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KAPITEL ZWEI

Wieder vereint

Die Eingangshalle in Jades Haus war fast so groß wie unser Wohnzimmer. Auf dem Boden glitzerten üppige goldbraune Fliesen. Zur Rechten hing ein ovaler Spiegel in Wandgröße, in dem wir drei uns spiegelten, als wir die breiteste, eindrucksvollste Treppe anstarrten, die ich je im wirklichen Leben gesehen hatte. Die Stufen waren mit rotem Samt ausgeschlagen.

»Ich habe das Gefühl, gerade Vom Winde verweht betreten zu haben«, verkündete Misty.

An der Wand links von der Treppe hing ein gewaltiges Ölgemälde einer feuchten Weide mit einer Art Mühle im Hintergrund unter einem stürmischen Himmel.

»Das ist das größte Gemälde, das ich je gesehen habe«, staunte Star beeindruckt.

»Das ist ein Jonathan Sandler. Er ist ein amerikanischer Künstler, der im späten neunzehnten Jahrhundert arbeitete und die niederländischen Landschaftsmaler imitierte. Mein Vater bekam es als Teil eines Deals mit einem reichen Bauunternehmer in Virginia. In diesem Haus gibt es viele Gemälde«, fuhr sie fort. Ihr beiläufiger Ton ließ es eher so klingen, als sei sie gelangweilt, und nicht, als wollte sie angeben. »Manche hat meine Mutter gekauft, andere hat mein Vater angeschafft, daher ist es eine Mischung aus Stilen. Sie waren sich nie bei irgendetwas einig, warum sollte das bei Bildern anders sein?«

Misty nickte wissend. In dieser Hinsicht unterschieden sich ihre Eltern nicht sehr von Jades.

Alle Zimmer des Hauses waren riesig und üppig ausgestattet. Außer den Kunstwerken an den Wänden standen fast überall Vasen und Uhren, Kristallwaren und Statuetten. Ich sah nicht viel leeren Raum, daher kam es mir so groß und so voll wie ein Museum vor.

Wir drei gafften immer weiter, während Jade uns durch das Haus zum Fernsehzimmer führte, einem lang gestreckten Raum mit getäfelten Wänden, einem eingebauten Fernseher mit Großbildschirm und einer Wand mit Bücherregalen, die fast bis zur Decke reichten. Sie führte uns durch die Terrassentür in einen großen gefliesten Patio. Auf der rechten Seite des Patios waren lange schmale Tische zusammengestellt, auf denen sich ein Büfett türmte. Ein Hausmädchen und der Butler warteten darauf, uns zu bedienen.

Es sah aus, als reichte das Essen für eine ganze Hochzeitsgesellschaft. Ein Tisch war beladen mit Salaten, eingerahmt von Brot und Brötchen, auf einem anderen Tisch standen Platten mit Fleisch, Schrimps und sogar kleinen Hummerschwänzen. Auf einem dritten Tisch gab es Limonade und Säfte sowie Desserts: Törtchen, Kekse, zwei Kuchen und Schüsseln mit Obstsalat.

»Wer kommt denn alles?«, fragte Star atemlos vor Ehrfurcht.

»Wer kommt? Niemand kommt. Meine Mutter ist auf einer Geschäftsreise, und mein Vater ist in Nashville, um mit Investoren zu verhandeln, die ein Musiktheater bauen wollen.«

»Du meinst, das ist alles für uns?«, fragte Star.

»Ich war mir nicht sicher, was ihr mögt, deshalb habe ich sie gebeten, eine Auswahl vorzubereiten.«

»Eine Auswahl? Manche Supermärkte haben nicht so viel Auswahl. Was passiert mit all dem Essen, das wir nicht aufessen?«, wollte Star wissen.

»Ich weiß es nicht«, sagte Jade, die allmählich ärgerlich wurde. »Dienstboten machen irgendwas mit den Resten. Deshalb sind sie ja da. Kommt, wir holen uns etwas zu essen und setzen uns hin.«

»Bin ich froh, dass ich nicht viel zum Frühstück gegessen habe«, rief Misty und ging zum Büfett. Das Hausmädchen reichte ihr sofort einen Teller, und der Butler wartete nur darauf, ihre Wünsche zu hören. Dann bediente er sie.

