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1. KAPITEL Frühlingsversprechen

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Ich saß auf der Veranda vor der Hütte und las den Brief an meinen Vater immer wieder durch. Es war ein warmer Morgen im Mai, der Frühling ging schon langsam in den Sommer über. Anscheinend war die Welt in den Willies zusammen mit mir erwacht – den kalten, dunklen Winter voller Tod und Trauer verdrängte langsam die Wärme des Frühlings und schließlich der heiße Sommer. Die Meisen und Rotkehlchen sangen, sie hüpften von einem Zweig zum andern und ließen die Blätter leicht erzittern. Das Sonnenlicht bahnte sich seinen Weg durch die Äste, strahlende Bündel goldenen Lichtes fielen auf Birke und Walnußbusch. Die Blätter schimmerten durchsichtig, wo das Sonnenlicht sie traf. Die Welt sah strahlend und lebendig aus.

Ich atmete tief durch und genoß den süßen, frischen Duft der Blüten und der saftigen grünen Blätter. Der Himmel über mir war tiefblau, und kleine, weiße Wattewolken tanzten darauf herum wie Kinder beim Spielen.

Seit dem Tag, an dem ich nach Winnerow zurückgekehrt war, hatte sich Logan stets um mich gekümmert. Er war da in jenen schrecklichen Tagen nach dem Tod von Tom, als Pa im Krankenhaus war. Er war da, als Pa mit Stacie und dem kleinen Drake in sein eigenes Haus nach Georgia zurückkehrte. Er war da, als Großvater starb und mich in der Hütte, dem Haus meiner Kindheit, allein ließ, das ich nun renoviert und in ein gemütliches Heim verwandelt hatte. Er war da an dem Tag, an dem ich zum ersten Mal die mir liebgewordenen Schüler der Grundschule von Winnerow unterrichtete. Jetzt mußte ich lachen, wenn ich an diesen ersten Tag dachte, an dem ich meine Fähigkeiten erprobt hatte, eine Lehrerin zu werden, wie ich es mir immer erträumt hatte.

So wie an diesem Morgen und so, wie ich es seitdem jeden Morgen tat, war ich über die Schwelle der Hütte getreten, um einen Moment innezuhalten, mich in Großmutters alten Schaukelstuhl zu setzen und die Berge zu betrachten, ehe ich meinen langen Weg hinunter zur Schule antrat. Nur daß an jenem Morgen, als ich die Tür öffnete, Logan mit einem breiten, glücklichen Lachen an der Treppe stand. Seine dunklen Augen funkelten in der Morgensonne.

»Guten Morgen, Miss Casteel.« Er verbeugte sich tief. »Man hat mich gebeten, Sie zu Ihrem Klassenzimmer zu geleiten. Das ist ein besonderer Dienst der Schulverwaltung von Winnerow.«

»O Logan!« rief ich. »Du bist so früh aufgestanden, um mich hier abzuholen?«

»So früh war das gar nicht. Um die Zeit stehe ich immer auf und öffne den Drugstore. Er ist jetzt dreimal so groß wie zu unseren High-School-Zeiten«, sagte er stolz, »und er macht viel mehr Arbeit. Bitte, Miss Casteel«, fügte er hinzu und reichte mir die Hand. Ich ging die Stufen hinunter, nahm seine Hand, und zusammen gingen wir den Bergpfad entlang – genau wie damals, als wir verliebte Schulkinder gewesen waren.

Es war wirklich wie in früheren Tagen, als Logan und ich hinter Tom, Keith und Unserer-Jane hermarschiert waren, gefolgt von Fanny, die mit ihrem lockeren und lasziven Verhalten versuchte, Logan von mir fortzulocken, und die schließlich aufgab und davonrannte, wenn sie merkte, daß sie seine Aufmerksamkeit nicht auf sich lenken konnte. Fast schon konnte ich die Stimmen meiner Geschwister hören. Die Erinnerung trieb mir die Tränen in die Augen.

»Aber, aber«, sagte Logan, als er es bemerkte, »dies ist doch ein glücklicher Tag. Ich möchte dich lächeln sehen. Ich möchte das Echo von deinem Lachen durch die Berge hallen hören, so wie es früher war.«

»O Logan, ich danke dir. Hab Dank, daß du da bist und dich um mich kümmerst.«

Er blieb stehen, faßte mich bei den Schultern und drehte mich zu sich. Seine Augen blickten ernst und voller Liebe.

»Nein, Heaven. Ich muß dir danken und zwar dafür, daß du so schön und liebenswert bist wie in meiner Erinnerung. Es ist, als ob« – er suchte nach Worten – »als ob die Zeit für uns stillgestanden und alles, was seitdem mit uns geschehen ist, nur ein Traum gewesen wäre. Jetzt wachen wir auf, du bist wieder da, und ich bin bei dir und halte deine Hand. Ich werde sie nie mehr loslassen«, betonte er.

Ein Zittern lief durch meine Finger, die mit den seinen verschlungen waren; ein Beben des Glücks, das bis zu meinem Herzen strömte, so daß es klopfte wie damals, als ich zwölf Jahre alt war und er mich das erste Mal küßte. Ich wünschte, er würde mich jetzt küssen, und ich wäre wieder das gleiche unschuldige Mädchen von einst. Aber das war ich nicht, und er war auch nicht mehr der gleiche. Erst vor ein paar Monaten war das Gerücht aufgekommen, er habe die Absicht, Maisie Setterton zu heiraten. Aber Maisie hatte keine Bedeutung mehr für ihn, sobald ich aufgetaucht war.

Schweigend gingen wir den Weg entlang. Rotkehlchen und braungefleckte Spatzen folgten uns; behende hüpften sie durch die Schatten des Waldes, ohne daß sich ein Zweig zu bewegen schien.

