Читать книгу Fesseln der Erinnerung - V.C. Andrews - Страница 5
Prolog
ОглавлениеAm frühen Abend, kurz nachdem die Sonne im westlichen Bayou hinter den Wipfeln der Zypressen versunken ist, sitze ich mit Pearl in den Armen auf Grandmère Catherines altem Schaukelstuhl und summe eine alte Cajun-Weise. Es ist eine Melodie, die Grandmère Catherine mir früher immer vorgesungen hat, wenn sie mich ins Bett brachte. Sie sang sie auch noch, als ich bereits ein kleines Mädchen mit langen Zöpfen war und von den Ufern des Sumpfes über die Felder zu unserer Hütte rannte, die auf dünnen Pfählen stand. Wenn ich die Augen schließe, kann ich ihre Rufe immer noch hören.
»Ruby, es ist Zeit zum Abendessen, Kind. Ruby...«
Aber ihre Stimme verblaßt in meiner Erinnerung wie Rauch, den der Wind mit sich forttreibt.
Ich bin inzwischen schon fast neunzehn, und es sind beinahe drei Monate vergangen, seit Pearl während eines der heftigsten Orkane, die jemals über das Bayou hereingebrochen sind, geboren wurde. Die umgestürzten Bäume wurden inzwischen zur Seite geräumt, liegen dort aber immer noch wie verwundete Soldaten, die darauf warten, geheilt und wiederhergestellt zu werden.
Ich vermute, auch ich warte darauf, geheilt und wiederhergestellt zu werden. Eigentlich war das der wahre Grund für meine Rückkehr aus New Orleans ins Bayou. Mein Vater, erdrückt von der Last seines Schuldbewußtseins wegen der Dinge, die er seinem Bruder, meinem Onkel Jean, angetan hatte, war einem tragischen Herzanfall erlegen. Daraufhin hatte meine Stiefmutter Daphne unser Leben in die Hand genommen. Und wie. Daphne lehnte mich schon seit dem Tag ab, an dem ich vor ihrer Türschwelle gestanden hatte. Mich, die Zwillingsschwester ihrer Tochter, von deren Existenz bis dahin nichts bekannt gewesen war; mich, diejenige, die von Grandmère Catherine geheimgehalten worden war, damit mich Grandpère Jack nicht weggab; mich nicht verkaufte, wie er Gisselle verkauft hatte.
Bis zu meinem Eintreffen war es Daphne und Pierre Dumas, meinem Vater, gelungen, die Wahrheit unter einem Berg von Lügen zu begraben. Nach meinem Auftauchen waren sie jedoch gezwungen, ein weiteres Trugbild zu ersinnen; sie behaupteten, ich sei an dem Tag, an dem Gisselle und ich geboren wurden, aus meiner Wiege gestohlen worden.
Die Wahrheit ist, daß sich mein Vater auf einem der Jagdausflüge in den Sümpfen in Gabrielle, meine Mutter, verliebt hatte. Grandpère Jack war ihr Führer. Vom ersten Augenblick an verfiel mein Vater der wunderschönen Frau, die Grandmère Catherine als freien Geist und unschuldiges Wesen schilderte. Das Gefühl beruhte auf Gegenseitigkeit.
Daphne konnte keine Kinder bekommen, und daher willigte Grandpère Jack, als meine Mutter mit Gisselle und mir schwanger war, in einen Handel ein, den mein Großvater Dumas vorgeschlagen hatte: Er verkaufte Gisselle an Daphne, die sie von da an als ihre Tochter ausgab.
Grandmère Catherine verzieh es ihm niemals und jagte ihn aus unserem Haus. Er lebte in den Sümpfen wie eine Sumpfratte und verdiente sich seinen Lebensunterhalt als Fallensteller für Bisamratten und als Austernfischer; aber auch als Touristenführer, wenn er dazu nüchtern genug war. Vor ihrem Tod nahm mir Grandmère Catherine, die ein Traiteur war, eine spirituelle Heilerin, das Versprechen ab, nach New Orleans zu gehen und meinen Vater und meine Schwester ausfindig zu machen.
Das Leben dort sollte sich für mich jedoch als noch unerträglicher erweisen. Gisselle verabscheute mich von Anfang an und machte mir sowohl in New Orleans als auch in Greenwood, der Privatschule in Baton Rouge, in die man uns schickte, das Leben zur Hölle. Insbesondere wurmte es sie, wie schnell sich Beau Andreas, ihr früherer Freund, in mich verliebte und ich mich in ihn. Später, als ich mit Beaus Kind schwanger war, schickte Daphne mich in das Hinterzimmer einer gräßlichen Arztpraxis, um dort eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Doch ich lief fort und kehrte zu dem einzigen anderen Zuhause zurück, das ich je gekannt hatte: ins Bayou.
