, daß ich den Entschluß gefaßt hatte, Paul zu heiraten und hierherzuziehen. Das Haus war weit genug fort und lag isoliert genug, um die Gespenster meiner gräßlichen Vergangenheit von mir fernzuhalten.

Ich konnte es kaum erwarten, mein Atelier einzurichten und wieder mit dem Malen zu beginnen. Die Sümpfe, unsere enormen Mengen Land und unsere Ölquellen würden die Mauern umschließen und die Dämonen fernhalten. Hier war ich sicher, dachte ich... sicher.

Fesseln der Erinnerung

Подняться наверх