»Mir ist klar«, sagte Logan nach einer Weile, »daß unser Leben sich sehr verschieden entwickelt hat seit damals, als ich dich von der Schule nach Hause begleitet habe. Unsere Versprechen wirken jetzt wie dumme Träume. Es wäre wunderschön, wenn unsere Liebe stark genug wäre, daß sie all die Schwierigkeiten und Tragödien überstanden hätte.«

Wir blieben stehen und schauten einander an. Ich wußte, daß er die Zweifel in meinen Augen lesen konnte.

»Logan. Wie gerne würde ich das glauben! Ich bin es müde, daß meine Träume sterben; Träume, die sich als Luftschlösser erweisen und wie Seifenblasen zerplatzen. Ich möchte wieder jemandem vertrauen können.«

»O Heaven, vertrau mir«, bat er und drückte meine Hände. »Ich werde dich nicht enttäuschen. Niemals!«

»Ich kann es ja versuchen«, flüsterte ich, und er lächelte. Dann küßte er mich. Dieser Kuß sollte sein Versprechen besiegeln. Doch mein ganzes Leben lang hatte ich erlebt, daß Versprechen gebrochen wurden. Logan spürte mein Zögern und meine Befürchtungen. Er nahm mich in die Arme.

»Ich werde dafür sorgen, daß du mir vertrauen kannst, Heaven. Ich werde dir alles geben, was ein Mann nur geben kann.« Er vergrub sein Gesicht in meinem Haar. Ich fühlte seinen Atem in meinem Nacken und spürte seinen wilden Herzschlag an meiner Brust. In diesem Wald, auf unserem alten Pfad, merkte ich, daß ich wieder zu hoffen wagte; ich wurde wieder empfindsam. Heaven Leigh Casteel, die als Kind so böse verletzt und als junges Mädchen mißhandelt und vergewaltigt worden war und der man als junger Frau das Herz gebrochen hatte, wandte sich hungrig dem Versprechen auf Glück zu.

»Ich glaube, mit der Zeit werde ich dir vertrauen können, Logan.«

»O Heaven, liebste Heaven, jetzt bist du wirklich nach Hause gekommen!« Logan küßte mich wieder und immer wieder.

Warum mußte ich dann, als er mich mit all seiner Leidenschaft und Liebe küßte, an Troy denken, an meinen verbotenen Geliebten, der jetzt tot war? Warum waren es Troys Lippen, die ich auf den meinen spürte? Warum war es der Geschmack von Troy, nach dem ich mich sehnte? Warum waren es die Arme von Troy, die mich umschlungen hielten?

Aber dann küßte Logan mich auf beide Augen, und als ich sie öffnete, blickte ich in sein junges, klares, liebevolles Gesicht, das die Tiefen der Angst und Verzweiflung, in denen Troy versunken war, nicht kannte. Plötzlich wußte ich in meinem Inneren, daß Logan mir genau das Leben geben würde, das ich mir wünschte und das meine Mutter sich gewünscht hatte: ein Leben voller Ruhe, Behaglichkeit und Ansehen.

Logan machte mir das ganze Schuljahr hindurch den Hof. Eines Tages klopfte er an die Tür meiner Hütte und sagte: »Ich habe eine Überraschung für dich, Heaven.«

»Willst du mich entführen?« Ich ging auf sein Spiel ein.

Er stellte sich hinter mich und legte seine sanften Hände vor meine Augen. »Laß sie zu, Heaven!« Dann nahm er meine Hand; ich stolperte hinter ihm her zu seinem Auto und fühlte mich sicher in Gegenwart seiner jungenhaften Begeisterung. Als wir davonfuhren, wehte mir ein frischer Wind ins Gesicht. Dann hielt der Wagen, Logan öffnete die Tür und faßte mich am Arm. »Steig aus, wir sind fast da«, sagte er und geleitete mich auf einen Bürgersteig.

Ich wußte sofort, wo wir waren, als er die Tür zum Drugstore öffnete, aber ich sagte es nicht. Natürlich hatte ich gleich den vertrauten Geruch nach Parfüm, Toilettenartikeln und Erkältungsmedizin erkannt. Ich wollte ihm seine gute Laune nicht verderben. Er setzte mich auf einen Hocker und werkelte hinter der Theke herum. Es schien mir fast, als wäre eine halbe Stunde vergangen, als ich seine fröhliche Stimme wieder vernahm; er schrie fast vor Aufregung: »Du kannst die Augen jetzt aufmachen, Heaven!«

Vor mir stand ein Märchenschloß – geformt aus Eis, Kirschen und Schlagsahne, alles wohlschmeckend und süß.

»Logan«, erklärte ich, »es ist wunderschön. Aber wenn ich das aufesse, wiege ich in einer Stunde dreihundert Pfund mehr als jetzt! Dann wirst du mich nicht mehr lieben.«

»Heaven« – seine Stimme wurde laut und rauh –, »meine Liebe zu dir ist nicht abhängig von Jugend und Schönheit. Aber dieses Kunstwerk ist nicht zum Essen gedacht. Ich wollte dir das süßeste und schönste Schloß bauen, das du je gesehen hast. Ich weiß, ich kann mit dem Reichtum der Tattertons und ihrem großen Herrensitz Farthinggale nicht konkurrieren. Aber deren Haus ist aus kaltem, grauem Stein gebaut, während meine Liebe zu dir so warm ist wie ein Frühlingsmorgen. Meine Liebe baut ein Schloß um dich herum, das besser ist als jedes Steinhaus, Heaven« – inmitten all der erstaunten Kunden im Drugstore kniete er nieder –, »Heaven, willst du meine Frau werden?«

Ich blickte ihm tief in die Augen und sah nur Liebe und Sanftmut darin. Ich wußte, er würde alles tun, um mich sehr, sehr glücklich zu machen. Was hatte ich von Leidenschaft – der Leidenschaft, die mir durch Troys Tod genommen worden war –, wenn ich statt dessen ein Leben voll warmer Liebe, Fürsorge und unermeßlicher Ergebenheit bekam? »Ja«, sagte ich, und meine Augen füllten sich mit Tränen. »Ja, Logan, ich will deine Frau werden.«

Plötzlich brach um uns herum Jubel los. Alle Kunden strahlten uns glücklich an, uns, das frischverlobte Paar. Logan wurde knallrot und ließ meine Hand los, gerade, als ich im Begriff war, ihn zu umarmen.

