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4. KAPITEL Der große Empfang
ОглавлениеWie aufgereiht standen die Limousinen auf der Auffahrt von Farthinggale. Es waren Cadillacs, Lincolns, Rolls-Royce- und Mercedes-Limousinen. Tony hatte sich selbst übertroffen und alle wichtigen Geschäftsleute und Politiker aus der Gegend eingeladen. Ich wußte, daß alles, was er Logan und mir bis jetzt präsentiert hatte, bescheiden war im Verhältnis zu dem, was jetzt kommen würde.
Jedes Mädchen träumt von einem großen Empfang zu seiner Hochzeit. Und was ich hier zu sehen bekam, diese Extravaganz, hinter der meine ausschweifendsten Träume weit zurückblieben, ließ all meine dunklen Gedanken über Tony verschwinden. Es machte mir klar, wie unglaublich glücklich ich doch war. Ich hatte viel, für das ich dankbar sein mußte. Zu wissen, daß dieser ganze Überfluß, daß all diese gutgekleideten Leute mit ihren teuren Autos gekommen waren wegen Logan und mir, erfüllte mich mit einer Freude, die ich kaum ertragen konnte.
Plötzlich sah ich, wie Keith und Unsere-Jane aus einem schwarzen Auto stiegen. Mit ausgestreckten Armen lief ich auf sie zu. Jane war inzwischen eine überwältigend aussehende Achtzehnjährige. Sie war nur ein paar Zentimeter kleiner als ich, hatte aber eine vollere Figur. Ihr ungebändigtes, rotblondes Haar umrahmte ein zartes ovales Gesicht. Daraus leuchteten türkisfarbene Augen so sanft, so verwundbar, daß bei ihrem Anblick auch der zynischste Mann in einen stammelnden Schuljungen verwandelt wurde.
»Heaven«, rief sie. »Heaven, ich bin so glücklich für dich.«
Auch Keith sah sehr gut aus. Er war so groß wie Pa. Sein braunes Haar war dicht und voll, seine bernsteinfarbenen Augen leuchteten. So gutaussehend und braungebrannt, entsprach er ganz der Vorstellung, die man sich von einem Harvard-Studenten machte.
»Ich gratuliere dir, große Schwester.« Er grinste und schob sich dann wieder seine Pfeife in den Mund. Was war Keith doch für ein stattlicher, selbstbewußter junger Mann geworden! Ich wußte, daß er ein ausgezeichneter Student war und sowohl Mitglied der berühmten Rudergruppe als auch des erfolgreichen Debattierclubs. Wenn ich die beiden so ansah, konnte ich mir kaum vorstellen, daß sie einst an mir hingen wie zwei kleine Äffchen mit bleichen Gesichtern und dicken Ringen unter den Augen. Es war mir fast unmöglich, mich an ihre zarten, kleinen Stimmen zu erinnern; wie sie: »Hev-lee, Hev-lee« riefen, wenn sie nach etwas zu essen verlangten in der Zeit, wo Tom und ich Vater und Mutter für sie sein mußten. Vielleicht war es gut, daß es mir schwerfiel, mich an diese harte Zeit zu erinnern, dachte ich. Es war sicher das Beste so. Ich wünschte, es wäre genauso schwer, mich an andere, ebenfalls sorgenvolle Zeiten zu erinnern.
»Wir wußten immer, daß ihr zwei eines Tages heiraten würdet«, sagte Jane. »Es ist alles so romantisch. Ihr zwei seid einfach für einander bestimmt. Heaven, ich... ich bin so glücklich für dich. Ich kann mir vorstellen, ganz Winnerow hat sich den Mund zerrissen, als es bekannt wurde.«
»Wie sieht es in Winnerow aus?« fragte Keith mit einem kleinen Grinsen. Er hatte keine guten Erinnerungen daran, und so fühlte er auch kein Verlangen zurückzukehren, nicht einmal zu einem kurzen Besuch.
»Es ist immer das gleiche«, sagte Logan, der plötzlich an meiner Seite aufgetaucht war. Er sah in seinem Frack sehr stattlich aus. Er hatte eine weiße Nelke ins Knopfloch gesteckt.
»Logan Stonewall«, rief Jane aus. »Wie gut du aussiehst!«
»Und wie groß und wie schön du geworden bist, Unsere-Jane«, antwortete er ihr.
»So ruft mich jetzt niemand mehr«, sagte sie und wurde rot.
Logan wandte sich an Keith. »Du bist sicher noch gewachsen, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe. Heaven hat mir immer von deinen Leistungen am College erzählt. Sie ist sehr stolz auf dich. Stolz auf euch beide. Wir brauchen bald junge Männer wie dich in Winnerow. Es wird sich dort einiges grundlegend ändern.«
»Ja?« fragte Keith.
»Wir sprechen später darüber«, sagte Logan. »Jetzt hole ich uns erst einmal Champagner und etwas zu essen, oder, Heaven?«
Ich küßte ihn, und er ging los und ließ mich mit Keith und Jane allein.
»Was ist das für ein wunderbares Fest«, rief Jane. Gerade hatte die Kapelle am Swimming-pool angefangen zu spielen, und die ersten Gäste tanzten schon.
»Du mußt mir alles erzählen, Unsere-Jane... Ich meine, Jane«, sagte ich und nahm sie noch einmal in den Arm.
»Du darfst mich Unsere-Jane nennen, wenn du es möchtest, Heaven. Ich bin ja so froh, dich zu sehen.« Sie klatschte in die Hände, wie sie es als kleines Mädchen getan hatte, wenn sie aufgeregt gewesen war. »O Heaven, ich kann jetzt nicht still stehen bleiben. Macht es dir etwas aus, wenn ich ein bißchen herumgehe? Ich wollte dich eigentlich nicht so schnell allein lassen, aber all diese Blumen, der Swimming-pool und –«
»Geht ihr junges Volk nur los und macht euch eine gute Zeit, die beste Zeit eures Lebens. Wir sehen uns später«, sagte ich.
Sie gingen Arm in Arm davon. Ich beobachtete sie noch eine Weile, wie sie miteinander lachten, sich gegenseitig ins Ohr flüsterten, Witze machten und kicherten. Sie waren sich immer noch sehr nahe, sehr empfindsam für die Gefühle und Stimmungen des anderen. In dem hintersten Winkel meines Herzens war ich neidisch auf ihre Beziehung. Früher einmal waren Tom und ich ähnlich eng verbunden gewesen. Dadurch, daß ich sie zusammen sah, fühlte ich mich klein und einsam.