Grandpère Jack ertrank bei einem seiner Saufgelage im Sumpf, und ich wäre von Anfang an ganz auf mich allein gestellt gewesen, hätte es meinen geheimen Halbbruder Paul nicht gegeben. Bevor wir von unserer wahren Beziehung zueinander wußten, waren Paul und ich ein junges Liebespaar. Es brach mir das Herz, als ich erfahren mußte, daß sein Vater meine Mutter verführt hatte, als sie noch sehr jung war, und er hat sich bis zum heutigen Tage geweigert, diese Wahrheit anzuerkennen.
Seit meiner Rückkehr ins Bayou war er stets an meiner Seite und hat mir täglich Heiratsanträge gemacht. Sein Vater besitzt. eine der größten Konservenfabriken für Krabben im Bayou. Ein Stück Land jedoch, das Paul geerbt hat, hat ihn nun zu einem der reichsten Männer in der ganzen Gegend gemacht, denn auf diesem Land ist Öl gefunden worden.
Jetzt baut Paul gerade eine große Villa, von der er sich erhofft, daß Pearl, er und ich eines Tages dort leben werden. Er weiß, daß unser Verhältnis zueinander seine Grenzen haben müßte, daß wir kein Liebespaar sein könnten; aber zu diesem Opfer ist er bereit, wenn es bedeutet, daß er sein Leben mit mir verbringen kann. Sein Angebot ist verführerisch, da ich Beau verloren habe, meine einzige große, leidenschaftliche Liebesbeziehung, und mit meinem Kind ganz auf mich selbst gestellt bin. Ich rackere mich ab, um uns beide durchzubringen, genau wie Grandmère Catherine und ich uns abgerackert haben, als sie noch am Leben war: Ich webe Decken und flechte Körbe, koche Gumbos und verkaufe all das an unserem Straßenstand an die Touristen. Es ist nicht gerade ein gutes Leben, und es verheißt meinem wunderschönen Baby keine Zukunft.
Jeden Abend sitze ich auf dem Schaukelstuhl, wie auch jetzt, wiege Pearl in den Schlaf und grübele herum, was ich am besten tun sollte. Hoffnungsvoll starre ich auf das Bild von Grandmère Catherine, das ich gemalt habe, ehe sie starb. Auf dem Gemälde sitzt sie auf ebendiesem Schaukelstuhl auf der Veranda vor unserem Haus. In das Fenster hinter ihr habe ich das Engelsgesicht meiner Mutter gemalt. Die beiden erwidern meinen Blick, als erwarteten sie von mir, daß ich die richtige Entscheidung treffe.
Oh, wie sehr ich doch wünschte, sie wären alle noch am Leben und hier und könnten mir sagen, was ich tun soll. In weniger als eineinhalb Jahren werde ich Geld haben, dann wird meine Erbschaft fällig, die mir als einer Dumas zusteht. Doch ich verspüre einen starken Widerwillen gegen diese Welt in New Orleans; und das trotz des wunderschönen Hauses im Garden District und all der Reichtümer dort. Allein schon der Gedanke daran, Daphne wieder gegenüberzutreten, läßt mich erschauern. Sie hat damals versucht, mich in einer Anstalt für Geisteskranke einzusperren. Ihre Schönheit täuscht über ihre wirkliche Kälte hinweg. Und außerdem: Wenn ich etwas gelernt habe, solange ich, von Dienstboten und wertvollen Gegenständen umgeben, im Haus der Dumas lebte, dann ist es, daß man Liebe für kein Geld und keine Reichtümer auf Erden kaufen kann.
In diesem Hause herrschte keine Liebe mehr, als mein Vater erst einmal gestorben war. Als er noch lebte, litt er gewaltig unter den dunklen Schatten seiner eigenen früheren Sünden. Ich bemühte mich, Sonnenschein und Glück in seine Welt zu bringen, doch Daphne und Gisselle waren wild entschlossen, das zu verhindern. Ihr Egoismus ließ mich schließlich an meinem Vorhaben scheitern. Jetzt sind sie beide froh darüber, daß ich fortgegangen bin. Daß ich mich im Netz meiner Leidenschaft verfangen habe, schwanger wurde und somit unter Beweis gestellt habe, was sie schon immer über mich behauptet hatten... daß ich eine nichtsnutzige Cajun bin. Beaus Familie hat ihn nach Europa geschickt, und Gisselle kann jedesmal kaum erwarten, mir in ihren Briefen von seinen Freundinnen und seinem luxuriösen und erfüllten Leben dort zu berichten.
Vielleicht sollte ich Paul heiraten. Nur seinen Eltern ist die Wahrheit über uns bekannt, und sie haben sie als ein tiefes, finsteres Geheimnis bewahrt. Alle alten Freundinnen meiner Grandmère Catherine glauben ohnehin, daß Pearl Pauls Kind ist. Sie hat sein braunes Haar mit den goldblonden Strähnen und die Augen von uns beiden: tiefblau. Ihre Haut ist so zart und hell, blaß und doch von einem matten Schimmer überzogen, der mich vom ersten Moment an an Perlen erinnerte.