»Hier, Heaven«, sagte er und steckte mir eine Kirsche in den Mund, um seine Verlegenheit über das öffentliche Schauspiel, das wir boten, zu verbergen. Dann kniff er mich in die Wange. »Ich werde dich immer lieben«, flüsterte er.

So fand eine Liebe, die schon vor langer Zeit geboren worden war, endlich Erfüllung. Ich fühlte mich glücklicher und frischer als je zuvor in meinem Leben. Nun hatte ich mein Glück gefunden. Endlich konnte ich mir ein neues Leben schaffen, das so fest und solide war wie ein Baum, der auf festem Grund seine Wurzeln geschlagen hat. Es war, als beträte ich eine helle Lichtung und wüßte genau: Hier muß ich bleiben.

Nun sollte meine Kinderliebe die Liebe meines Lebens werden; und meine Träume wurden wahr. Wieder einmal war ich voller Glück und Zuversicht. Ich war wieder ein junges Mädchen, das hoffte, das sich öffnete und bereit war, sein zerbrechliches Herz zu verschenken. Auf dieser Lichtung, wo die Sonne warm und stark ist, werden Logan und ich wie zwei zarte Pflänzchen allmählich heranwachsen zu mächtigen Eichen, die auch die Stürme des Winters überstehen.

In den nächsten Wochen plante ich die Hochzeit. Diese Hochzeit war anders als die, die sonst in Winnerow üblich waren. Obwohl ich in den Bergen geblieben war und in einer Hütte lebte, fuhr ich ein teures Auto, trug feine Kleidung und verhielt mich wie eine vornehme, gebildete Dame. Zwar hatte ich die Chance gehabt, als Erbin der Tatterton-Spielzeugwerke ein Leben in Reichtum zu führen, doch für die Einheimischen war ich einfach nur die Casteel aus den Bergen. Vielleicht gefiel es ihnen, wie ich ihre Kinder unterrichtete, aber sie mochten es immer noch nicht, daß ich in der Kirche in der vordersten Bank saß.

Nachdem unser Verlobungsbild im »Winnerow Reporter« veröffentlicht worden war, schritten Logan und ich am folgenden Sonntag zusammen das Kirchenschiff entlang und zogen alle Blicke auf uns. Wir setzten uns in die erste Reihe, den Platz von Logans Familie, auf den ich mich allein nie zu setzen gewagt hätte. »Willkommen, Heaven«, sagte Mrs. Stonewall ein bißchen nervös und übergab mir das Gebetbuch. Logans Vater nickte einfach mit dem Kopf. Als wir aufstanden, um zu singen, sang ich stolz und laut, so daß meine Stimme, die Stimme aus den Bergen, kräftig durch die Kirche hallte. Nach dem Gottesdienst begrüßte ich Reverend Wise mit einem Lächeln, das zeigen sollte, daß ich all seine Prophezeiungen Lügen strafen würde.

»Heaven, ich wußte gar nicht, daß du so eine schöne Singstimme hast«, sagte Logans Mutter zu mir. »Ich hoffe, du kommst in unseren Frauenchor!«

Da wußte ich, daß sie sich entschlossen hatte, mich zu akzeptieren. Und ich wußte auch, daß ich dafür sorgen würde, daß die anderen dasselbe taten. Ich würde ihnen die Augen öffnen, und sie würden erkennen, wie ehrlich und fleißig die Menschen aus den Bergen waren.

Aus diesem Grund plante ich eine besondere Hochzeit. Logan versuchte das so gut wie möglich zu verstehen und stellte sich sogar gegen die Einwände seiner Eltern. Ich war ihm so dankbar! Er hatte seinen Spaß daran zu verfolgen, auf welche Weise ich die Leute aus Winnerow mit denen aus den Bergen zusammenbringen wollte. Ich hatte beschlossen, daß es das schönste Hochzeitsfest werden sollte, das Winnerow je gesehen hatte. Wenn ich auf den Altar zuschreiten würde, sollten die Leute nicht einfach denken, ich sei ein Emporkömmling; ich war jemand, der genauso gut war wie sie. Ich erinnerte mich daran, wie ich vor Jahren mit Juwelen behängt durch die Kirche geschritten war, als wäre ich einem Modeheft entstiegen. Trotz meiner großartigen Aufmachung hatten die Leute aus dem Ort die Nase über mich gerümpft. Die Leute aus den Bergen gehörten in die hinteren Reihen, und die, die für Gott wertvoller waren, kamen nach vorn.