Sollte ich immer ein Waisenkind bleiben? Würde ich nie das Gefühl erfahren, wirklich jemandem zu gehören? Aber ich widersprach mir selbst: Schau, was Tony alles für dich getan hat! Wahrscheinlich war es letzten Endes doch Farthy, wo ich hingehörte.
Meine Augen suchten Logan. Ich wünschte mir, daß er neben mir stand, mich unterhakte und den ganzen Empfang über als mein Gatte bei mir war. Aber wann immer ich ihn auch erblickte, immer war da Tony, der ihn von einem Geschäftsfreund zum nächsten zog und ihn mit der Crème de la Crème der Bostoner Gesellschaft bekanntmachte.
Ein bißchen traurig ließ ich Logan bei Tony zurück und ging zu dem Innenhof am Swimming-pool. Tony mochte keinen Rock ʼnʼ Roll, deshalb spielte die Kapelle nur klassische Musik und angenehme Unterhaltungsmusik. Die Gäste tanzten Jitterbug zu »In the Mood«. Andere saßen an kleinen Tischen, unter bunten Sonnenschirmen und aßen; wiederum andere bummelten von einer Gruppe zur anderen und tauschten Klatsch aus.
Tony hatte über zwanzig zusätzliche Bedienstete für diesen Empfang eingestellt. Kellnerinnen und Kellner in rotweißen Uniformen eilten über das Gelände und boten auf silbernen Tabletts Champagner in langstieligen Gläsern oder appetitliche Häppchen an. Schließlich hatten sich mindestens vierhundert Menschen eingefunden, alle in teuersten Kleidern, zum Teil in Modellen von Saint Laurent, Chanel, Pierre Cardin und Adolfo. Der warme Wind trug ihr Gelächter und das Geräusch ihrer Unterhaltung über den gepflegten Rasen.
Einige der Gäste hatte ich schon früher kennengelernt. Doch nur noch an wenige konnte ich mich erinnern. Obwohl sie versuchten, einen individuellen Stil zu haben, wirkten sie doch alle gleich. Nach meinem zweiten Glas Champagner kicherte ich innerlich über die Vorstellung, daß eine Armee von Schaufensterpuppen lebendig geworden und aus den Fenstern der eleganten Bostoner Geschäfte geklettert war.
Plötzlich sah ich, wie Tony etwas in das Ohr des Kapellmeisters flüsterte.
»Meine Damen und Herren«, rief der Kapellmeister in das Mikrofon, »ehe wir mit dieser Festlichkeit fortfahren, möchte ich Ihnen ein ganz besonderes Stück vorspielen, um das ich gebeten wurde. Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit für unsere wunderschöne Braut und für unseren großzügigen Gastgeber Mr. Tony Tatterton.«
Er hob den Taktstock, und das Orchester begann, eine Fassung von »You Are the Sunshine of My Life« zu spielen. Tony kam über die Tanzfläche auf mich zu und streckte mir seine Hand entgegen. »Darf ich bitten, Prinzessin?«
Ich nahm seine Hand, und er zog mich sanft zu sich heran.
»Bist du glücklich?« fragte er, sein Gesicht an meinem Haar.
»O ja, es ist ein wunderschönes Fest.« Das meinte ich ehrlich. Ich mußte einfach anerkennen, wieviel Tony unternahm, damit ich mich hier wie zu Hause fühlte.
»Ich hoffe wirklich, daß du glücklich bist, Heaven«, sagte Tony. »Ich möchte alles dafür tun, daß es schön für dich ist.«
»Ich bin glücklich, Tony. Ich danke dir.«
»All dies zu besitzen hat keine Bedeutung, wenn du nicht jemanden hast, den du liebst und mit dem du das teilen kannst. Willst du es mit mir teilen, Heaven?«
Ich schaute hinüber zu Logan, der lachte und mir zuwinkte, während er einen reichen Freund nach dem anderen fand. Ich schaute auf Farthy, das große Haus, das über dem Fest thronte und dessen Fenster den blauen Himmel und die weißen Wolken widerspiegelten.
»Ja, Tony«, sagte ich.
Er küßte mich auf die Wange und zog mich fest an sich, zu fest. Ich roch den starken, süßen Duft seines Aftershave und fühlte seine kräftigen Hände auf meinem Rücken. Seine Lippen berührten leicht meine Wange. Wieder war er sehr nahe, und für einen Augenblick, nur für einen Augenblick, durchzuckte mich Angst wie ein Messerstich.
»Jetzt fängt es erst an«, flüsterte er. »Es fängt erst an. Ich möchte so viel für dich tun, Heaven. Wenn du es mir nur erlauben würdest!«
Ich antwortete nicht. Er hielt mich so eng und fest, daß ich sein Verlangen spüren konnte, mich immer bei sich zu haben. Dieses Verlangen erzeugte bei mir ein Gefühl von Enge und machte mir Angst, denn es war zu groß.
Nach der Hälfte des Liedes schlossen sich andere Tänzer an. Als es zu Ende war, entschuldigte sich Tony und mischte sich unter die Gäste. Ich stand einfach da und sah mir die anderen Paare an. Mein Herz schlug so laut, daß ich kein anderes Geräusch wahrnehmen konnte. Ich hörte weder das Lachen noch die Musik, noch die Unterhaltungen. Mir war, als wäre ich auf dem riesigen Grundstück allein. Nur der Wind wisperte mir eine Warnung zu. Ich brauchte eine ganze Weile, bis ich wahrnahm, daß Logan neben mir stand.
»Geht es dir gut?« fragte er.
»Wie bitte?«
»Du siehst so verloren aus.«
»O ja.« Ich lachte, um meine Ängste zu überspielen. Immer noch fühlte ich den Druck von Tonys Arm in meinem Rücken. »Ich war nur in Gedanken. Es ist alles so überwältigend.« Gerade in dem Augenblick kamen Jane und Keith vorbei und gaben mir einen Kuß.
»Du sahst hinreißend aus beim Tanz«, sagte Jane.
»Ja, du warst großartig, Schwesterherz«, stimmte Keith zu.
Logan nahm mich in den Arm. »Tony und du, ihr wart ein schönes Paar auf der Tanzfläche. Für sein Alter tanzt er noch recht gut.«
»Ich weiß«, sagte ich kühl. Ich hoffte, Logan würde merken, daß etwas nicht stimmte. Aber er sah nur, was er sehen wollte: seine Braut, das neue Leben, das Versprechen einer perfekten Zukunft.