Ich wusste nicht, für was ich mich als Erstes entscheiden sollte. Ich versuchte von allem ein bisschen zu probieren, aber der Butler legte zu große Portionen von allem auf meinen Teller.

Jade nahm am wenigsten von uns allen. Wir setzten uns an einen großen Tisch unter einen Sonnenschirm. Der Butler und das Hausmädchen brachten uns dort, was immer wir zu trinken wünschten. Dann stellten sie sich wieder an das Büfett und warteten darauf, ob eine von uns noch etwas wollte.

»Isst du immer so?«, erkundigte Star sich. »Mit Dienstboten und allem?«

»Nein. Meistens nehme ich nur einen Obstshake oder einen Joghurt, aber dies ist ein besonderer Anlass.«

»Donnerwetter. Ich wusste gar nicht, wie besonders dieser Anlass ist«, sagte Star, und wir alle lachten, sogar ich. Während wir dort saßen, aßen und uns unterhielten, starrte ich die wunderschöne Gartenanlage an. Der Rasen wirkte eher wie ein Teppich. Die Büsche und Blumen waren perfekt arrangiert und beschnitten. Als ob einer der berühmten Künstler, deren Bilder drinnen an den Wänden hingen, den Garten gestaltet hätte. Der nierenförmige Swimming-Pool endete in einem Whirlpool, von dem aus das blaugrüne Wasser in den eigentlichen Pool zurückfloss. Um den Patio herum standen Liegestühle mit dicken Kissen und ein kleines Zelt mit einer Außendusche.

»Es ist wirklich wunderschön hier«, platzte ich plötzlich heraus. Die anderen hörten auf zu reden, schauten einander an und lachten.

»Du hörst dich an, als seist du gerade aufgewacht«, meinte Star.

»Ich weiß nicht, ob ich wache oder träume.«

»Willst du sie noch eingebildeter machen, als sie ohnehin schon ist?«, warnte Star mich und nickte in Jades Richtung.

»Mach dir darüber keine Sorgen, Star. Wenn ich vom rechten Weg abweiche, bist du ja da, um mich mit deinen Sprüchen umzuhauen.«

»Das ist wahr«, bestätigte Star. Misty lachte, und wir alle schwiegen eine ganze Weile.

»Ich kann nichts dafür. Ich habe immer noch das Gefühl, als wären wir bei Dr. Marlowe«, sagte Misty. »Ständig rechne ich damit, dass eine von uns beginnt, über ihre familiären Probleme zu reden.«

»Dann wollen wir doch direkt eine weitere Regel festlegen … wir reden nicht über dieses Zeug, es sei denn, wir alle beschließen, dass es okay ist, einverstanden?«

»Worüber sollen wir denn reden?«, fragte Misty.

»Es gibt noch eine Menge anderer Dinge außer unserem elenden Familienleben«, beharrte Jade. »Hat beispielsweise eine von euch jemanden kennen gelernt?«

Sie schaute sich am Tisch um.

»Ich nicht. Noch nicht«, ergänzte Star geheimnisvoll.

»Was soll das heißen ›noch nicht‹?«, hakte Jade nach. Ihre perfekt gezupften Augenbrauen neigten sich gegeneinander.

»Also neulich war ich bei Lily Porter und sah dort ein Foto ihres Cousins Larry. Er ist bei der Armee. Er hat ihr dieses Bild in Uniform, wie er neben einem Panzer steht, geschickt. Im Moment ist er noch in Deutschland stationiert, kommt aber bald zurück.«

»Und?«, sagte Jade.

»Und ich fand ihn toll. Sie sagte mir, soweit sie wüsste, hat er hier keine Beziehung mit einem Mädchen. Sie wird mich ihm vorstellen, sobald er wieder zu Hause ist. Sie meinte, sie würde eine Party geben und so was.«

»Genau. Und in dem Augenblick, in dem er dich erblickt, haut es ihn um«, höhnte Jade.

