Читать книгу Weltenfresser - Veikko Päivinen - Страница 4
ОглавлениеGratwanderung
Die Erhebung aus dem Staub der eigenen
Genesis und das Erobern eines neuen Kosmos
war der Zenit des menschlichen Genius.
Ein Leuchtfeuer im Dunkel der Zeit, das einst nur noch
von seinem grandiosen Scheitern übertroffen wurde.
–– Ein Beobachter, vor sehr langer Zeit
Die Nacht war sehr kalt gewesen und obwohl es Spätsommer war, schien bereits ein strenger Hauch des kommenden Winters über der Landschaft zu liegen. Selbst die Vögel und die anderen tierischen Bewohner der Tiefebenen begannen nur zaghaft, ihrem Tagwerk nachzugehen.
Tyark wachte auf, trotz der ihn umgebenden Morgenkälte war er schweißgebadet. Müde richtete er sich auf und schüttelte benommen den Kopf. Wage Erinnerungen an die Träume der letzten Nacht schmolzen dahin wie Schnee in der Sonne. Er schaute in den grauverhangenen Himmel, am Horizont zeichnete sich bereits die erste Morgenröte ab.
Tyark gähnte laut, streckte sich und stand auf. Missmutig bereitete er sich noch den letzten Rest zähen Dörrfleischs zu, von welchem er seit seiner Flucht aus seiner Heimatstadt, Nai’Alabat, bereits zu lange hatte leben müssen.
Er warf einen misstrauischen Blick gen Himmel – trotz des trockenen Morgens versprach dieser Tag verregnet und trüb zu enden. Er fluchte leise über die verfluchte Kälte in diesen Landen. In seiner Heimat war es stets einigermaßen warm und Tyark hatte erst hier verstanden, was das Wort Winter wirklich bedeutete! Zunächst hatte er sogar gedacht, dass die Menschen hier vielleicht deshalb eine so bleiche Haut hatten, weil die Kälte einem das Blut aus der Haut trieb.
Ja, er hatte auf seinem Weg schon viele Menschen getroffen. Nicht nur Flüchtlinge, sondern auch Bewohner dieser wilden und spärlich besiedelten Gegend. Und alle berichteten, dass dieser Sommer ungewöhnlich kalt war und alle waren sich einig gewesen, dass diese Kälte ein düsteres Omen sein musste. Oder eine Strafe der Großen Alten.
Ob Omen oder Strafe – fraglos stand fest, dass es ein harter Winter werden würde. Keine gute Nachricht für einen Flüchtling wie ihn, erst Recht nicht, da er ganz andere Temperaturen gewohnt war.
Tyark hatte vor ein paar Tagen eine der wenigen alten Reichsstraßen gefunden und war eine Weile ihrem Verlauf gefolgt und so immer wieder auf kleinere Grüppchen von Menschen getroffen, manchmal auch auf Flüchtlinge wie ihn selbst. Gestern Abend hatte er unter einer mächtigen Esche geschlafen, zusammen mit ein paar Soldaten, welche auf dem Weg zurück nach Gratenfels waren, eine kleine Stadt, die mit etwas Glück fünfzehn bis zwanzig Tagesmärsche von hier im Nordwesten lag. Angeblich waren Flüchtlinge aus dem Süden dort noch willkommen.
Trotz der ungewöhnlich kalten Nächte und unruhigen Träume war er recht gut gelaunt, als er an diesem grauen Nachmittag an der Straße entlang stapfte. Gegen Abend begann sich die ohnehin bereits stark angegriffene Befestigung der Reichsstraße immer mehr in festgestampfte Erde zu verwandeln, um dann schließlich als stark ausgetretener Pfad zu enden.