»Ich hätte es beinahe vergessen. Wir sollen zu der Bühne am Swimming-pool kommen«, sagte Logan. »Man will uns etwas mitteilen.«
»Mitteilen?«
Er zuckte die Achseln.
»Ich weiß darüber genausowenig wie du«, sagte er grinsend. Sein Grinsen war jedoch so selbstzufrieden, daß ich ihm nicht glaubte.
Tony kam auf die Bühne und ging zum Mikrofon. Seine Augen schweiften über die Menge, bis sie Logan und mich erblickten, wie wir uns einen Weg nach vorne bahnten.
»Meine Damen und Herren«, begann er, »ein Hoch auf unser Brautpaar!« Er hob sein Glas. »Ein Hoch auf die Braut und ein Hoch auf die Zukunft –«
Er brach plötzlich ab. Die Menschen drehten die Köpfe, um zu sehen, was er sah: Jillian schritt auf die Tanzfläche. Ein verwundertes Raunen ging durch die Menge. Martha Goodman huschte hinter ihr her.
Jillian hatte ihr Hochzeitskleid angezogen. Sie hatte immer schon eine schöne, schlanke, anmutige Figur. Selbst in dem Zustand des Wahnsinns paßte sie so gut in das Kleid hinein wie an dem Tag, an dem sie Tony geheiratet hatte. Ihr goldenes Haar, das so lange gebleicht worden war, bis es aussah wie ein Strohbüschel, hatte sie glatt herunter gekämmt, so daß die steifen Strähnen sich nur am Ende lockten. Auf ihren Wangen lagen zwei knallige Flecken von dunkelrosa Rouge, und sie hatte blutroten Lippenstift dick auf ihre Lippen geschmiert wie schon an dem Tag meiner Ankunft.
Sie hielt an der Treppe inne und wandte sich an die Menge der Gaffer.
»Ich danke Ihnen allen, daß Sie gekommen sind«, sagte sie. »Das ist der glücklichste Tag meines Lebens, der Tag, an dem ich Mr. Anthony Tatterton heirate. Ich bin so glücklich, daß so viele von Ihnen diesen Tag mit mir feiern wollen. Bitte, bitte, amüsieren Sie sich.«
Für einen Augenblick wagte keiner, sich zu rühren oder etwas zu sagen. Dann flüsterte Martha ihr etwas ins Ohr.
»Das ist meine Hochzeit, mein besonderer Tag«, sagte Jillian und drehte sich wütend zu Martha um. Sie wischte eine Strähne ihres Haares aus dem Gesicht. »Diese Menschen sind wegen mir gekommen. Sie sind hier, um dabeizusein, wenn ich heirate, wenn ich mich Tony Tatterton hingebe... und ich weiß«, ihre Stimme war nun kaum mehr als ein Flüstern, »ich weiß, daß diese Liebe immer währen wird.« Plötzlich schien alle Kraft aus ihrer Haltung gewichen zu sein, und sie mußte sich auf Martha stützen.
»Kommen Sie, Miss Jillian«, sagte Martha zärtlich und führte sie zurück zu ihrem Stuhl.
Die Menschen waren verwirrt. Tony fing sich wieder und ging zum Mikrofon, als wäre nichts Außergewöhnliches passiert.
»Meine Damen und Herren«, begann er noch einmal. »Ein Hoch auf Mr. und Mrs. Logan Stonewall.«
»Hoch, hoch«, hörte man die Menschen rufen, die versuchten, ihr Erstaunen zu verbergen. Dann tranken vierhundert Menschen auf unser Glück und unsere Gesundheit.
»Heaven und Logan, ich wünsche euch ein langes Leben in Glück und Gesundheit, und um das zu unterstreichen, übergebe ich euch das...«
Er hob seine freie Hand als Signal. Als die Zuschauer, Logan und ich da hinsahen, wohin er zeigte, blickten wir auf einen funkelnagelneuen silberfarbenen Rolls-Royce. Aus der Menge hörte man einen einstimmigen Seufzer der Bewunderung. Ich blickte auf Tony und sah die Entschlossenheit in seinem Gesicht.
Er würde alles tun, um mein Herz und meine Zuneigung zu gewinnen. Seine Liebe zu mir war gleichzeitig unbarmherzig und überwältigend. Jetzt kehrte der Messerstich von Angst, den ich auf dem Tanzboden gespürt hatte, zurück. Für einen Augenblick sah mein stattlicher, geheimer Vater wie eine Inkarnation des Teufels aus. Vor dieser Macht, diesem Reichtum, dieser Liebe ohne Einschränkungen fühlte ich mich hilflos.
Ich schaute hinüber zu Logan, um zu sehen, wie er reagierte. Er war glücklich, seine Augen leuchteten, seine Wangen glühten, sein Mund war in blankem Staunen aufgerissen. Er drückte meine Hand, dann ließ er sie los und ging nach vorn, um Tonys außergewöhnliches, funkelndes Geschenk zu bewundern. Ich folgte ihm. Sein Gesicht strahlte derartig vor Glück, daß ich fast weinen mußte.
»O Heaven«, sagte er. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Mensch jemals glücklicher war, als ich es im Moment bin.«
»Das hoffe ich auch, Logan«, sagte ich, »das hoffe ich.« Wie leicht war es doch, ihn zu erfreuen und ihn glücklich zu machen! Sein Glück wurde nie von dunklen Wolken des Mißtrauens überschattet, so wie es bei mir war. Wie sehr brauchte ich doch einen Mann wie ihn! Ich wollte mich für immer in seine Arme kuscheln.
»O Logan, ich liebe dich. Liebe mich immer und ewig so wie jetzt«, bettelte ich, als ich in seine Arme sank.
»Das werde ich. Ich verspreche es dir«, sagte er.
Als wir uns küßten, vergaßen wir beinahe, was um uns geschah. Die Gratulanten ließen uns noch einmal hochleben, dann ging das Fest weiter. Logan und seine neuen Bekannten inspizierten den Rolls-Royce, während ich mich auf die Suche nach Tony machte, um ihm zu danken. Die Kapelle begann nun wieder zu spielen. Bevor ich Tony erreicht hatte, war Jillian von ihrem Platz aufgestanden und lief auf Tony zu. »O Tony«, rief sie. »Liebst du mich? War die Trauung nicht wunderbar?«
Einige Gäste blieben stehen und starrten sie an.