Star kniff die Augen einen Moment zusammen, dann lächelte sie.

»Tja, vielleicht leihe ich mir ja eins von deinen teuren Outfits und blende ihn, so wie du jeden Mann blendest, der dich sieht.«

Jade lachte.

»Klar. Such dir aus, was du haben möchtest. Ich habe Zauberkleider, mit denen du garantiert den Mann, den du liebst, erringen kannst.«

»Was ist denn mit dir? Hat jemand in letzter Zeit dein Herz in Flammen gesetzt?«, wollte Star wissen.

Misty und ich waren wie Zuschauer in diesem verbalen Tennismatsch. Unsere Köpfe drehten sich von einer Seite zur anderen.

»Nein. Meine Mutter nahm mich vor zwei Tagen mit zu einer Nachmittagsparty bei den Nelsons, damit ich ihren Sohn Sanford kennen lernte, der gerade vom Studium in Europa heimgekehrt war. Er ist reich und sehr intelligent, hat aber die Persönlichkeit einer Warze auf der Nase. Wo wir gerade über eingebildet reden … Dieser Bursche schaut Mädchen nur in die Augen, um dort sein eigenes Spiegelbild zu sehen.«

Wir lachten alle. Wie sehr wünschte ich mir, ich hätte auch ein paar Geschichten, ein paar Erfahrungen zu berichten, aber ich konnte nur zuhören und neidisch sein.

»Wollen wir wirklich einen Club gründen?«, fragte Misty, als wir alle schwiegen.

»Club hört sich so kindisch an«, meinte Jade. »Lasst es uns irgendwie anders nennen.«

»Wie denn?«, fragte Star.

»Ich weiß es nicht. Irgendeiner muss eine Idee haben. Mir fällt nichts ein.«

»Ich bin überrascht, dass du so etwas zugibst«, murmelte Star.

Wir schwiegen alle und dachten nach.

»Warum nennen wir uns nicht einfach Schwestern«, schlug ich vor.

Sie wandten sich mir zu.

»Ich meine nicht wirkliche Schwestern, sondern …«

»Mir gefällt das«, sagte Jade. »Die WMEs, Schwestern des Unglücks.« Sie warf Star einen Blick zu.

»Wie ist es?«, fragte Misty. »Kann ich uns T-Shirts machen lassen?«

»Wie würdest du das deinen Eltern erklären?«, fragte Star.

»Ich weiß es nicht. Keiner von ihnen fragt mich je, was meine T-Shirts bedeuten. Sie tun so, als sähen sie sie gar nicht. Dieses hier wäre genauso.«

»T-Shirts reichen nicht aus, um uns zu Schwestern zu machen«, gab Jade zu bedenken.

Plötzlich wirkte sie anders, finsterer, tiefer in Gedanken versunken. »Es gibt etwas, das ich Dr. Marlowe nie erzählt habe.«

»Was denn?«, fragte Star.

Jade wandte sich nach rechts und schaute am Haus hoch. »Ich habe meine eigene private Welt. Ein Raum im Dachboden mit nur einem kleinen Fensterchen. Dort gehe ich hin, wenn ich das Gefühl haben möchte, ich …«

»Was?«, fragte Misty.

»Ich bin weit weg von allem«, sagte sie mit einer wischenden Handbewegung. »Wir werden nach oben gehen und die Zeremonie durchführen.«

»Zeremonie? Welche Zeremonie?«, fragte Misty mit weit aufgerissenen Augen.

»Dieses Ritual wird uns das Gefühl geben, enger zusammenzugehören, eher wie Schwestern zu sein.« Als sie Star einen Blick zuwarf, hatte ich das Gefühl, die beiden hatten vorher bereits darüber gesprochen. Stars Lippen entspannten sich zu einem kleinen Lächeln.

»Ritual?«, fragte Misty mit besorgtem Gesichtsausdruck.

»Du hast doch keine Angst, oder?«, neckte Jade sie.

»Nein, nein. Natürlich nicht. Was ist mit dir, Cat?«, fragte sie mich rasch.