Meine Hochzeit sollte anders werden. Ich lud viele Familien aus den Bergen ein. Alle Kinder aus meiner Klasse sollten kommen. Meine Schwester Fanny sollte meine Brautjungfer werden. In den letzten zwei Jahren, seit ich nach Winnerow zurückgekehrt war, hatte ich Fanny nicht sehr oft gesehen. Es schien, als könne Fanny ihre Eifersucht und ihren Neid nicht aufgeben – obwohl ich, wie immer, alles versucht hatte, ihr zu helfen. Logan hielt mich über Fannys Affären und Aktivitäten auf dem laufenden. Offensichtlich wurde in Winnerow häufig über sie geklatscht. Seit ihrer Scheidung von dem alten Mallory tuschelte man über ihre Beziehung zu einem viel jüngeren Mann, Randall Wilcox, dem Sohn des Rechtsanwalts. Randall war erst achtzehn und seit einem Jahr auf dem College, Fanny dagegen war eine geschiedene Frau von zweiundzwanzig Jahren.

Eine Woche, nachdem wir unsere Verlobung bekanntgegeben hatten, fuhr ich hinauf zu dem Haus, das Fanny von dem Geld des alten Mallory gekauft hatte. Das Haus lag oben auf einem Berg, war grellrosa gestrichen und hatte rote Fensterrahmen. Ich hatte mit Fanny seit über einem Jahr nicht mehr gesprochen. Damals hatte sie mir vorgeworfen, ich würde ihr alles wegnehmen, was ihr gehörte. In Wirklichkeit aber war sie es, die ständig versucht hatte, alles zu stehlen, was mir gehörte, besonders Logan.

»Das ist aber eine Überraschung«, rief sie in dramatischer Übertreibung aus, als sie die Tür öffnete. »Fräulein Heaven höchstpersönlich kommt auf Besuch zu ihrer armen Schwester aus dem Volk.«

»Ich bin nicht gekommen, um mit dir zu streiten, Fanny. Ich bin viel zu glücklich, um mich über irgend etwas aufzuregen.«

»So?«

Sie setzte sich schnell auf die Couch. Ich merkte, daß sie neugierig wurde.

»Logan und ich werden im Juni heiraten.«

»Stimmt das?« fragte sie ungläubig. Sie sackte sichtlich in sich zusammen.

Warum konnte sie sich nicht einmal mit mir freuen?

»Du weißt doch, daß wir uns wieder getroffen haben.«

»Ich kann doch nicht alles wissen! Du kommst ja nie vorbei, und reden tun wir erst recht nicht miteinander.«

»Du weißt genau, was in Winnerow passiert, Fanny. Aber wie dem auch sei – möchtest du meine Brautjungfer werden?«

»Wirklich?« Ihre Augen leuchteten auf. Dann sah ich das böse Feuer in ihnen zurückkehren. »Ich kann es jetzt noch nicht sagen, Heaven, Liebste. Ich bin ziemlich eingespannt. An welchem Tag genau ist deine Hochzeit?«

Ich sagte es ihr.

»Nun« – Fanny tat so, als müsse sie nachdenken –, »ich hatte an dem Wochenende eigentlich schon was vor. Weißt du, mein neuer Freund geht viel mit mir aus, auf College-Feten und so. Vielleicht kann ich alles verschieben. Wird es eine vornehme Hochzeit?«

»Das kann man wohl sagen!«

»Hast du vor, deiner lieben Schwester ein vornehmes, teures Kleid zu kaufen? Und fährst du mit mir in die Stadt, um es auszusuchen?«

»Ja.«

Sie dachte einen Augenblick lang nach.

»Kann ich Randall Wilcox mitbringen?« fragte sie. »Du weißt vielleicht schon, daß wir zusammen sind. Weißt du, er sieht im Frack einfach umwerfend aus. Die Männer kommen doch im Frack, oder?«

»Ja, Fanny, wenn du es gern möchtest. Ich schicke ihm eine Einladung.«

»Ja, das möchte ich gern«, sagte sie.

Und so wurde es gemacht.

Meine Einladung an Pa war die letzte, die ich losschickte. Ich ging den Bergpfad ein bißchen früher hinunter als gewöhnlich, so daß ich es vor meinem letzten Unterrichtstag noch schaffte, auf die Post zu gehen. Ich glaube, ich war genauso aufgeregt wie damals, als ich mich auf den Weg machte, um das erste Mal vor den Schülern zu stehen. Als ich mein Klassenzimmer betrat, schauten mich die Kinder erwartungsvoll an. Selbst diejenigen, die sonst traurig und müde aussahen, wirkten an diesem Morgen frisch und fröhlich. Ich merkte, daß sie einen Plan hatten.

Patricia Coons meldete sich.

»Ich habe etwas für Sie, Miss Casteel«, erklärte sie schüchtern.

»Ja?«

Patricia stand langsam auf und kam nach vorn, stolz darauf, die Vertreterin der Klasse zu sein. Sie trat verlegen von einem Fuß auf den anderen und biß auf ihre bereits abgekauten Nägel.

»Wir wollen Ihnen dies hier geben, bevor Sie all die anderen Hochzeitsgeschenke kriegen«, sagte sie. »Das ist von uns allen«, fügte sie hinzu, als sie mir ein Päckchen überreichte, das in feines blaues Papier eingewickelt und mit einer rosa Schleife verziert war. »Wir haben das Papier bei Ihrem Verlobten, ich meine, bei Mr. Stonewall, gekauft«, sagte sie und lachte.

»Danke. Euch allen vielen Dank!«

Ich wickelte das Päckchen aus. Zum Vorschein kam ein wunderschön gearbeitetes Stickbild in einem üppigen Eichenrahmen. Es zeigte meine Hütte in den Willies und trug den Spruch:

TRAUTES HEIM, GLÜCK ALLEIN. ALLES GUTE, IHRE KLASSE

Für einen Augenblick verschlug es mir die Sprache. Aber ich wußte, daß all die fröhlichen, glücklichen Augen der Kleinen auf mich gerichtet waren.

»Ich danke euch, liebe Kinder«, sagte ich. »Ganz gleich, was ich noch an Geschenken bekomme, keines wird mir so teuer sein wie das von euch!«

Und das war wahr.