»Ja, Jillian.« Er hob den Arm, um sie wieder zu ihrem Tisch zu führen. Über ihre Schulter rief sie den Gästen zu:
»Amüsieren Sie sich. Ich bitte Sie, amüsieren Sie sich!«
Ich beobachtete Tony, wie er sie wieder auf ihren Platz brachte und Martha Goodman losschickte, um ihr etwas zu essen zu holen. Dann kam er auf mich zu. Jillian tat mir leid. Ich mochte nicht, wie die Leute sich nach ihr umdrehten und flüsterten.
»Wie konntest du das zulassen?« fragte ich, sobald er nahe genug war und ich ihn in eine Ecke gedrängt hatte, von wo man uns nicht hören konnte. »Findest du das nicht peinlich?«
»Peinlich?« Er schaute in die Richtung, wo Jillian saß, als ob er derjenige gewesen wäre, der in der Vergangenheit lebte und nicht verstand, was in der Gegenwart passierte. »Ja, es ist peinlich. Aber für mich ist es eher tragisch als peinlich.«
»Warum läßt du es zu, daß sie hierher kommt? Wo all diese Leute da sind. Die meisten lachen doch schon über sie.«
»Sie jedenfalls merkt es nicht«, sagte er mit der Andeutung eines Lächelns. Ich konnte ihn nicht verstehen. »Mit ihren Augen, ihren verrückten Augen sieht sie ihr eigenes Hochzeitsfest.«
»Aber...«
»Aber was?« fragte er, die Lippen zu einer dünnen Linie zusammengepreßt. »Über wessen Demütigung machst du dir hier Sorgen, über ihre oder etwa über deine? Soll ich sie wie ein verrücktes Tier in einen Käfig sperren? Soll sie in ihren vier Wänden dahinvegetieren? Soll sie abstürzen in den tiefen, ausgetrockneten Brunnen ihrer Erinnerungen, bis sie sich allein und vergessen auf dessen dunklem Grund findet? Verstehst du nicht?« sagte er, und seine Augen wanderten von mir zu dem Haus hinüber. »Ich kann die Vorstellung nicht ertragen, daß sie in eine Anstalt gesperrt werden könnte. Sie war einmal sehr schön und war mir sehr teuer«, fügte er hinzu und drehte sich wieder in die Richtung von Jillian. »Sie war wie ein Stück alten chinesischen Porzellans. Ja, sie hatte Angst vor dem Älterwerden. Angst vor der Zeit, wenn sie nicht mehr schön und verführerisch sein würde. Ich bin sicher, daß die Tatsache, daß sie es nicht verhindern konnte, viel zu dem Zustand beigetragen hat, in dem sie heute ist. Aber, verstehst du nicht«, sagte er und faßte mich an beiden Armen, »in gewisser Weise hat sie sie nun, die ewige Jugend und Schönheit. Ihr Wahnsinn hat es ihr gegeben... So«, sagte er, während er aufstand und seinen Rücken wieder straffte, »ich denke, wir akzeptieren die Demütigung und lassen die anderen kichern. Du kannst doch dieses Opfer bringen, oder, Heaven? Ich bin sicher, du kannst etwas Selbstloses tun. Wenn du es willst«, sagte er noch, dann wollte er weggehen.
»Tony...«
»Ja?« Er wartete. Ich blickte hinüber zu Jillian, die bequem an einem Tisch saß, den Gästen zulächelte und zunickte, ihre Gabel aber wie einen Zahnstocher hielt und wie ein Vogel in ihrem Essen herumpickte.
»Was ist, wenn sie mich sieht?«
»Was soll sein?« Er lachte. »Sie nimmt dich einfach als Leigh, die dabei war, als Jillian und ich heirateten. Sie war damals zwölf und trug das lange rosa Kleid einer Brautjungfer und einen Strauß rosa Rosen. Ich werde nie vergessen, wie schön sie an dem Tag aussah.« Er drehte verträumt seinen Kopf. Dann funkelten seine Augen, und er sah mich an. »Und du bist heute genauso schön«, sagte er und ging los in Richtung Jillian.
Ich überdachte das, was er gesagt hatte und wie er es gesagt hatte. Anscheinend liebte Tony Jillian immer noch sehr. Oder war es etwas anderes?
Der Anblick von Martha Goodman, die die grinsende Jillian wieder in ihr Zimmer mit dem Spiegel ohne Glas und den Erinnerungen ohne Zeit führte, machte mich traurig und ließ mich frösteln.
»Es wird Zeit, daß wir die Torte anschneiden.« Logan kam und führte mich zu einem Tisch, der in der Mitte der Bühne stand und mit Girlanden und Blumen dekoriert war. Es war eine Märchentorte mit fünf Etagen. Strahlend nahm Logan meine Hand, und indem wir zusammen das Messer führten, schnitten wir ein Stück heraus. Als er den Mund aufmachte, um ein Stück Torte hineinzustecken, da fiel mir wieder das zauberhafte Kunstwerk aus Eiskrem ein, das er für mich an dem Tag hergestellt hatte, an dem er mir den Heiratsantrag machte. Diese Torte war eine fantastische Tatterton-Creation, doch für mich würde Logans magisches Regenbogenschloß immer meine wahre Hochzeitstorte sein.
Nachdem allen Gästen Kuchen und Eis serviert worden war und nachdem die Kellner weitere Tabletts mit Sekt, Cognac, Schnaps und Likören herumgereicht hatten, aß und trank man genüßlich. Danach fing das Fest an, sich aufzulösen. Gerade, als mir bewußt wurde, wie erschöpft ich war, sah ich, wie Keith und Unsere-Jane sich ihren Weg zu meinem Tisch bahnten.
»Heaven«, sagte Unsere-Jane, beugte sich vor und umarmte mich, »Keith und ich müssen jetzt gehen. Du wirst mir fehlen.«
»Du schreibst mir?« fragte ich.
»Jede Woche.«
Ich umarmte Keith. Dann sah ich ihnen nach, wie sie Arm in Arm den Weg entlanggingen. Logan küßte mich in den Nacken.
»Du hast sie wirklich sehr gern, nicht wahr?«
Ich schmolz in seinem Arm dahin. »Laß uns in unser Zimmer gehen, Logan. Ich bin sehr müde.«
»Aber die Sachen sind schon alle in unsere neuen Zimmer gebracht worden«, sagte er.
»Wie? Wann denn?«
»Während wir hier draußen feierten. Ich wollte dich überraschen. Ist das in Ordnung?« Es gefiel mir nicht, daß er das getan hatte, ohne mich zu fragen, aber ich sah ein, daß es ihm wichtig gewesen war, mich zu überraschen.
