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Prolog

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Es beginnt jedesmal gleich. Zuerst höre ich ihn das Schlaflied singen. Er trägt mich auf den Armen, und wir laufen durch eine Sumpflandschaft, in der das Gras so hoch ist, daß keiner von uns beiden seine Füße in den hohen Stiefeln sehen kann, sondern nur die Schuhspitzen. Er trägt einen Hut aus geflochtenen Palmwedeln, und die breite Krempe wirft einen Schatten über seine Augen und seine Nase. Ich habe meinen rotweißen Hut auf.

Hinter uns trommeln monoton die metallenen Monster. Sie ähneln gigantischen Bienen, die schwarzen Nektar aus der Erde saugen. Wenn ich mich nach ihnen umsehe, heben sie die Köpfe, nicken mir zu und heben dann die Köpfe wieder. Das macht mir angst, und ich weiß, daß er es merkt, denn er hält mich sofort fester und singt mir mit lauterer Stimme vor.

Dann stoßen wir auf eine Schar von Reisstärlingen. Sie schwingen sich aus dem Gras auf, voller Anmut und Schönheit, doch sie setzen sich derart abrupt in Bewegung und kommen uns so nah, daß ich den Lufthauch spüren kann, der durch ihre Flügelschläge entsteht. Er lacht. Es ist ein sanftes, wohltönendes Lachen, das wie kühles Wasser über mich rinnt.

Vor uns ragt das große Haus auf, und sein Umriß zeichnet sich gegen den Himmel ab. Das Haus ist so riesig, daß es den Eindruck erweckt, als schluckte es den Himmel und könnte den Blick auf die Sonne verstellen. Ich sehe, wie Mommy die Treppe von ihrem Atelier herunterkommt. Sie sieht uns und winkt, und wieder lacht er. Mommy kommt auf uns zu, anfangs mit schnellen Schritten, und dann rennt sie uns entgegen. Mit jedem Moment, der vergeht, wird sie jünger und immer jünger, bis sie ... ich ist!

Ich stehe vor einem Spiegel und sehe mich an. Das Blau meiner Augen, mein flachsfarbenes Haar und der durchscheinende Perlmuttschimmer meiner Haut erstaunen mich derart, daß ich lächelnd die Hand ausstrecke, um mein eigenes Spiegelbild zu berühren, doch sowie ich das tue, falle ich und entferne mich immer weiter von meinem Spiegelbild. Ich falle und falle, bis ich das Geräusch von aufspritzendem Wasser höre, und wenn ich die Augen aufschlage, sehe ich einen fliehenden Fischschwarm. Nachdem sich die Fische entfernt haben, verstellt mir nichts mehr den Blick auf die gekrümmten Wurzeln einer umgestürzten Sumpfzypresse. Sie sehen aus wie die knorrigen Finger eines schlafenden Riesen. Sie jagen mir Angst ein, und ich wende mich ab, jedoch nur, um ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen.

Seine Augen sind groß, und sein Mund ist vor Erstaunen geöffnet, denn ihn überrascht es ebenso sehr wie mich, daß er sich hier unten aufhält. Ich versuche zu schreien, doch wenn ich das tue, strömt das Wasser in meine Lunge, und ich bekomme keine Luft mehr.

Und das ist der Moment, in dem ich aufwache.

Als ich kleiner war, sind Mommy oder Daddy oder gar alle beide angerannt gekommen, wenn ich japsend nach Luft geschnappt habe, aber schon seit Jahren gelingt es mir, Atem zu holen und den Mut aufzubringen, meinen Kopf in der Dunkelheit wieder auf das Kissen zu senken und zu versuchen, erneut einzuschlafen.

Heute nacht muß Mommy den Traum vorausgeahnt haben, denn schon wenige Momente, nachdem ich aufgeschrien hatte, stand sie in der Tür zu meinem Zimmer.

»Ist alles in Ordnung mit dir, Pearl?« fragt sie.

»Ja, Mommy.«

»Hast du wieder diesen Traum gehabt?«

»Ja, aber das macht nichts, Mommy. Mir fehlt wirklich nichts«, versichere ich ihr.