Die Zeit zwischen meinem letzten Arbeits- und meinem Hochzeitstag kam mir endlos vor. Minuten wirkten wie Stunden und Stunden wie Tage, weil ich es nicht abwarten konnte. Selbst die ganzen Planungen und Vorbereitungen ließen die Zeit nicht im Fluge vergehen, wie ich eigentlich gehofft hatte. Die Vorfreude steigerte meine Aufregung immer mehr. Logan verbrachte seine ganze Freizeit mit mir.

Bald schon kamen die Zusagen auf unsere Einladungen. Ich hatte mit Tony Tatterton nicht mehr gesprochen seit dem Tag, an dem ich Farthinggale verlassen hatte. Es war der Tag gewesen, an dem ich erfuhr, daß Troy tot war. Einerseits konnte ich ihm nicht vergeben, was mit Troy geschehen war; andererseits hatte ich eine furchtbare Angst vor dem, was ich damals erfahren und was Troy in den Tod getrieben hatte. Ich wußte, ich würde nie mehr Troys Stimme hören können, ohne auch das vertraute Timbre meiner eigenen Stimme wahrzunehmen. Das, was ich über Tony und meine Mutter erfahren hatte, ließ mir noch immer, zwei Jahre danach, einen Schauer über den Rücken laufen. Ich hatte so lange mit der Lüge gelebt, daß ich von Pas Fleisch und Blut war. Pa, der mich zurückgewiesen hatte, wann immer ich mich an ihn wandte, nach dessen Liebe ich mich verzehrte. Und dann mußte ich herausfinden, daß Pa, wenn er mich ansah, den früheren Liebhaber meiner Mutter sah, ihren Stiefvater, meinen Vater, der auch mein Großvater war – Tony Tatterton.

Dieses Wissen ängstigte mich bis ins Mark, nicht nur wegen der Falschheit und Geschmacklosigkeit, die dahintersteckte, sondern auch, weil es einiges aussagte über meine Anlagen. Ich traute mich nicht, es Logan zu sagen. Solche verachtenswerten Verhaltensweisen würden seine Hochachtung vor den Reichen, die die Welt regieren, erschüttern. Aber das war nicht alles. An jenem letzten Tag am Strand, nachdem Tony mir von Troys schrecklichem Tod erzählt hatte, sah er mich mit einem Blick an, der alle Trauer hinter sich ließ, einem Blick, der reines Verlangen ausdrückte, so daß ich wußte, ich mußte mich von ihm fernhalten. Das war der Grund, weshalb ich seine Anrufe nicht annahm, weshalb sich seine Briefe unbeantwortet auf meinem Schreibtisch stapelten. Deshalb war es Pa, den ich als meinen Brautführer haben wollte, und nicht Tony. Denn trotz allem, und obwohl ich jetzt wußte, daß Pa nicht mein richtiger Vater war, verlangte ich immer noch nach seiner Liebe. Von der Tonys hatte ich schon mehr als genug.

Aber da ich nicht wollte, daß Logan von meiner beschämenden Herkunft erfuhr, hatte ich pflichtbewußt Tony zur Hochzeit eingeladen. Tony, der schlaue Fuchs, antwortete nicht mir, sondern Logan. Er erklärte, daß Großmutter Jillian so krank sei, daß er sie nicht allein lassen konnte. Aber er bestand darauf, daß wir nach Farthinggale kämen, wo er einen feinen Empfang für uns ausrichten würde. Logan war über diese Einladung so aufgeregt, daß er sofort versprach, wir würden vor unserer Hochzeitsreise nach Virginia für vier Tage nach Farthy kommen. Anschließend wollten wir in der Hütte leben, bis wir ein eigenes schönes Haus am Rande von Winnerow gebaut hatten.

Aber nicht alle unsere Pläne fügten sich so gut ineinander. Am Morgen unserer Hochzeit klopfte es an die Tür meiner Hütte. Ich war die ganze Nacht wach gewesen, zu nervös und aufgeregt, um schlafen zu können. Noch im Nachthemd ging ich zur Tür, wo der Briefträger mit einem Eilbrief wartete.

»Guten Morgen«, sagte er. »Bitte hier unterschreiben.«

Tatsächlich war es ein guter Morgen, nicht nur, weil es mein Hochzeitstag war. An dem strahlend blauen Sommerhimmel war keine Wolke zu sehen. Das war heute mein Tag. Gott hatte auf mich herabgelächelt und mir diesen schönen Tag geschenkt, alle Schatten fortgewischt und nur das Sonnenlicht gelassen. Mein Herz war voller Freude, ich hätte den Briefträger umarmen können.

»Vielen Dank«, sagte er, als ich ihm die Unterschrift gab. Dann lächelte er und tippte an seinen Mützenrand. »Und ich wünsche Ihnen alles Gute. Ich weiß, daß Sie heute heiraten.«

»Danke schön.« Meine Augen folgten ihm, als er zu seinem Jeep ging. Als er wendete und die Straße hinunterfuhr, winkte ich. Dann schloß ich die Tür und ging zum Küchentisch, um den Eilbrief zu öffnen. Sicher war es ein Glückwunsch. Vielleicht war er von Tony, der sich in letzter Minute doch noch entschlossen hatte zu kommen.

Ich riß den Umschlag auf und faltete den kleinen Bogen auseinander. Was ich las, ließ mich unsanft auf die Erde zurückkehren. Ich setzte mich langsam hin, mein Herz dröhnte wie eine dumpfe Trommel in meiner Brust. Das Lachen, das auf meinen Lippen gelegen hatte, war verflogen. Meine Augen füllten sich mit Tränen, und die Buchstaben des Briefes verschwammen vor meinen Augen.