»Es ist gut. Ja, das ist in Ordnung.« Ich seufzte.
»Was machen wir mit unseren restlichen Flitterwochen, Heaven? Wollen wir sie hier verbringen?« Er nahm meine Hand, seine saphirblauen Augen bettelten.
»Möchtest du das wirklich, Logan?«
»Ja, sehr gern!«
»Nun gut, dann machen wir es so«, sagte ich widerwillig. »Können wir jetzt nach oben gehen? Ich fühle mich, als würde ich bald zusammenklappen von all dieser Aufregung.«
»Ich komme bald nach«, sagte er. »Ich möchte mich noch von ein paar Leuten verabschieden.« Er küßte mich und mischte sich dann wieder unter die Menge. Ich erblickte Tony, der, umgeben von einigen Geschäftsfreunden, wie ein König in einem Lehnstuhl saß. Er winkte und lächelte, als ich mich auf den Weg ins Haus machte.
Oben auf dem Flur traf ich Martha Goodman, die gerade aus Jillians Zimmer kam.
»Wie geht es ihr?« fragte ich.
»Sie ist sehr glücklich«, sagte sie. »Wahrscheinlich genauso glücklich wie Sie«, fügte sie hinzu.
Glücklicher, dachte ich. Aber ich sprach es nicht aus, sondern ging sofort in eines unserer Zimmer.
Tony hielt sich an sein Wort während der Zeit, die Logan und mir für unsere Flitterwochen blieb – er sprach nicht mit Logan über geschäftliche Dinge und war eigentlich nie da. Drei Tage verbrachte er mit Besprechungen in New York. Er hatte auch einige Termine mit seinen Finanzberatern in Boston, bei denen es, wie ich später herausfand, um die Fabrik in Winnerow ging. Da Jillian meistens in ihrem Zimmer blieb, hatten Logan und ich Farthy ganz für uns.
Jeden Morgen frühstückten wir im Bett. Anschließend gingen wir entweder an den Strand oder fuhren mit dem Auto nach Boston zum Einkaufen, aßen in feinen Lokalen oder bummelten nur herum. In der Mitte der Woche bereitete Logan alles vor, damit wir reiten konnten.
Als Logan und ich zu den Ställen kamen, um unsere Pferde zu holen, fiel mir ein anderer Tag wieder ein. Es war der Tag, an dem Troy und ich uns zum ersten Mal geliebt hatten. Logan spürte nichts von meinen Träumereien. Wir ritten den Strand entlang. Es war wunderschön und romantisch. Wir hatten uns Verpflegung mitgebracht und bereiteten unser Picknick am Strand in einer privaten kleinen Bucht, die Logan auf seinen Streifzügen entdeckt hatte. Als wir uns zu dem Tosen der Brandung liebten, wurden all meine schmerzlichen romantischen Erinnerungen verdrängt, und eine Zeitlang fühlte ich mich erfrischt und voller Hoffnung. Vielleicht war die Idee, die Flitterwochen auf Farthy zu verbringen, doch nicht so schlecht.
Da Logan ständig romantische, aufregende Unternehmungen organisierte und mir seine Ergebenheit und Liebe bewies, wurde ich dazu bewogen, vor den bohrenden Ängsten in meinem Unbewußten die Augen zu verschließen. Ich schob das zehrende Gefühl von Bedrohung beiseite, das mich jedesmal überkam, wenn ich daran dachte, daß Logan Vizepräsident der Tatterton-Spielzeugwerke werden und wir nach Farthy ziehen würden. Am Ende der Woche, als Tony von seinen Geschäften zurückkehrte und Logan und ich uns fertigmachten, nach Winnerow zu fahren, unsere Sachen zu holen und seinen Eltern von unseren neuen Plänen zu erzählen, waren wir beide braungebrannt, erholt und glücklich.
»Ihr seht beide wunderbar aus«, sagte Tony.
»Ich hoffe, wir verbringen hier ewige Flitterwochen«, erwiderte Logan und himmelte mich dabei dermaßen an, daß ich rot wurde.
»Es sollte jeder Tag ein Hochzeitstag sein, nicht wahr, Logan?« grinste Tony. »So hält man eine Ehe glücklich. Aber wir haben jetzt auch Arbeit, die erledigt werden muß.« Wie begierig Tony war, die Aufmerksamkeit von Logan wieder auf die Geschäfte zu lenken! »Heaven, Logan und ich haben letzte Woche beschlossen, daß du den Platz für die neue Fabrik in Winnerow aussuchen sollst. Logan ist dazu ermächtigt, ein angemessenes Angebot zu machen.«
»O Tony«, sagte ich, »ich weiß doch nichts. Das ist eine riesige Verantwortung. Was ist, wenn ich das Falsche aussuche?«
»Das wirst du nicht. Das kannst du gar nicht«, sagte er. »Wir wissen alle, daß du die Fähigkeit hast, das zu tun, was das Beste für Winnerow und das Beste für die Tatterton-Spielzeugwerke ist.«
»Ich gebe dir noch ein paar Hinweise, auf was du achten mußt«, sagte Logan.
»Ja? Und seit wann hast du dazu die Kompetenz, Logan Stonewall?« fragte ich. Tony lachte.
»Nun...« Logan errötete und sah hilfesuchend zu Tony. »Tony hat mir ein paar Dinge erklärt.«
»Das ist etwas anderes«, erwiderte ich.
»Ich brauche in diesem Geschäft keinen Staatsstreich zu befürchten«, erklärte Tony. »Logan, Heaven wird immer darauf achten, damit du bescheiden bleibst und deine Grenzen kennst.«
»Als ob ich das nicht selber könnte«, sagte Logan und grinste wie ein kleiner Junge. Dieses Mal lachten Tony und ich zusammen.
Logan und ich packten nur das ein, was wir für einen kurzen Aufenthalt brauchten, und brachen dann in unserem neuen Rolls-Royce auf. Als wir die lange, gewundene Zufahrt hinunterfuhren und das Tor passierten, schaute Logan in den Rückspiegel und lächelte, als ob er zurückschaute zu einer anderen Frau, die er liebte und zu der er, wie er wußte, bald zurückkehren würde, um sie zu umarmen. Wieder einmal flatterte mein Herz in der Brust, als ob ein Schmetterling aus seinem Kokon geschlüpft wäre. Ich konnte nicht anders, ich war eifersüchtig auf die Schönheit von Farthy.