»Ich glaube, nicht einmal Jade, ja nicht einmal Jade und Star zusammen könnten sich irgendetwas ausdenken, das mich mehr ängstigt als meine eigenen Erinnerungen«, sagte ich.

Alle wurden ernst und nickten.

»Deshalb brauchen wir das«, sagte Jade. »Deshalb habe ich euch alle hierher eingeladen. Deshalb ist Schwestern nicht wirklich eine Übertreibung. Wir sind mehr als Freunde. Wir sind eine Familie.«

Sie starrte in den wunderschönen Garten hinaus.

»Vielleicht sind wir ja die einzige Familie, die wir haben.« »Dann lass uns damit anfangen«, meinte Star.

»Können wir nicht zuerst das Dessert essen?«, rief Misty, die die Kuchen und Kekse beäugte.

Alle lachten, aber es war anders, ein Lachen voller Nervosität, dünn und zerbrechlich wie wir alle.

Vielleicht war es das, was uns wirklich zu Schwestern machte, dachte ich.

Nachdem wir das Essen beendet hatten, betraten wir wieder das Haus. Dabei sprachen wir alle leiser und dämpften unsere Stimmen, als hätten wir gerade eine Kirche betreten. Jade führte uns zurück zu der prachtvollen Treppe und erzählte uns, wie sie den Raum im Dachboden entdeckt hatte, als sie sieben Jahre alt war, und wie sie ihre kostbaren Schätze dort aufbewahrt hatte. Als ihr Vater ihr Treiben entdeckte, fand er das amüsant. Er ließ den Raum für sie herrichten, reinigen und tapezieren und fand sogar spezielle Möbel dafür.

Plötzlich blieb sie am Fuß der Treppe stehen und warf uns allen einen drohenden Blick zu.

»Wir wollen jetzt eine weitere Regel festlegen und uns daran halten. Wir wollen versprechen, einander nie zu belügen oder zu vermeiden, ihr etwas Unangenehmes zu sagen, wenn wir tief im Herzen das Gefühl haben, es sei das Beste für unsere Schwester. Entweder sind wir anders als alle anderen da draußen oder wir sind es nicht. Entweder sind wir wirklich aufrichtig zueinander und wachsen wirklich zu einer Familie zusammen oder nicht«, betonte sie. »Nun?« Sie schaute Star direkt ins Gesicht.

»Finde ich in Ordnung«, sagte Star. »Ich habe dich noch nie über etwas belogen, das mit dir nicht in Ordnung ist.« »Das gilt auch umgekehrt.«

»Das sollte es auch«, entgegnete Star.

»Cat?«

Ich nickte, obwohl ich das Gefühl hatte, die größte Zielscheibe für die kritischen Pfeile der anderen abzugeben.

»Misty?«

»Für mich ist das in Ordnung. Mir ist es egal, was jemand über mich sagt«, fügte sie hinzu.

»Na bitte! Das ist eine Lüge«, beschuldigte Jade sie und hielt ihr den Zeigefinger anklagend vors Gesicht. »Also?« »Okay. Es ist eine Lüge. Was ich meinte, ist, mir ist es egal, was eine von euch hier über mich sagt. Ich meine, es macht mir schon etwas aus, aber ich bin bereit, es hinzunehmen. Ist das in Ordnung?«

»Schon besser«, gab Jade zu, »aber es ist noch nicht aufrichtig genug. Wie auch immer«, fuhr sie fort und wandte sich dabei von Misty ab, die aufatmete und den Kopf schüttelte. »Mein Vater fand all diese Spielsachen für mich und machte mir mein eigenes Puppenhaus zurecht. Manchmal fühlte ich mich selbst wie eine Puppe. Es gibt dort kleine Lampen und Tische, Bücherregale und natürlich kleine Teller, Tassen und Gläser.

