Читать книгу Dunkle Verheißung - V.C. Andrews - Страница 5
PROLOG
ОглавлениеLieber Paul,
ich habe bis zum letzten Moment gewartet und Dir diesen Brief vor allem deshalb geschrieben, weil ich bis jetzt nicht sicher war, ob ich tun werde, worum mein Vater mich gebeten hat, nämlich, zusammen mit meiner Zwillingsschwester Gisselle eine Privatschule für Mädchen in Baton Rouge zu besuchen. Ich habe es ihm zwar versprochen, aber es bereitet mir Alpträume. Ich habe die Broschüren der Schule gesehen, die sich Greenwood nennt. Alles sieht wunderschön aus, ein imposantes Gebäude, in dem die Klassenzimmer untergebracht sind, eine Aula, eine Turnhalle und sogar ein überdachter Pool, außerdem drei Schülerwohnheime, vor denen üppige Weiden und Eichen stehen. Das Gelände hat einen eigenen Teich, an dessen Ufer lavendel-farbene Hyazinthen stehen, und es ist mit Roteichen und Walnußbäumen bewaldet. Es gibt Tennisplätze und Felder für Ballspiele – kurz und gut, alles, was man sich nur wünschen kann. Ich bin sicher, daß die Einrichtungen, aber auch die Möglichkeiten, die sich dort bieten, weit besser sind als alles, was ich in unserer staatlichen Schule in New Orleans hätte.
Aber es ist eine Schule, die nur von den reichsten jungen Frauen aus den besten kreolischen Familien in ganz Louisiana besucht wird. Ich habe keine Vorurteile gegen reiche Leute und angesehene Familien, aber ich weiß, daß ich dort von Dutzenden und Aberdutzenden von Mädchen umgeben sein werde, die so aufgewachsen sind wie Gisselle. Sie werden so denken wie sie, und sie werden mir das Gefühl geben, eine Außenseiterin zu sein.
Mein Vater ist voller Zuversicht. Er glaubt, ich kann jedes Hindernis überwinden und es mühelos mit jedem einzelnen der snobistischen Mädchen aufnehmen. Er setzt so viel Vertrauen in meine künstlerische Begabung, daß er sicher ist, die Schule wird dieses Talent sofort anerkennen und dafür sorgen, daß es weiter ausgebildet wird – damit ich Erfolg habe und die Schule sich diesen Erfolg zuschreiben kann. Ich weiß, daß er mir nur helfen will, meine Zweifel und Ängste abzuschütteln.
Aber wie unwohl mir auch bei dem Gedanken ist, diese Schule zu besuchen, vermute ich doch, es ist das Beste, was ich im Moment tun kann, denn auf die Art kann ich zumindest meiner Stiefmutter Daphne entkommen.
Als Du bei uns zu Besuch warst und mich gefragt hast, ob die Lage sich gebessert habe, habe ich ja gesagt, aber das war nicht die ganze Wahrheit.
In Wahrheit wäre ich beinahe in der Nervenheilanstalt eingesperrt und vergessen worden, in der mein armer Onkel Jean, der Bruder meines Vaters, sitzt. Meine Stiefmutter hatte sich mit dem Anstaltsleiter verschworen, um mich einweisen zu lassen. Dank der Hilfe eines sehr netten, aber äußerst gestörten jungen Mannes namens Lyle konnte ich fliehen und nach Hause zurückkehren. Als ich meinem Vater berichtete, was vorgefallen war, hatten er und Daphne daraufhin eine fürchterliche Auseinandersetzung. Nachdem alles geklärt war und er mir den Vorschlag unterbreitet hatte, mich und Gisselle nach Greenwood zu schicken, habe ich gesehen, wie wichtig es ihm war, uns von Daphne fernzuhalten, und ich habe auch gesehen, wie glücklich sie darüber war, daß wir fortgehen.