Liebe Heaven!

Aus geschäftlichen Gründen, die den Zirkus betreffen, ist es mir nicht möglich, zu Deiner Hochzeit zu kommen. Stade und ich wünschen Dir und Logan alles Gute.

Dein Pa

Eine Träne fiel auf das Papier und hinterließ eine zerstörerische Spur auf Pas Worten. Ich knüllte den Brief zusammen und ließ meinen Tränen freien Lauf. Sie liefen über meine Wangen und hinterließen einen salzigen Geschmack auf den Lippen.

Ich weinte, weil ich gehofft hatte, meine Hochzeit würde Pa und mich auf eine neue Weise zusammenbringen. Obwohl es Logan gewesen war, der mich überredet hatte, ihn einzuladen, war es immer ein geheimer Herzenswunsch für mich gewesen. Ich hatte mir so oft vorgestellt, wie er neben mir stehen würde in seinem Frack, schlank und gutaussehend, wie er meine Hand halten und die Worte sprechen würde: »Ich werde es tun!«, nachdem der Reverend gefragt hatte: »Wer übergibt die Braut?«

Meine Hochzeit sollte ein Fest der Vergebung werden. Er sollte mir vergeben, daß ich durch meine Geburt die Ursache für den Tod seines Engels Leigh geworden war. Ich dagegen war bereit, Toms Ansicht zu übernehmen, daß Pa uns verkauft hatte, weil er nicht in der Lage war, für uns zu sorgen, und nur das Beste für uns gewollt hatte.

Und nun sollte nichts von alldem stattfinden.

Ich holte tief Luft und wischte meine Tränen fort. Ich kann es nicht ändern, dachte ich. Ich mußte mich auf Logan und unsere Hochzeit konzentrieren. Ich hatte keine Zeit für Selbstmitleid oder Ärger.

Eine Stunde vor der Trauung kamen meine Schwester Fanny und Randall Wilcox, um mich zur Kirche zu bringen. Randall war ein höflicher, schüchterner junger Mann mit karottenroten Haaren, milchweißer Haut und winzigen Pickeln auf der Stirn. Aber er hatte leuchtend blaue Augen, die wie Kristall funkelten. Ich hatte eigentlich vermutet, daß er älter aussehen würde, als er war. Doch Randall wirkte frisch und unschuldig und folgte Fanny wie ein Hündchen.

»Mensch, Heaven Leigh Casteel, du siehst richtig jungfräulich aus heute morgen!« rief Fanny und hakte sich bei Randall unter, so daß sie sich besitzergreifend an ihn pressen konnte. Sie hatte ihr pechschwarzes Haar toupiert und verwuschelt und sah wie eine billige Dirne aus. Ich hatte ihr vorgeschlagen, ihr Haar aufzustecken, weil ich schon befürchtet hatte, daß sie etwas in dieser Art damit machen würde.

»Das stimmt doch, Randall, oder?« fragte Fanny.

Er blickte schnell von ihr zu mir; er wünschte wohl, nicht in Fannys Sarkasmus einbezogen zu werden.

»Sie sehen gut aus«, sagte Randall leise und diplomatisch.

»Danke, Randall.«

Fanny lächelte gekünstelt. Ich schaute noch einmal in den Spiegel, strich einige Haarsträhnen glatt und schloß meine Gürtelschnalle.

»Ich bin bereit«, sagte ich.

»Ja, das bist du«, sagte Fanny. »Du warst immer schon bereit für diesen Tag«, fügte sie traurig hinzu. Für einen Augenblick tat sie mir leid, obwohl sie so unverhüllt eifersüchtig war. Fanny wollte immer Aufmerksamkeit und Liebe, aber die Art, wie sie beides zu bekommen versuchte, war falsch. Das würde vielleicht immer so bleiben.

»Fanny, das Kleid steht dir sehr gut«, sagte ich versöhnlich. Wir waren in die Stadt gefahren und hatten ein hellblaues Kleid mit weitem Rock für Fanny als Brautjungfer ausgesucht. Aber sie hatte daran Änderungen vorgenommen. Sie hatte den Ausschnitt vergrößert, so daß man ihren Brustansatz sehen konnte, und das Oberteil enger gemacht. Es schmiegte sich nun hauteng an ihren Körper.

»Wirlich? Meine Figur ist wieder gut, nicht wahr?« sagte sie und ließ ihre Hände von ihren Hüften nach oben bis zu ihren Brüsten gleiten. Dabei sah sie Randall lasziv an. Er errötete. »Selbst durch das Kinderkriegen habe ich meine gute Figur nicht verloren wie so viele Frauen.« Sie wandte sich an mich. »Randall kennt das kleine Geheimnis mit Darcy. Paß auf, Süße, daß nicht bald eine kleine Meute von Stonewalls deine Figur ruiniert!«

»Ich will so schnell keine Kinder haben, Fanny«, erklärte ich.

»So? Vielleicht hat Logan Stonewall da andere Vorstellungen. Maisie Setterton erzählte, er würde immer davon reden, daß er einmal eine große Familie haben wollte. Das stimmt doch, nicht wahr, Randall?«

Ich wußte, Fanny brachte Maisie Setterton ins Gespräch, um mich eifersüchtig zu machen.

»Nun, ich habe nicht genau...«

»Ist schon gut, Randall«, sagte ich schnell. »Fanny sagt das nicht, um mich zu ärgern, nicht wahr, Fanny?«

»Nein, natürlich nicht«, stotterte sie. »Ich erzähle dir nur, was Maisie gesagt hat.«

»Aha!« Randall fing an zu lachen. Fanny merkte, daß wir über sie lachten.

