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PROLOG

Immer wenn ich Geschichten über Mädchen meines Alters lese, frage ich mich, was mit meiner Kindheit passiert ist. Ich wurde geboren, und jetzt bin ich einfach da – Cathy Carson, siebzehn. Die Erinnerungen an die Jahre davor sind verschwommen. Natürlich wusste ich warum. Ich will mich nicht daran erinnern, nicht nach all dem, was geschehen ist, nicht nach dem, was mein Vater mir angetan hat.

Er ist aus unserem Leben verschwunden, aber nicht wirklich weg. Er ist nie weit entfernt. Ich muss nur die Augen schließen, und da ist er wieder – lächelt, flüstert mir leise zu, wie hübsch ich bin, und berührt mich dann.

Ich schaudere, als würde mir Eis über den Rücken laufen. Dann schüttele ich heftig den Kopf, um diese Bilder durcheinander zu wirbeln und dadurch den Schmerz zu lindern. Er verschwindet, und eine Weile bin ich sicher.

Nach monatelangen Besuchen bei meiner Therapeutin Dr. Marlowe und der Gruppentherapie mit den anderen »Waisen mit Eltern« Jade, Star und Misty konnte ich mich wieder dem normalen Leben zuwenden. Ich hatte mein erstes Jahr an der St. Jude’s High School beendet und die Gruppentherapie hinter mich gebracht. Noch eine weitere Sitzung bei meiner Therapeutin sollte folgen, dafür war aber noch kein Termin festgesetzt worden.

Als unsere Gruppensitzungen endeten, glaubte ich nicht, dass die anderen Mädchen mich wirklich zur Freundin haben und mit mir in Kontakt bleiben wollten, obwohl wir das verabredet hatten und Jade alle unsere Telefonnummern notiert hatte. Wir hatten einander so viele intime Geheimnisse anvertraut. Manchmal bindet es Menschen eng aneinander, solche Dinge miteinander zu teilen, schafft Bande, die fast nicht zu zerreißen sind.

Aber manchmal, wenn dir klar wird, was du enthüllt hast, kannst du dem Zuhörer nicht wieder ins Gesicht sehen. Es ist dir peinlich, dass er deinen Schmerz und deine Erniedrigung sieht, wenn er dich anschaut. Du wendest dich ab. Du wünschst, er würde weggehen, und du vermeidest, mit ihm in Kontakt zu treten. Am liebsten möchtest du ihn wieder zu einem Fremden machen. Vielleicht trefft ihr euch zufällig irgendwo, starrt einander ausdruckslos ins Gesicht und tut so, als sähet ihr einander nicht.

Eine Hälfte von mir hoffte, das würde geschehen, aber die andere Hälfte, die Hälfte, die sich nach Freundinnen und verwandten Seelen sehnte, hoffte, das würde nicht geschehen. Niemand außer meinem Vater, der seine Gründe dafür hatte, hat je ein Versprechen mir gegenüber gehalten. Ich erwartete nicht, dass die Mädchen es tun würden. Jede von ihnen hatte ihre eigenen Probleme, und jede war bestimmt beschäftigt und abgelenkt.

Misty Fosters Eltern hatten eine üble Scheidung hinter sich; ihr Vater hatte eine Affäre mit einer viel jüngeren Frau. Ihre Mutter traf sich mit anderen Männern, ging aber völlig darin auf, jung und schön zu sein. Die arme Misty fühlte sich so allein, dass sie die Idee hatte, sich und uns die »Waisen mit Eltern« oder WMEs zu nennen.

Es war ein komischer Einfall, aber nach einer Weile gefiel er mir, weil ich noch nie Mitglied irgendeiner Organisation oder eines Clubs gewesen war, noch nie in einem Stück oder einer Mannschaft mitgespielt hatte. Es handelte sich nicht um die Art Clubmitgliedschaft, die irgendjemand anstrebte, aber zumindest gab es so etwas wie Gemeinschaftssinn, das Gefühl, etwas zu teilen.