Deshalb bin ich so hin- und hergerissen. Einerseits macht mich der Gedanke an Greenwood sehr nervös, und andererseits bin ich froh, dem zu entkommen, was sich zu einem sehr düsteren und trostlosen Zuhause entwickelt hat. Ich habe ein schlechtes Gefühl dabei, meinen Vater zu verlassen. Er scheint binnen weniger Monate um Jahre gealtert zu sein. Da und dort ziehen sich plötzlich graue Strähnen durch sein kastanienbraunes Haar, er hält sich nicht mehr so aufrecht und bewegt sich auch nicht mehr so energisch wie noch kurz nach meiner Ankunft. Nur sehr ungern lasse ich ihn im Stich, aber er wünscht, daß Gisselle und ich diese Privatschule besuchen, und ich möchte ihn glücklich machen und ihm einen Teil seiner Last und seiner Anspannung nehmen.
Gisselle hat nicht aufgehört zu jammern und zu klagen. Ständig droht sie damit, nicht nach Greenwood zu gehen. Sie ächzt und stöhnt darüber, daß sie im Rollstuhl sitzen muß, und sie hetzt alle im Haus durch die Gegend, ihr dies und jenes zu holen und sich jeder ihrer Launen zu fügen. Ich habe sie nicht ein einziges Mal sagen hören, daß Martin und sie selbst schuld waren an dem Autounfall, weil sie Pott geraucht hatten. Statt dessen will sie der ungerechten Welt die Schuld daran zuschieben. Ich kenne den wahren Grund, aus dem sie sich darüber beklagt, nach Greenwood gehen zu sollen; sie fürchtet, dort nicht alles, was sie will, auf der Stelle zu bekommen. Wenn sie vorher schon schrecklich verzogen war, dann war das gar nichts im Vergleich zu dem, was sie jetzt ist. Das macht es mir schwer, Mitleid mit ihr zu haben.
Ich habe ihr alles erzählt, was ich über unsere Herkunft weiß, obwohl sie immer noch nicht akzeptieren will, daß ihre Mutter eine Cajun war. Natürlich akzeptiert sie bereitwillig alles, was ich ihr über Grandpère Jack erzähle, wie er die Schwangerschaft unserer Mutter ausgenutzt hat, um ein Geschäft mit Grandpère Dumas zu machen und Gisselle an die Dumas zu verkaufen. Er wußte damals nicht, daß unsere Mutter mit Zwillingen schwanger war, und Grandmère Catherine hat ihm diesen Umstand bis zum Tag unserer Geburt vorenthalten, weil sie nicht bereit war, mich auch zu verkaufen. Ich habe Gisselle gesagt, sie hätte ohne weiteres diejenige von uns beiden sein können, die im Bayou geblieben wäre, und ich hätte diejenige sein können, die in New Orleans aufgewachsen wäre. Diese Möglichkeit läßt sie erschauern, und dann klagt sie eine Zeitlang nicht mehr; trotzdem ist das Zusammensein mit ihr schwer zu ertragen, und ich wünschte manchmal, ich wäre nie aus dem Bayou fortgegangen.
Natürlich denke ich oft an das Bayou und die wunderschönen Tage, die wir gemeinsam verbracht haben, als Grandmère Catherine noch am Leben war und wir beide, Du und ich, die Wahrheit über uns nicht wußten. Wer auch immer gesagt haben mag, daß Unwissenheit selig macht, er hat die Wahrheit gesagt, insbesondere, wenn es um Dich und mich geht. Ich weiß, daß es für Dich schwerer war, mit dieser Wahrheit zurechtzukommen; Du mußtest, vielleicht mehr als ich, mit Lug und Trug leben. Aber wenn ich eins gelernt habe, dann, daß wir vergeben und vergessen müssen, wenn wir auch nur an irgend etwas auf Erden noch Freude haben wollen.