Aber ich habe dort noch andere Sachen; Sachen, die eine besondere Bedeutung für mich besitzen, und das sind nicht nur Kleinigkeiten. Ich halte den Raum stets verschlossen. Das Hausmädchen darf nicht einmal dort hinein, um sauber zu machen, was meine Mutter verabscheut. Ich kümmere mich selbst um dieses Zimmer.«

»Wow«, staunte Star mit übertriebener Überraschung, während wir oben den Flur entlanggingen, »du machst tatsächlich ein Zimmer selbst sauber?«

»Okay«, gab Jade zu, »ich bin ein verzogener Fratz.« Sie lächelte. »Aber ich leugne nicht, dass ich es genossen habe.«

»Verabscheut ihr nicht alle diese Wahrheit?«, fragte Star Misty und mich.

Mit einigem Zögern lachten wir beide.

Als wir am Schlafzimmer von Jades Mutter vorbeigingen, warfen wir einen Blick durch die Doppeltür und sahen ein riesiges Himmelbett mit einem Kopfteil, das aussah wie aus Perlen gewirkt. Es erhob sich bis halb zur Decke. Rechts daneben entdeckte ich ein ganzes weiteres Zimmer, einen Wohnraum mit einem Fernseher. Ich fragte sie danach, aber Jade war im Augenblick nicht bereit, stehen zu bleiben, um uns etwas zu zeigen.

Am Ende des Flures befand sich eine schmale Treppe, die uns in den Speicher führte. Rechts war Jades Puppenhaus, links ein Lagerraum. Sie holte einen Schlüssel aus der Tasche, schloss das Vorhängeschloss auf, öffnete die Tür und trat zurück, damit wir hineingehen konnten.

Drinnen blieben wir alle stehen. Es war, als wären wir durch einen Brunnen in das Land Oz oder ein anderes Märchenland gefallen. Vor das kleine Fenster war ein rotweißer Vorhang drapiert. Der Boden war mit einem dicken, cremefarbenen Teppich bedeckt, der ebenfalls rote Streifen hatte. Wie sie es beschrieben hatte, war der Raum mit kleinen weißen Tischen und Stühlen, einem Sofa und niedrigen Stehlampen möbliert. In einem kleinen Schrank stand sogar ein Miniaturfernseher. An den Wänden mit den paradiesapfelroten und weißen Tapeten hingen Bilder von Clowns und Pferden, Landschaftsbilder und Darstellungen einiger Zeichentrickfiguren. Ich fühlte mich genau wie Gulliver in Lilliput, ein Riese unter Zwergen. Ich hatte Angst, mich zu rühren, Angst, ich könnte auf etwas treten oder mit einer unbeholfenen Bewegung etwas zerschlagen.

»Wir müssen die Möbel nicht benutzen«, meinte Jade, als sie sah, dass wir zögernd am Eingang stehen blieben. »Wir können uns auf den Boden setzen. Das tue ich normalerweise auch, wenn ich hier oben bin.«

Sie schloss die Tür hinter sich und ging zu dem kleinen Bereich, wo ein Esstisch mit Puppengeschirr und -besteck gedeckt war. Dahinter befand sich eine Miniaturküche mit Schränken, einer Spüle und einem Herd. Keine von uns, nicht einmal Misty passte auf diese winzigen Küchenstühle. Eine wunderschöne Puppe mit langem, fließendem goldenem Haar hatte den Vorsitz am Kopf des Tisches. Auf den anderen Stühlen saßen Gestalten aus verschiedenen Kindergeschichten. Natürlich erkannte ich Pinocchio und Dorothy aus dem Zauberer von Oz ebenso wie Pocahontas.

Jade öffnete eine der kleinen Schranktüren, griff hinein und drehte sich dann mit einer langen schwarzen Kerze in der Hand zu uns um. Ich sah, wie sie Star anschaute, die nickte. Dann zog Jade die Jalousie vor dem kleinen Fenster herunter, um das Zimmer abzudunkeln. Sie stellte einen Kerzenständer auf den Boden, hockte sich daneben und lud uns ein, dasselbe zu tun. Wir schlossen uns zu einem kleinen Kreis zusammen, Jade steckte die Kerze in den Halter.

»Ich will das nicht allzu dramatisch gestalten, aber ich habe über uns nachgedacht und ein wenig geforscht über Rituale, die dazu bestimmt sind, Menschen aneinander zu binden, wie wir aneinander gebunden sein wollen.«

»Was meinst du mit gebunden?«, fragte Misty.