»Bist du ganz sicher, mein Schätzchen?« fragt sie und kommt näher.

Warum macht sie sich bloß solche Sorgen? frage ich mich. Kommt es daher, daß ich immer wieder diesen Traum habe?

»Wann wird Schluß damit sein, Mommy? Oder werde ich für alle Zeiten diesen Traum haben?«

»Ich weiß es nicht, mein Schatz. Hoffentlich nicht.« Sie wirft einen Blick auf die Tür. »Ich könnte versuchen, noch einmal eine Kerze für dich anzuzünden«, flüstert sie.

»Nein, Mommy. Ich danke dir, aber das ist nicht nötig.«

Früher einmal hat mein Traum sie in solche Verzweiflung gestürzt, daß sie zu einem der alten Voodoo-Zauber gegriffen hat, die sie von Nina Jackson gelernt hatte, der Köchin meines Großvaters Dumas, und Daddy ist wütend geworden.

»Mir fehlt wirklich nichts«, sage ich.

Sie streicht mir ein paar lose Strähnen aus der Stirn zurück und gibt mir einen Kuß.

»Was geht denn hier vor?« erkundigt sich Daddy, der in der Tür steht. Er bemüht sich, seine Stimme mürrisch klingen zu lassen, obwohl er es gar nicht so meint.

»Nichts weiter, Beau. Nur ein Gespräch unter Frauen.«

»Um drei Uhr morgens?« fragt er überrascht.

»Das ist das Vorrecht der Frauen.«

»Du meinst wohl, einen Mann um den Verstand zu bringen. Das ist das Vorrecht, das die Frauen für sich in Anspruch nehmen«, murrt er und geht wieder ins Bett.

Wir lachen. In mancher Hinsicht gehen wir mehr wie Schwestern miteinander um und nicht etwa wie Mutter und Tochter. Mommy sieht noch so jung aus, ganz und gar nicht wie eine Sechsunddreißigjährige, obwohl alle behaupten, es müßte einen schneller altern lassen, zwölfjährige Zwillinge um sich zu haben, und erst recht, wenn es Jungen sind.

»Träum etwas Schönes, mein Schatz. Träum von morgen. Von deiner wunderbaren Party. Träum davon, ins College zu gehen und all das zu tun, was du dir schon immer gewünscht hast.«

»Wird gemacht, Mommy. Mommy«, sage ich und packe eilig ihre Hände, als sie aufsteht.

»Was ist, Pearl, mein Liebling?«

»Wirst du mir mehr erzählen? Vielleicht wird der Alptraum nicht wiederkehren, wenn ich erst einmal mehr weiß.«

Sie nickt widerstrebend.

»Ich weiß, daß du glaubst, es sei schmerzlich für mich, diese Geschichte zu hören, und ich weiß auch, daß du nichts weniger willst, als mir weh zu tun, aber ich muß alles wissen, meinst du nicht auch, Mommy?«

»Doch«, räumt sie ein. »Du mußt es tatsächlich wissen.« Sie seufzt so tief, daß ich fürchte, ihr Herz könnte einen Sprung bekommen.

»Ich bin alt genug, um alles zu verstehen, Mommy. Ich bin inzwischen wirklich alt genug«, beteure ich.

»Ich weiß, daß du inzwischen alt genug bist, Schätzchen. Wir werden miteinander reden. Das verspreche ich dir.« Sie tätschelt meine Hand.

Ich schaue ihr nach. Als sie mein Zimmer jetzt verläßt, hängen ihre Schultern ein wenig herunter. Es ist mir verhaßt, sie traurig zu machen, und sei es auch nur für einen Moment, aber ich spüre den Sog der dunklen Vergangenheit fast so sehr, wie sich ein Nachtfalter von einer Kerzenflamme angezogen fühlt.

Ich hoffe – nein, ich bete –, daß ich im Gegensatz zu einem Nachtfalter nicht von der Flamme verzehrt werde.

Tödlicher Zauber

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