»Aber sie hat es gesagt«, beharrte sie. »Und wenn sie es mir nicht erzählt hat, dann war es jemand anders.« Ihr Lächeln wurde gekünstelt. »Egal. Mich erstaunt übrigens immer noch, daß du den Reverend die Trauung durchführen läßt.«

»Ich habe da meine Gründe.« Insgeheim mußte ich lächeln. Fanny kannte diese Gründe. Reverend Wise hatte Fanny damals von Pa gekauft, sie zu sich genommen, sie geschwängert und dann das Kind als das von sich und seiner Frau ausgegeben. Ich hatte versucht, für Fanny das Kind zurückzukaufen, doch es war mir nicht gelungen. Fanny hatte mir meinen Mißerfolg nie vergeben. So teilten wir das dunkle Geheimnis der Herkunft des kleinen Mädchens. Nun wollte ich, wenn Logan und ich uns unser Jawort gaben, in die Augen von Reverend Wise schauen. Ich wollte die Worte ausbrennen, die er zu mir gesagt hatte, als ich zu ihm kam und Fannys Kind verlangte. Als wir uns stritten, hatte ich gesagt: »Sie kennen mich nicht.«

Seine Augen hatten sich zu Schlitzen verengt und im Schatten seiner Lider geblitzt, als er sagte: »Du irrst dich, Heaven Leigh Casteel. Ich kenne dich sehr gut. Du bist der allergefährlichste Typ von Frau, den es auf der Welt gibt. Ein Mann wird dich lieben, weil du so schön bist, weil du einen solch verführerischen Körper hast, aber du wirst ihn hintergehen, weil du immer Angst hast, daß er dich hintergeht. Du bist eine Idealistin von der schlimmsten Sorte – eine Romantikerin. Geboren, um andere und dich selbst zu zerstören.«

Ich wollte, daß er die andere Heaven Leigh Casteel sah. Er sollte erkennen, daß seine Voraussagen falsch, seine sündigen Weissagungen arrogant gewesen waren.

»Du hast vielleicht deine Gründe«, grinste Fanny. »Aber ich versichere dir, der Reverend zieht eine große Nummer ab, wenn er dich und Logan traut. Ich kann es kaum abwarten.«

»Gehen wir?« fragte ich.

Der Gottesdienst war so, wie ich es mir erträumt hatte. Fast alle, die wir eingeladen hatten, waren auch da. Vier von meinen Schülern waren Ordner. Ich hatte sie ausdrücklich angewiesen, die Gäste in der Reihenfolge, wie sie eintrafen, zu ihren Plätzen zu führen. Damit umging ich ein ungeschriebenes Gesetz der Kirche. So saßen Leute aus den Bergen vorne zusammen mit Leuten aus der Stadt. Andere Stadtleute waren gezwungen, hinten mit denen aus den Bergen zu sitzen.

Die Leute aus den Bergen lachten mich alle an mit Gesichtern voller Stolz und Begeisterung. Die Stadtleute schauten würdig, doch mit innerer Zustimmung. Schließlich heiratete ich Logan Stonewall und vollzog damit in ihren Augen die vollständige Verwandlung von einem hinterwäldlerischen Bergmädchen zu einem anständigen Mädchen aus der Stadt. Ich würde aus der Hütte in ein Haus in der Stadt ziehen. Man konnte es ihnen ansehen – sie dachten, mit der Zeit würde ich die Leute aus den Bergen vergessen. Ich hatte ihre Achtung gewonnen, aber sie verstanden mich nicht. Sie dachten, ich hätte alles nur getan, um eine der Ihren zu werden.

Logans Vater stand am Platz des Trauzeugen. Dort, wo eigentlich Tom, mein lieber verstorbener Bruder, hätte stehen sollen. Mein Herz klopfte, und meine Augen füllten sich mit Tränen, sobald ich an seinen traurigen Tod in den Fängen einer entsetzlichen Bestie dachte. Außer Fanny, die vor mir her stolzierte, ihre Haare schüttelte, anzüglich die Schultern rollte und jedem Mann in der Kirche schöne Augen machte, war niemand von meiner Familie anwesend. Grandpa war tot. Luke und seine neue Frau hatten mit dem Zirkus zu tun. Keith und Jane waren im College und nicht so vertraut mit mir, wie ich es gern hätte. Meine richtige Großmutter war in Farthy, verfangen in ihrer Vergangenheit, debil vor sich hin brabbelnd. Tony war der Kopf der Tatterton-Spielzeugwerke und vielleicht voll Trauer an diesem Tag, da ich nun einem anderen Mann gehören sollte und nicht ihm.

Reverend Wise, groß und eindrucksvoll wie immer auf der Kanzel, hob seine Augen von der Bibel und schaute mich an. Sein flotter, schwarzer maßgeschneiderter Anzug stand ihm gut und ließ ihn schlank aussehen, wie damals, als wir ihn zum ersten Mal gesehen hatten.

Einen Augenblick lang hatte ich Angst vor ihm, doch dann richtete ich meinen Blick auf Logan, und die ganzen traurigen Erinnerungen waren ausgelöscht. Es war, wie wenn ein bewölkter Tag plötzlich sonnig wurde. Das war meine Hochzeit, der Tag, der mir gehörte, wo ich der Mittelpunkt war. Und dort stand Logan, besser aussehend, als ich es mir je hätte vorstellen können, und wartete darauf, daß ich meine Hände – ja mein Leben – in seine Hände legte.