Jade wirkte einen Augenblick sehr nachdenklich. Es war sehr still. Ich hörte nur das leise Ticken einer kleinen Uhr auf einem Regalbrett hinter mir.

»Wir müssen alle spüren, dass wir Teil von etwas viel Größerem als wir selbst sind. Wenn man einen Teelöffel Wasser in eine Flasche mit Wein gießt, verliert es seine Identität. Es nimmt den Geruch und den Geschmack des Weines an. Genauso müssen wir uns ineinander auflösen.«

»Wie machen wir das?«, fragte Misty. Ohne es zu merken, flüsterte sie.

Statt sofort zu antworten, zündete Jade die Kerze an.

»Wir müssen uns einander, der Schwesternschaft, verpflichten und schwören, dass wir die Interessen von uns allen über unsere persönlichen Interessen stellen.«

Misty wirkte immer noch beunruhigt und verwirrt.

»Möchtest du das nicht tun?«, fragte Jade sie.

Misty schaute mich an und nickte dann.

»Klar. Deshalb sind wir doch hier.«

»Wir haben uns kennen gelernt, weil Menschen, die für uns verantwortlich waren oder es immer noch sein sollten, an ihrem eigenen Glück stärker interessiert waren. Deshalb müssen wir, was uns anbelangt, selbstlos sein«, erklärte Jade.

Die Kerze brannte hell, das Licht flackerte auf unseren Gesichtern und ließ unsere Augen aussehen, als leuchteten in ihnen ebenfalls kleine Kerzen.

»Aber was sollen wir denn tatsächlich tun? Auf die Bibel schwören oder uns ein X in die Handflächen ritzen und eine Art Blutschwur ablegen?«, forschte Misty nach.

»Viel zu abgedroschen, direkt wie aus dem Comic«, erwiderte Jade.

»Also, was denn?« Misty schaute Star an, die wiederum Jade anschaute. Sie nickte in Richtung auf die Kerze.

»Wir müssen etwas den Flammen opfern«, fuhr Jade fort, »etwas, das beweist, wie sehr wir den WME vertrauen.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte ich. »Den Flammen?«

»Das ist nur symbolisch gemeint«, erklärte Jade. »Das Feuer verzehrt die selbstsüchtigen Teile von uns. Es verwandelt eine Form der Energie in eine andere. Deshalb wird es so oft in Ritualen benutzt.«

»Aber was sollen wir hineinwerfen? Welche Form von Energie?« Ich schaute Misty an, die nicht länger besorgt wirkte, sondern fasziniert.

»Wir bringen ein Opfer dar, ein tiefes Geheimnis«, sagte Jade und warf Star einen Blick zu, der mich davon überzeugte, dass die beiden über all dies schon geredet hatten. »Wir verwandeln ein Geheimnis in ein gemeinsames Band, eine Opfergabe, ein Bekenntnis zueinander. Es muss etwas sein, das wir nicht einmal Dr. Marlowe erzählt haben, das so entblößend ist, dass wir es nicht über uns brachten. Es muss also etwas sein, das keine von uns weiß. Wir brauchen etwas, das wir nicht einmal uns selbst gerne eingestehen«, sagte sie und presste die Lippen zusammen. Ihre Augen wirkten noch dunkler als sonst.

Alle schwiegen. Die Kerze leckte die Luft, die Flamme schnappte nach jeder von uns, als fordere sie uns heraus und schreie nach unseren Geheimnissen.

Schließlich brach Jade das Schweigen. »Cat, warum fängst du nicht an?«

»Mir fällt nichts ein, das schlimmer oder geheimer wäre als das, was ich euch von meinem Vater und mir erzählt habe«, erwiderte ich.

»Denk genauer nach«, befahl Jade.

Ich kämpfte mit meinen Erinnerungen. Ich hatte ihnen bei Dr. Marlowe alles erzählt, was wichtig war.

»Nun?«, fragte Misty und schüttelte meine Hand.

»Gib ihr eine Chance«, befahl Star.