Star Fisher lebte mit ihrem achtjährigen Bruder Rodney bei ihrer Großmutter Pearl Anthony, der Mutter ihrer Mutter, nachdem zuerst ihr Vater die Familie verlassen hatte und dann ihre Mutter mit einem Freund davongelaufen war. Dennoch war Star die Stolzeste und in mancher Hinsicht die Stärkste von uns. Als ich sie kennen lernte, hatte ich Angst vor ihr. Sie wirkte so hart und sogar gemein, aber nachdem ich ihre Geschichte und sie unsere gehört hatte, schien sie weicher zu werden und mich und die anderen sogar beschützen zu wollen. Ich wollte in vieler Hinsicht so sein wie sie.

Und dann war da noch die Präsidentin unseres Clubs, Jade Lester, ein schönes und reiches Mädchen, das in einer Villa in Beverly Hills lebte. Ihre Eltern behandelten sie wie ein Besitzstück, einen Aktivposten, um den sie sich während ihrer unschönen Scheidung stritten. Die Eltern waren starke und unabhängige Persönlichkeiten: der Vater ein berühmter und erfolgreicher Architekt, die Mutter, Managerin in einer Kosmetikfirma, widmete sich ihrer Karriere mit Leidenschaft und ließ sich von ihrer Verantwortung als Mutter bei ihrem Aufstieg auf der Karriereleiter nicht in die Quere kommen. Als wir unsere Gruppentherapie beendeten, handelten ihre Eltern gerade einen Kompromiss in der Frage des Sorgerechtes aus, hatten ihn aber noch nicht erzielt.

So schlimm meine Geschichte auch war, am Ende taten mir die anderen Leid. Die anderen schienen hingegen mehr Mitgefühl für mich als für sich selbst aufzubringen. Dabei kannten sie nicht einmal die ganze Wahrheit über meine Familie.

Familie ist solch ein seltsames Wort in meiner Situation. Ich war adoptiert worden, hatte das aber erst entdeckt, nachdem mein Vater begonnen hatte, sich mir aufzuzwingen. Die anderen Mädchen waren es, die mich auf die Frage brachten, warum meine Mutter überhaupt ein Kind hatte adoptieren wollen. Sie schien sich nicht wohl zu fühlen mit mir und hasste die Verantwortung als Mutter. Ich hatte mich schon früher gefragt, was sie veranlasst hatte, ein Kind zu wollen, aber nicht mit solchem Nachdruck und solcher Dringlichkeit, die die Mädchen in mir angestachelt hatten. Schließlich stellte ich meine Mutter zur Rede und zwang sie, mir die Wahrheit zu erzählen oder was ich als die schmutzige Wahrheit entdeckte.

Ich war nicht wirklich ihre Adoptivtochter, sondern ihre Halbschwester. Unsere Mutter hatte, als sie über vierzig war, eine Liebesaffäre gehabt und war schwanger geworden. Meine Halbschwester war gezwungen worden, Howard Carson zu heiraten und mich zu adoptieren. Es gab noch vieles, was ich nicht wusste, aber diese Enthüllung reichte aus, dass mir ganz schlecht wurde und ich mich noch unerwünschter und verwirrter fühlte.

Was war ich? Wer war ich? Zu erfahren, dass man ein bedauerlicher Fehltritt war, eine Sünde, eine Peinlichkeit, ist grauenhaft, aber ich musste noch mehr erfahren.