»Ich bin froh, daß wir unsere Flitterwochen hier verbracht haben«, sagte Logan. »So wird für uns Farthy immer ein Platz der Liebe bleiben.«
Er schaute mich an und lächelte. Sein Gesicht drückte so viel Optimismus aus, daß ich glaubte, er würde für uns beide reichen. Er faßte nach meiner Hand und umschloß meine Finger voller Verlangen.
Ich erwiderte den Händedruck, und er schaute mich verliebt an.
»Bist du glücklich, Heaven?«
»Ja, Logan, ich bin sehr glücklich.«
»Dann bin ich froh«, sagte er. »Denn das ist in Zukunft das einzige, das wichtig für mich ist.«
Ich betete, daß das immer so bleiben möge.
Es war seltsam, wieder nach Winnerow zu kommen, nach dieser Woche, die wir in Farthy verbracht hatten. Mir war, als käme ich von einem Traumleben in ein anderes und dann wieder zurück. Wir hatten beschlossen, in der Hütte zu wohnen. Wir wollten sie behalten als Platz, an dem Logan oder wir beide bleiben konnten, wenn wir wegen der Fabrik in Winnerow sein würden. Doch als wir jetzt in den Ort hineinfuhren, gingen wir zuerst zu dem Haus von Logans Eltern, damit Logan ihnen von unseren Plänen erzählen konnte.
Als wir ankamen, war es gerade Essenszeit. Als Logan rief: »Mom, Dad, Heaven und ich sind wieder da!«, kam seine Mutter in einer geblümten Schürze und mit mehlbestäubten Händen zur Tür gelaufen, um uns zu begrüßen. »Ja, Logan, Heaven«, rief sie. »Ihr wolltet doch erst in einer Woche zurückkommen.« Fragend zog sie die Augenbrauen hoch. »Es ist doch alles in Ordnung bei euch?« In Erwartung einer Antwort schaute sie Logan an.
»In Ordnung? Es ist weitaus besser als in Ordnung, Mom. Du siehst vor dir den Vizepräsidenten für Verkauf und Entwurf von Tatterton-Spielzeug und den zukünftigen Direktor der Tatterton-Spielzeugwerke in den Willies.« Logan war wie ein Kind, das spielte, es wäre der König der Berge.
»Das kann ich nicht glauben!« Seine Mutter schaute uns fassungslos an. In dem Versuch, ihren Schock und ihre Enttäuschung zu verbergen, wischte sie ihre Hände an der Schürze ab. Dann schaute sie wieder auf. »Ich muß sagen, ich bin wirklich überrascht. Aber was ist mit der Apotheke?«
»Mom, das ist die Chance meines Lebens. Hole Dad, und ich erzähle euch alles ganz genau. Ich weiß, ihr werdet euch für uns freuen, für ganz Winnerow freuen.«
Zu Anfang war Logans Vater offensichtlich böse. »Mein Sohn, ich hatte mich darauf gefreut, daß wir im Geschäft zusammenarbeiten würden«, sagte er.
Aber als Logan ihnen sagte, was er verdienen würde, und als er ihnen ausmalte, was die zukünftige Fabrik für die Wirtschaft der kleinen Stadt bedeuten würde, änderten seine Eltern ihre Einstellung. Mir fiel auf, wie seine Mutter mich mit ganz anderen Augen ansah. Sie erkannte jetzt, daß ihr Sohn mit mir weitaus besser dran war, als wenn er eines der Mädchen aus dem Ort geheiratet hätte und in Winnerow bleiben würde.
Ich spürte jedoch, daß das Gefühl ihrer Zuneigung für mich nicht so tief war. Sie war nicht von mir als Person beeindruckt, sondern nur von der Macht und dem Geld, die hinter mir standen. Das konnte ich ihr aber nicht vorwerfen. Nach dem, was ich in meinem kurzen sorgenvollen Dasein gelernt hatte, war ihr Verhalten typisch für das der meisten Leute.
Ehe wir zur Hütte fuhren, machte ich noch einen Besuch bei Mr. Meeks, dem Schulleiter, und unterrichtete ihn über meine Absicht, meine Stelle als Lehrerin aufzugeben. »Die Kinder werden Sie vermissen«, sagte er, »besonders die Kinder aus den Bergen. Aber vielleicht haben Sie recht. Vielleicht tun Sie etwas Wichtigeres für sie, wenn Sie die Tatterton-Fabrik hierher bringen und für Arbeitsplätze und Aufstiegschancen sorgen. Es gibt, weiß Gott, nicht viel davon in dieser Gegend. Ich wünsche Ihnen natürlich viel Glück.«
Ich dankte ihm. Dann fuhren Logan und ich zur Hütte.
Ganz egal, wo ich auch gewesen war und wie lange ich fort gewesen war, ich wußte genau, die Hütte würde immer die gleiche sein, wenn ich zurückkam. Obwohl sie modernisiert worden war, trugen doch die Stämme in der Umgebung immer noch das ursprüngliche Gesicht der Natur, das ich als Kind kennengelernt hatte. Ich hörte dieselben Vögel singen, sah dieselben knorrigen Bäume, ging durch denselben tiefen kühlen Schatten, hörte dasselbe silberne Klingen vom plätschernden Bächlein. Das sollte mir immer heilig bleiben.
In dieser ersten Nacht in der Hütte kochte ich für Logan ein feines Essen. Wir saßen, wie einst Granny und Grandpa, auf der Veranda und sprachen über unsere Pläne, bis wir müde wurden und Arm in Arm einschliefen. Am nächsten Morgen fuhr Logan nach dem Frühstück wieder nach Winnerow, um einige Geschäftsverbindungen einzufädeln. Ich fuhr indessen die Nebenstraßen ab und suchte einen geeigneten Platz für die Tatterton-Spielzeugwerke. Logan hatte mir erklärt, daß der Platz verkehrsgünstig liegen müsse und auch nahe genug am Ort, damit die Angestellten ihr Geld leicht dort ausgeben könnten. Wenn die Geschäftsleute in der Stadt erst einmal verstanden hatten, was die Fabrik ihnen an Wohlstand bringen werde, gäbe es auch keinen Widerstand, hatte Logan erklärt. Ich wußte, er wiederholte nur das, was Tony auch gesagt hatte.