Paul fleht mich bei jeder sich bietenden Gelegenheit an, ihn zu heiraten. Ich bringe es nicht über das Herz, ihn davon abzuhalten, da er schon immer zu mir gestanden hat. Er war da, als Pearl geboren wurde, und hat uns während des Orkans beschützt. Er bringt uns täglich Lebensmittel und Geschenke und verwendet jede freie Minute darauf, Dinge in meiner Hütte zu reparieren.
Wäre es eine sündige Verbindung, wenn wir sie nicht vollziehen? Die Ehe ist mehr als nur etwas, was die Sexualität legalisiert und sie als moralisch hinstellt. Menschen heiraten, um einander in anderen Formen als nur dieser einen zu lieben und zu ehren. Sie heiraten, um jemanden zu haben, der ihnen in schlechten Zeiten und im Krankheitsfalle beisteht, um einander bis in den Tod Gesellschaft zu leisten und sich gegenseitig zu beschützen. Und Paul wäre Pearl ein wunderbarer Vater. Er liebt sie so sehr, als sei sie tatsächlich sein eigenes Kind. Manchmal denke ich, er hält sie dafür, hält sie wirklich dafür.
Andererseits frage ich mich, ob es Paul gegenüber fair wäre, ihm das zu versagen, was jeder Mann von einer Frau erwartet und braucht. Er behauptet, er sei bereit, dieses Opfer zu bringen, weil er mich so sehr liebt. Unsere katholischen Geistlichen bringen für eine höhere Form der Liebe ein solches Opfer dar. Warum also sollte er es nicht tun können? Er hat mir sogar damit gedroht, Mönch zu werden, wenn ich ihn abweise.
O Grandmère, kannst du mir denn kein Zeichen geben? Du hast solche wunderbaren spirituellen Kräfte besessen, als du noch am Leben warst. Du hast böse Geister vertrieben, du hast kranke Menschen geheilt, ihnen Hoffnung eingeflößt und ihre Seelen aufstreben lassen. Wohin soll ich mich wenden, um Antworten zu finden?
Als nähme sie meinen inneren Aufruhr wahr, wird Pearl jetzt unruhig und beginnt zu weinen. Ich küsse ihre zarten Wangen und wie so oft, wenn ich in ihr süßes kleines Gesichtchen schaue, denke ich an Beau und an sein liebes Lächeln, seine warmen Augen, seine verführerischen Lippen. Bisher hat er seine eigene Tochter noch nicht gesehen. Ich frage mich, ob er sie jemals zu Gesicht bekommen wird.
Sie wird wieder ruhiger. Ihre Augen schließen sich, und sie verfällt in einen stillen Schlaf, vertrauensvoll, behaglich und ohne die Stürme von Sorgen wahrzunehmen, die um uns herum toben. Was hält das Schicksal für uns bereit?
Wäre doch all das bloß Jahre später passiert. Dann hätten Beau und ich geheiratet und besäßen ein wunderbares Haus im Garden District. Pearl wäre in einem Haus voller Liebe aufgewachsen, in einer Welt voller Reichtümer, wie die Scheinwelt unserer Träume. Wären wir doch bloß vorsichtiger gewesen und...
Jegliches Wenn und Aber, wird mir klar, ist bedeutungslos in einer realen Welt, in der Träume ohnehin oft zu Schatten verblassen. Jetzt hör schon auf, über vergossene Milch zu lamentieren, Ruby, sage ich mir.
Ich schaukele weiter und summe. Draußen verschwindet die Sonne vollständig, und ein dichtes, tiefes Dunkel fällt herab, in dem sich das Licht der Sterne nur in den Augen der Eule spiegelt. Ich stehe auf und lege Pearl in ihr Kinderbettchen, eine Wiege, die Paul ihr gekauft hat. Dann kehre ich ans Fenster zurück und schaue in die Nacht hinaus. Alligatoren gleiten an den Ufern des Wasserlaufs entlang. Ich kann hören, wie ihre Schwänze auf dem Wasser aufschlagen. Fledermäuse flattern durch das Louisianamoos und setzen zum Sturzflug an, um Insekten für ihr Abendessen zu fangen, und die Waschbären beginnen zu jaulen.
Wie einsam es doch in meiner Welt geworden ist, und dennoch habe ich mich bisher nie davor gefürchtet, allein zu sein, aber jetzt gibt es noch einen anderen Menschen, um den ich mir Sorgen machen und den ich beschützen muß: meine entzückende Pearl, die schläft und Babyträume träumt und darauf wartet, daß ihr Leben beginnt.
Es liegt an mir, dafür zu sorgen, daß es mit Sonnenschein und nicht mit Schatten anfängt, mit Hoffnung und nicht mit Furcht. Wie werde ich das anstellen? Die Antworten lauern in der Dunkelheit und warten nur darauf, entdeckt zu werden. Wer hat sie dort zurückgelassen, die guten oder die bösen Geister?