Meine Halbschwester Geraldine (es bereitet mir jetzt große Schwierigkeiten, an sie als meine Mutter zu denken) hat mich immer gewarnt, der Wahrheit zu nahe zu kommen. Sie behauptete, dass es dich nicht befreit. Sie sagte: »Es ist wie bei allem Guten. Es lässt dich im Dunkeln zurück. Stell nicht so viele Fragen.«

Einmal als ich ihr eine meiner endlosen Litaneien von Fragen stellte und ihr sagte, ich müsse die Wahrheit wissen, die Wahrheit sei wichtig, reagierte Geraldine, indem sie mich fragte: »Was wäre, wenn du schrecklich hässlich wärst, aber in einer Welt lebtest, in der es keine Spiegel, keine reflektierenden Flächen gibt, keinerlei Möglichkeit, dich selbst zu sehen und es zu erfahren? Wärst du besser dran, wenn jemand dir einen Spiegel mitbrächte und dir dein Gesicht zeigte? Das ist auch die Wahrheit, und sie bringt nur Schmerzen.«

Hatte sie Recht? Hatte ich sie gezwungen, einen Spiegel hochzuhalten? War mein Schmerz mein eigenes Werk? Vielleicht hasste sie es deshalb, in Spiegel zu schauen und sich um ihr Aussehen zu kümmern. Vielleicht kritisierte sie deshalb die meisten Frauen als krankhaft selbstverliebt, erlaubte mir nur bestimmte Bücher und Zeitschriften, als ich jünger war, und gestattete mir nicht, bestimmte Fernsehprogramme anzuschauen. Vielleicht schimpfte sie deshalb über manche Werbespots und verlangte von mir, dass ich alles Menschenmögliche tat, um meine Brüste zu verstecken, als sie sich viel zu früh entwickelten.

Aber vielleicht gab es einen anderen Grund, einen tiefer liegenden Grund, einen Grund, den sie noch mehr fürchtete als die Wahrheiten, die sie bereits preisgegeben hatte. Unser Haus steckte voller Geheimnisse, unausgesprochenen finsteren Gedanken, die in Ecken lauerten oder wie Insekten unter Teppichen oder in verschlossenen Schränken hausten. Sollte ich sie herausholen? Sollte ich tun, wovor sie mich gewarnt hatte? Sollte ich mich weiter an das Schweigen klammern, fortschauen, die Augen schließen?

Ich erinnerte mich, wie Star ihre Fantasiewelt beschrieb, ihren fliegenden Teppich, der sie von ihrem Unglück fortträgt. Dazu war ich nie imstande. Es war mir immer zu schwierig, das hauchdünne Gewebe meiner Träume wurde zu leicht zerstört von Geraldines Stimme oder Blick. Meine Fantasien waren wie ein Ballon, der vom Boden abheben wollte und explodierte oder die Luft verlor und mich hart auf den Boden knallen und tief in meiner Einsamkeit Wurzeln schlagen ließ.

Uhren tickten, Tag wurde zu Nacht und wieder zu Tag. Ich erfüllte meine Pflichten, als sei ich hypnotisiert, mechanisch, ohne jegliche innere Regung, erschreckt vom Geräusch meines eigenen Gelächters, falls es je ertönte, und sogar überrascht von meinen eigenen Tränen und Schluchzern.

Nachdem Geraldine mir zögernd einen Teil der Wahrheit erzählt hatte, fühlte ich mich noch entfremdeter und allein. Ich starrte aus meinem Fenster auf die Straße hinaus und beobachtete, wie die Autos vorbeifuhren, fragte mich, wer diese Leute waren und wohin sie fuhren. Ich hielt auch Ausschau nach Anzeichen auf meinen Stiefvater. Für immer und ewig lauerte er drohend dort draußen.

Geraldine glaubte, er würde es nicht wagen aufzutauchen, aber insgeheim fürchtete ich, er würde zurückkommen. Vielleicht würde ich als Erstes seine Hände sehen, diese langen Spinnenfinger, dann träte er aus der Dunkelheit, lächelte und griff nach mir. Ich würde meinen Körper schließen wie eine Faust und den Atem anhalten.

Und er würde mich wieder berühren. So sehr ich es auch versuchte, ich konnte mich selbst nicht verschließen. Meine Protestschreie würden ungehört verhallen, und er würde mich mit einem Tuch, gewoben aus Finsternis, zudecken.

Garten der Versuchung

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