Ich fand den perfekten Platz ziemlich schnell. Es war ein flaches Stück Land mit einer wunderbaren Aussicht auf die Berge, und dennoch waren es nur ungefähr eineinhalb Kilometer bis zur Stadt. Es würde jedem gefallen, hier zu arbeiten, dachte ich. Ich eilte zurück nach Winnerow, um Logan zu treffen. Sein Vater sagte mir, daß er wieder zurück zur Hütte gefahren sei, um ein paar Papiere zu holen, die er im Koffer gelassen hatte. Ich hatte aber den Tag vorher schon die Koffer ausgepackt und ihren Inhalt in Regale und Schubladen geräumt. Ich befürchtete nun, daß er die Papiere nicht finden würde, und beschloß, nicht hier auf ihn zu warten, sondern fuhr ebenfalls zur Hütte hinauf.
Als ich um die Kurve vor der Hütte gebogen war, fuhr ich langsamer. Fannys Wagen stand neben dem von Logan. Ich hatte eigentlich vorgehabt, sie nicht eher anzurufen oder zu treffen, ehe ich nicht meine Geschäfte erledigt hatte. Offensichtlich hatte sie gehört, daß wir wieder da waren, und deshalb war sie zu Besuch gekommen.
Ich parkte meinen Wagen und stieg langsam aus. Ehe ich die Eingangstür erreichte, vernahm ich schon Logans seltsames Betteln: »Bitte, Fanny, du kannst hier nicht so herumlaufen. Nun tu, was ich dir sage, und geh! Bitte, mach mir doch keine Probleme! Bitte!«
Ich hörte Fannys bekanntes, zermürbendes Lachen – und zog die Eingangstür auf.
Sie stand neben dem Badezimmer. Um ihre nackten Hüften hatte sie ein Handtuch geschlungen. Die Hände hatte sie über dem Busen verschränkt. Ihr Haar war zerwühlt. Fanny sah aus wie eine mystische Sexgöttin, wie die verkörperte Versuchung für ihn, untreu zu werden. Einen Augenblick lang starrte sie mich mit ihren dunklen Augen an, und das Lächeln gefror auf ihrem Gesicht. Aber als sie meinen Gesichtsausdruck sah, lachte sie nur.
»Mensch, Heaven, um Gottes willen, mit diesem Anblick kannst du einem Teufel des Fürchten beibringen!«
»Kümmere dich nicht um mein Gesicht. Wieso stehst du hier halb nackt herum?« Ich schaute Logan an.
»Sie kam herein und sagte, bei ihr wäre die Wasserleitung kaputt, und fragte, ob sie hier duschen könnte. Sie sagte, sie hätte nicht gewußt, daß wir da sind«, meinte Logan.
»Das habe ich auch nicht. Heaven, du besitzt ja nicht einmal die Höflichkeit, mir mitzuteilen, ab wann du wieder da bist. Wie soll ich wissen, daß du und Logan wieder hier seid?«
»Wir sind nur hier für ein oder zwei Tage, dann kehren wir zurück nach Farthinggale, wo wir leben werden. Aber du hast immer noch nicht erklärt, warum du so, wie du bist, vor meinem Mann stehst.«
»Ich wollte mir nur ein Handtuch holen. Ich merkte, daß ich es vergessen hatte, und ich wollte Logan nicht in die peinliche Situation bringen, es mir hereingeben zu müssen.«
»Wolltest ihn nicht in die peinliche Situation bringen! Was meinst du, was du jetzt getan hast?«
»Er sieht nicht so aus, als ob es ihm etwas ausmacht«, sagte sie und grinste Logan an.
»Fanny!« Ich ging auf sie zu. »Geh ins Bad und nimm deine Dusche !«
»Aber sicher doch, Heaven, Süße. Ich bin gleich fertig. Dann können wir noch ein bißchen zusammensitzen.«
Sie bückte sich, um die Tür zu öffnen, und zeigte sich dabei ganz. Als sie verschwunden war, schüttelte Logan den Kopf und setzte sich hin. Sein Gesicht war rot.
»Gut, daß du gekommen bist«, sagte er. »Sie wurde allmählich unmöglich.«
»Du hättest sie nicht hereinlassen dürfen.«
»Ich konnte sie nicht draußen halten, Heaven. Wie hätte ich das anstellen sollen?«
Er hatte recht. Es war falsch, ihm die Schuld zu geben. Fanny war eben Fanny. Es war immer das gleiche mit ihr. Schon immer wollte sie mir alles wegnehmen, was mir lieb und teuer war. Es war heute das gleiche wie damals am Flußufer, als Logan auf mich wartete, Fanny jedoch vor mir dahin kam, ihr Kleid auszog und ihn dazu bringen wollte, sie zu fangen. Damals sah er genauso peinlich berührt und aufgeregt aus wie jetzt. Er hatte gesagt, er möge keine Mädchen, die so lockere Sitten und so wenig Hemmungen haben wie Fanny. Er hatte gesagt, sie wäre nicht sein Typ. Er mochte es aber, wenn Mädchen schüchtern, schön und lieblich waren.
»Du hast recht«, sagte ich. »Für Dinge, die Fanny tut, kann man nur Fanny die Schuld geben. Dein Vater sagte mir, du suchst nach bestimmten Papieren?«
»Ja, ich wollte die Kontoauszüge kontrollieren. Ich fand sie in der Schublade, wo du sie hingeräumt hast, und wollte gerade wieder aufbrechen, als Fanny kam.«
»Ich habe einen wunderbaren Platz für die Fabrik gefunden, Logan. Ich möchte ihn dir später zeigen.«
»Prima.«
»Warum fährst du nicht mit deinen Papieren zu der Bank, und wir treffen uns in einer Stunde im Drugstore? Ich bleibe hier bei Fanny«, sagte ich. Er schaute zur Badezimmertür und nickte.
»Okay.« Er küßte mich und brach auf. Ich wartete auf Fanny.
»Wo ist Logan?« fragte sie, als sie wiederkam. Sie trug ein leuchtend rotes Trachtenkleid und hatte das Oberteil so weit über die Schultern gezogen, wie es ging. Es überraschte mich nicht, daß sie keinen BH trug und ihre Brüste zur Hälfte enthüllt waren. Ich mußte zugeben, daß Fanny sehr attraktiv war. Obwohl sie einen wüsten Lebensstil hatte, sah sie immer sehr gut aus. Die Verbindung von ihrem pechschwarzen Haar und den dunkelblauen Augen war atemberaubend. »Er hat Termine in der Stadt. Was du eben getan hast, war entsetzlich, Fanny«, sagte ich. Ich wollte nicht, daß sie mich aus dem Konzept brachte. »Du bist kein Teenager mehr. Solche Possen kann ich nicht entschuldigen. Logan ist mein Mann, und du wirst dich nicht wieder so vor ihm aufführen!«
»Nun aber«, sagte sie und stützte die Hände in die Hüften. »Du denkst wohl, du kannst den armen alten Logan aus den Willies fortlocken und so einen Bostoner Schickie aus ihm machen?«
»Alles, was er macht, macht er freiwillig.«
Sie sah mich einen Augenblick an, dann verwandelte sich der Ausdruck von Ärger auf ihrem Gesicht in Kummer. Nur Fanny konnte Gefühle so schnell austauschen.