Wie wunderbar ist doch eine Hochzeit von zwei Menschen, die sich ernsthaft lieben, dachte ich. Es war heilig, es war kostbar, und ich fühlte mich, als würde ich auf Wolken gehen. Ich erinnerte mich an die Nächte, in denen ich den Sternenhimmel angesehen und gewünscht hatte, Logan und ich wären Prinz und Prinzessin. Dann war er tatsächlich in mein Leben getreten, wie ein Ritter in glänzender Rüstung aus einem Märchen, und hatte mir sein Leben geweiht. Ich war davon überzeugt, daß wir für einander bestimmt waren.

Das Herz flatterte mir in der Brust. Mein Gesicht unter dem Schleier überzog sich mit einer feinen Röte.

Reverend Wise blickte mich schweigend an. Dann hob er seine Augen zur Kirchendecke und begann:

»Lasset uns beten. Lasset uns danken. Denn der Herr war großmütig. Er hat uns gegeben, daß unsere Herzen sich mit Freude füllen. Eine Hochzeit ist ein neuer Anfang, der Anfang eines neuen Lebensabschnitts und eine Gelegenheit, Gott auf neuen Wegen zu dienen. Dies gilt vor allem für Logan Stonewall und Heaven Leigh Casteel.«

Er wandte sich an Logan. »Logan Stonewall«, sprach er feierlich, »willst du diese Frau, Heaven Leigh Casteel, zu deiner gesetzmäßigen Ehefrau nehmen, sie schützen und bewahren in guten wie in schlechten Zeiten, in Krankheit und bei Gesundheit, in Reichtum und in Armut, bis daß der Tod euch scheidet?«

Logan drehte sich zu mir, sein Gesicht und seine Augen beteten mich an. »Von ganzem Herzen will ich!« erklärte er.

»Heaven Leigh Casteel« – Reverend Wise wandte sich nun mir zu –, »willst du diesen Mann, Logan Stonewall, zu deinem rechtmäßigen Ehemann nehmen, ihn schützen und bewahren in guten wie in schlechten Zeiten, in Krankheit und bei Gesundheit, in Reichtum und in Armut, bis daß der Tod euch scheidet?«

Ich schaute Logan in die Augen und flüsterte: »Ich will!«

»Wer hat die Ringe?« fragte Reverend Wise.

Fanny stürzte vor: »Ich, Reverend, ich habe sie«, säuselte sie und hob beide Handflächen nach oben – auf jeder lag ein Ring. Dann beugte sie sich vor und gab Logan und mir die Ringe.

Logan lächelte mich an mit dem freundlichsten aller Lächeln, als er den mit Diamanten besetzten Ehering über meinen Finger streifte. »Mit diesem Ring nehme ich dich zur Frau«, sagte er.

Dann nahm ich ihn zum Mann.

»Kraft meines Amtes erkläre ich euch für Mann und Frau«, sagte nun der Reverend. »Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht trennen. Du darfst die Braut jetzt küssen, Logan.«

Logan küßte mich mit mehr Leidenschaft, als er jemals zuvor gezeigt hatte. Dann gingen wir Arm in Arm den Kirchengang entlang. Als wir aus der Kirchentür traten, rief der Reverend: »Meine Damen und Herren, begrüßen Sie Mr. und Mrs. Stonewall!«

Plötzlich wurden wir von allen umringt, besonders von den Leuten aus der Stadt. Es war, als hätten mich der Gottesdienst, die Ringe und der Ausruf des Reverends in eine der Ihren verwandelt.

Abseits der Kirche war eine Tanzfläche aufgebaut, es begann die Kapelle einen fröhlichen Walzer zu spielen. Nachdem uns alle gratuliert hatten, erwartete man, daß wir den Tanz eröffneten. Ich sah die Leute aus den Bergen im Hintergrund stehen, unsicher und unentschlossen. Ich konnte ihre Nervosität spüren, als sie unter all den vornehmen Hochzeitsgästen standen. Ich küßte Logan auf die Wange und sagte: »Warte einen Moment, Liebster.« Dann ging ich zu dem Geiger, der einer der Besten seiner Zunft war, und sagte: »Spielen Sie doch bitte einen richtigen Ländler.« Und als das Stück begann, konnte ich um mich herum das Klatschen und Stampfen der Leute aus den Bergen hören. Ich umfaßte meinen Mann, und als die Erinnerung an die Zeit in den Hügeln mich überkam, gab ich mich der Musik meiner Heimat hin, dem Rhythmus der Willies.

Die Stadtleute traten einer nach dem anderen zurück, während die Leute aus den Bergen sich unserem Tanz anschlossen. Logan wurde mir von einer meiner hübschen Schülerinnen abgenommen. Mich umfaßte mein alter Nachbar Race McGee. Dann zogen die Leute aus den Bergen die Stadtleute mit in den Tanz. Niemals zuvor war ich so glücklich gewesen. Jedermann war am Lachen, am Klatschen, am Tanzen. Endlich waren die Willies und Winnerow eins geworden.

Plötzlich sah ich, wie Fanny in ihrem hautengen blauen Kleid über den Tanzboden kam und Logans Partnerin auf die Schulter klopfte. »Mach Platz für die Schwägerin. Er hat nur die eine.« Fanny rief so laut, daß alle es hören konnten. Sie legte ihre Arme Logan um den Hals, drückte ihren Busen an seine Brust und wirbelte den verdutzten Logan über den Tanzboden. Als das Lied zu Ende war, verkündete sie: »Ich glaube, jetzt bin ich dran, den Bräutigam zu küssen.« Dann sah ich, wie sie ihn küßte.

Schließlich befreite sich Logan fast mit Gewalt aus ihrer Umklammerung. Fannys Lachen übertönte die Musik und ließ es in meinen Ohren wie Alarm klingeln. Ich hörte es, und ich merkte es mir. Doch heute war mein Tag, und nichts und niemand, auch nicht Fanny, sollte ihn verderben.

Gebrochene Schwingen

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