Ich hatte ihnen wirklich fast alles über meinen Vater und mich erzählt. Ich wollte alles loswerden. Was konnte ich ihnen jetzt anbieten?

Und plötzlich fiel es mir ein. Das konnte ich ihnen gar nicht erzählt haben, weil ich es damals selbst noch nicht wusste.

»Meine Mutter«, sagte ich, »ist nicht nur meine Adoptivmutter. Sie ist meine Halbschwester.«

Misty und Jade ließen gleichzeitig meine Hände fallen. Ich öffnete die Augen. Alle schauten mich an.

»Deine Halbschwester?«, fragte Jade. »Das verstehe ich nicht.«

»Erinnert ihr euch daran, wie ihr mich ständig danach gefragt habt, warum meine Eltern mich adoptieren wollten, warum insbesondere meine Mutter die Verantwortung für ein Kind übernahm, wenn sie doch in jeder Hinsicht so verklemmt ist? Nun, das ist der Grund.«

Ich erzählte ihnen, was ich über meine leibliche Mutter wusste, wie sie mit mir schwanger wurde, wie meine Halbschwester von ihrem Vater beeinflusst wurde und schließlich heiratete, nachdem sie überzeugt worden war, so zu tun, als sei sie meine Adoptivmutter.

»Niemand außer mir, meiner Mutter und meinem Vater kennt die Wahrheit«, sagte ich. »Niemand außer euch jetzt.«

»Aber wer ist dein leiblicher Vater?«, fragte Misty.

»Ich weiß es nicht. Es gibt vieles, das ich noch nicht weiß. Meine Mutter dazu zu bewegen, mir etwas zu erzählen, ist schlimmer, als Zähne zu ziehen.«

»Du nennst sie immer noch deine Mutter?«

»Es ist schwierig, sie anders zu nennen, wenn ich mit ihr spreche, aber ich denke nicht mehr an sie als meine Mutter. Viel leichter fällt es mir, an euch als meine Schwestern zu denken. Sie will auf jeden Fall, dass ich sie Mutter nenne, und sie erinnert mich ständig daran, dass sie rechtlich mein Vormund ist und dass ich sie mit dem gleichen Respekt behandeln muss, den man Eltern schuldet. Sie behauptet, Schwestern brächten nicht die gleiche Ehrerbietung füreinander auf. Ihr wisst ja, wie sie zu Hause herrscht, es schon immer getan hat.

Es ist kompliziert«, gab ich zu, »aber bis jetzt habe ich getan, was Jade sagte, ich habe vermieden, selbst darüber nachzudenken. Ich meine, ich wüsste gerne mehr, gleichzeitig aber auch nicht. Wisst ihr, was ich meine?«

»Nein«, gestand Misty. »Das ist alles zu wild. Dein ganzes Leben lang glaubtest du, deine Schwester sei deine Mutter? Ich weiß nicht, was ich täte, wenn ich solch ein Geheimnis entdeckte. Warum hielten sie es geheim? Es ist verrückt.«

»Ich weiß. Ich glaube, jeder würde denken, wir sind eine kranke Familie«, sagte ich und starrte in das flackernde Kerzenlicht. »Wie sehr wünschte ich mir, es könnte wirklich geschehen, was Jade angekündigt hat«, sagte ich ihnen.

»Was meinst du?«, fragte Misty.

»Dass ich alles ins Feuer werfen und zuschauen könnte, wie alles in Rauch aufgeht.«

Alle starrten mich an, dann schüttelte Star den Kopf.

»Was ist?«, fragte Misty sie.

»Das sieht Cat ähnlich«, meinte sie, »mit einem Geheimnis herauszurücken, das keine von uns überbieten könnte. Also ich denke, damit sind wir aus dem Schneider.«

»Genau. Cats Geheimnis lässt alles, was ich anbringen könnte, dämlich wirken«, sagte Misty und schaute Jade an.

Jade seufzte tief. »Ich bin eurer Meinung«, sagte sie schließlich und drückte damit dieser Entscheidung das Siegel ihrer Zustimmung auf.

Garten der Versuchung

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