»Klar. Ihr zwei lebt wie die Könige, und mich laßt ihr im Schweinekoben, wie gewöhnlich.«
»Es war deine Entscheidung, hier zu leben, Fanny. Du hast dir selbst das Haus gekauft mit dem Geld deines früheren Ehemannes.«
»Aber ich dachte doch, ich bekomme mein Kind zurück. Ich dachte, du würdest mir dabei helfen, Heaven. Statt dessen haben dieser Hund von Reverend und seine Frau es immer noch. Und was habe ich? Ich habe keine Familie. Ich habe kein Ansehen. Ja, du lädst mich nicht einmal zu deinem Empfang in Farthy ein. Aber Keith und Jane hast du eingeladen, nur weil sie auf ein vornehmes College gehen und reden und aussehen wie deine Leute.«
»Es sind nicht meine Leute«, sagte ich. Aber ich wußte, daß sie recht hatte. Ich hatte sie nicht auf dem Fest haben wollen. Ich hatte nicht riskieren wollen, daß es peinliche Situationen geben würde. Schließlich kannte ich ja die Dinge, die sie sagte, um mich mit Absicht zu demütigen.
»Ich möchte auch in Farthy leben«, jammerte sie. »Warum darf ich all diese reichen, frustrierten, alten Männer nicht kennenlernen und mir auch solch einen Sugardaddy suchen wie du, Heaven?«
»Ich habe mir keinen Sugardaddy gesucht, Fanny.« Ich schüttelte den Kopf. Manchmal war es wirklich entnervend, mit ihr zu reden. »Ich kann dich nicht einladen, in Farthy zu leben, Fanny, damit du dir einen reichen Mann suchst, der dich heiratet.«
»Du versuchst immer, mich zu überflügeln, Heaven Leigh Casteel. Ja, Casteel. Es ist mir gleich, welchen Namen du annimmst, für mich bist du immer noch Heaven Leigh Casteel, das Mädchen aus den Willies, hörst du mich? Als Ma uns verlassen hat, hast du versprochen, dich um mich zu kümmern. Du hast erst damit aufgehört, als Pa mich an diesen Lustmolch von Reverend verkauft hat. Als ich dich um Hilfe gebeten habe, mein Kind zurückzuholen, hast du es nicht getan. Du hättest ihm nur mehr Geld anbieten müssen. Aber das hast du nicht gemacht.«
»Du bist nicht der Typ, der eine gute Mutter ist, Fanny. Du wirst es nie sein.«
»Stimmt das? Sei dir da nicht so sicher! Hör auf, herumzulaufen und über jeden Bescheid zu wissen, außer über dich selbst!«
»Ich weiß nicht gut Bescheid über mich selbst. Wir können nie uns selbst so gut sehen, wie uns die anderen sehen, und wir wollen oft nicht wahrhaben, was wir sind. Ich sage das nicht gern, aber es ist wahr. Gut, ich habe jetzt Dinge in Winnerow zu erledigen, und dann –«
»Du möchtest nicht, daß ich Logan sehe. Das stimmt doch, oder? Du traust ihm nicht.«
»Ich habe vollstes Vertrauen in meinen Mann. Aber du hast recht. Ich habe es nicht gern, wenn du in seine Nähe kommst, und zwar wegen deiner Aufführung eben in der Hütte. Ich hatte gehofft, daß all die Dinge, die dir in deinem Leben zugestoßen sind, dir geholfen hätten, erwachsen zu werden, aber ich sehe, daß du davon noch Meilen entfernt bist.«
»Meinst du? Gut, ich will dir was sagen, Frau Saubermann. Logan hat meine kleine Show genossen, bis du gekommen bist. Ich bat ihn, mir ein Handtuch zu bringen. Er sagte, ich soll herauskommen und es mir selbst holen. Als er dein Auto hörte, da änderte er seinen Tonfall.«
»Das ist eine Lüge, eine jämmerliche Lüge«, brüllte ich ihr ins Gesicht. Schon immer hatte Fanny gewußt, wie sie mich in Wut bringen konnte. »Du sagst das nur, weil du es mir heimzahlen willst.«
Sie zuckte die Achseln.
»Glaube, was du willst. Aber wenn du auch nur einem Mann vertraust, dann verdienst du es nicht anders, Heaven, und dann bist du diejenige, die erwachsen werden muß.« Sie zeigte mit dem Finger auf mich und stand vor mir, aufrecht und arrogant. Einen Augenblick nur sah ich sie an.
»Ich muß jetzt gehen«, sagte ich. »Ich kann meine Zeit nicht vertrödeln.«
»Kannst du nicht?« Sie lachte. Ich ging auf mein Auto zu. »Du kannst nicht einfach abhauen, in deinem Schloß leben und mich einfach vergessen, Heaven. Ich werde mich nicht in Luft auflösen, auch, wenn du es gern so hättest. Du und ich sind noch nicht fertig miteinander. «
»Ich sagte doch, ich muß gehen.« Ich stieg ins Auto und ließ den Motor an.
»Wir sind noch nicht fertig«, rief sie und kam auf das Auto zu. Ich fuhr los und beobachtete sie in meinem Rückspiegel.
Trotz ihrer Drohungen und Beleidigungen tat sie mir leid. Sie war krankhaft eifersüchtig. Ich konnte mir vorstellen, daß sie sehr darunter litt. Schon gleich zu Anfang, als Logan und ich verliebt waren, wollte sie ihn mir wegnehmen. Doch als Logan nicht mehr mit mir zusammen war, interessierte er sie nicht. Sie wollte ihn nur, wenn ich ihn hatte.
Wie muß sie doch unter meinem Schatten leiden! Würde sie jemals einen Mann lieben aus sich selbst heraus und nicht, weil sie dachte, es wäre einer, den ich will? Würde sie ihn lieben, weil er sie liebte, ihn ernsthaft und ehrlich lieben? Es war möglich, daß Fanny nicht in der Lage war, auf diese Art zu lieben. Vielleicht war es das, was sie in unserem harten Leben in den Willies gelernt hatte.