Ja, ich wünschte, wir wären nicht Halbbruder und Halbschwester und, ja, ich käme zu Dir nach Hause, und wir würden uns im Bayou ein gemeinsames Leben aufbauen, denn das ist immer noch das, woran mein Herz am meisten hängt; aber das hat uns das Schicksal nicht bestimmt. Ich möchte, daß wir für immer nicht nur Bruder und Schwester, sondern auch Freunde sind, und Gisselle, nachdem sie Dich jetzt kennengelernt hat, wünscht sich dasselbe. Jedesmal, wenn ich einen Brief von Dir bekomme, besteht sie darauf, daß ich ihn ihr vorlese, und jedesmal, wenn Du sie erwähnst oder sie grüßen läßt, strahlt sie. Man weiß bei Gisselle allerdings nie, woran man ist und ob es sich nicht nur um eine vorübergehende Laune handelt.
Ich freue mich schrecklich über Deine Briefe, aber ich kann doch nichts dagegen tun, daß ich jedesmal ein wenig traurig werde. Ich schließe die Augen und höre die Symphonie der Zikaden oder den Ruf der Eule. Manchmal bilde ich mir ein, Grandmère Catherines Gerichte tatsächlich zu riechen.
Gestern hat Nina uns zum Mittagessen geschmorte Langusten zubereitet, genauso, wie Grandmère Catherine sie gekocht hat, mit einer Buttersauce und kleingehackten grünen Zwiebeln. Sowie Gisselle gehört hat, daß es ein Cajun-Gericht ist, fand sie es natürlich widerlich. Nina hat mir zugezwinkert, und wir haben heimlich miteinander gelacht, denn nur wir beide wußten, daß Gisselle vorher herzhaft zugelangt hatte.
So oder so verspreche ich Dir zu schreiben, sowie wir uns in Greenwood eingewöhnt haben, und falls es Dir möglich ist, wirst Du uns vielleicht demnächst dort besuchen. Aber zumindest weißt Du dann, wohin Du mir schreiben kannst.
Ich möchte gern mehr über das Bayou und die Menschen dort hören, vor allem über Grandmère Catherines Freundinnen. Aber mehr als alles andere möchte ich von Dir hören. Ich nehme an, ein Teil von mir möchte auch etwas über Grandpère Jack hören. Es fällt mir zwar schwer, an ihn zu denken, ohne zugleich an die abscheulichen Dinge zu denken, die er getan hat, aber ich stelle mir vor, daß er inzwischen ein schwächlicher alter Mann ist.
Uns ist so früh in unserem Leben so viel zugestoßen. Vielleicht ... vielleicht haben wir genug Unglück und harte Zeiten durchgemacht, vielleicht können wir den Rest unseres Lebens glücklich verbringen und gute Zeiten haben. Bin ich dumm, wenn ich so etwas denke?
Ich kann deutlich sehen, wie Du mich mit Deinen wunderschönen blauen Augen anlächelst, sie funkeln und strahlen.
Wir haben heute eine sehr warme Nacht. Der Abendwind trägt den Duft von grünem Bambus, Gardenien und Kamelien hoch zu mir. Es ist eine jener Nächte, in denen man meilenweit jeden Laut hören kann. Ich sitze an meinem Fenster und höre die Straßenbahn durch die St. Charles Avenue rattern, und irgendwo spielt jemand Trompete. Es klingt traurig und doch schön.
Jetzt sitzt eine Trauertaube auf dem Geländer der oberen Galerie und stößt ihre Klageschreie aus. Grandmère Catherine hat früher immer gesagt, wenn ich abends zum erstenmal die Taube höre, muß ich jemandem etwas Gutes wünschen, und zwar schnell, sonst wird ihr trauriger Ruf einem Menschen, den ich liebe, Pech bringen. Es ist eine Nacht zum Träumen, eine Nacht für Wünsche. Ich wünsche mir etwas für Dich.
Geh nach draußen, und ruf den Sumpffalken für mich. Und dann wünsch mir etwas.
Wie immer alles Liebe
Ruby