Kurz bevor es vollkommen dunkel wurde und Tyark schon fürchtete, wieder unter freiem Himmeln übernachten zu müssen, sah er vor sich schwache Lichter und meinte auch fernes Gelächter zu vernehmen. Sorgenvoll schaute er in die schweren Regenwolken, die noch von den letzten Sonnenstrahlen in unheilvolles Grau getaucht wurden. In der Hoffnung auf ein festes Nachtlager begann er in einen leichten Trab zu verfallen. Gerade als die ersten schweren Tropfen an seiner Kleidung zerplatzten, sah er in der Ferne ein hell erleuchtetes Wirtshaus. Im aufkommenden Wind schaukelte ein kleines Schild munter vor sich hin – ein grob gemalter Bierkrug verhieß ihm zumindest vorübergehend Wärme und Behaglichkeit. Zwei Männer standen davor im Regen, ihr Lachen wurde vom auffrischenden Wind zu Tyark getragen.
Als Tyark in das Wirtshaus eintrat, schlug ihm ein Schwall von Lärm und Essensgerüchen entgegen. Der Geruch nach Fleisch, Suppen und diversen Bieren ließ ihm augenblicklich das Wasser im Mund zusammenlaufen. Die vielen lauthals geführten Gespräche der anwesenden Gäste ergaben einen Lärmteppich, der auf Tyark überwältigend, aber auch behaglich und angenehm wirkte. Die letzte Übernachtung in einem Gasthaus war bereits fast zwei Wochen her, aber noch immer juckten manche der Ungezieferbisse, die er dort bekommen hatte. Doch dieses Gasthaus schien einigermaßen sauber zu sein.
Niemand achtete auf ihn, als er sich entschlossen seinen Weg durch die zahlreichen Gäste bahnte, die meist in Gruppen an den aus groben Hölzern gezimmerten Tischen saßen. Auch wenn er keines der hier anwesenden Gesichter erkannte, genoss er die Gegenwart dieser Menschen sofort.
Aus der Küche im hinteren Teil des Raumes drang ein wunderbarer Duft nach Eintopf zu ihm vor und ließ ihn zielsicher auf den groben Tresen zugehen. Die Wirtin, eine füllige, vielleicht vierzig Jahre alte Frau, bediente hektisch die Gäste, ermahnte Betrunkene und scheuchte einen bleichen Knaben unbarmherzig durch die Gastwirtschaft. Die undankbare Aufgabe des Jungens schien es zu sein, die Essenreste und sonstige Hinterlassenschaften der Gäste aufzusammeln. Dabei musste er immer wieder schwankenden Kriegern und bellenden Hunden ausweichen.
Ihren neuen Gast begrüßte die Wirtin mit einer überraschend melodischen Stimme: »Einen schönen guten Abend, Reisender! Wie isch dein Name? Was treibt disch hierher?«
Erfreut stellte Tyark sich vor und bestellte hastig einen Eintopf sowie ein Bier. Mit einem breiten Lächeln auf den Lippen, welches den Blick auf ein noch fast vollständiges Gebiss freigab, brachte sie ihm beides. »Wo kommscht‘eu her? Nach einem Soldaten siehscht du mir nicht aus.«
Während Tyark einen ersten Löffel des fettigen, aber köstlichen Eintopfes hastig schlürfte antwortete er: »Ich komme weit aus dem Süden. Vielleicht zu weit ...«
Das Lächeln der Wirtin verdüsterte sich kurz und mit knappen Worten stellte sie ihm einen zweiten Krug Bier auf den Tisch: »Flüchtling, eh? Hier – geht aufs Haus. Isch habe schon gehört, was die Horde im Süden angerichtet hat ... entsetzlisch!«
Tyark trank einen tiefen Schluck und sagte leise: »Ja, viele haben alles verloren. Und wer das Glück hatte, die Horde zu überleben, der wurde oft genug auf der Flucht selbst getötet - oder vielleicht auch Schlimmeres. Aber auch hier lauern Gefahren. Ich selbst bin auch schon einmal ausgeraubt worden.«
Als er sah, wie sich auf der glänzenden Stirn der Wirtin eine steile Falte bildete, fügte er rasch hinzu: »Aber ich konnte vor ein paar Tagen bei einem Bauern arbeiten und so wieder etwas Geld verdienen.«
Die Wirtin lächelte nun wieder und sie tauschten noch einige Belanglosigkeiten aus, bevor sie einen furchtbar behaarten, riesigen Kerl anschrie, der Anstalten machte, sich an einem ihrer als Kronleuchter dienenden Wagenräder festzuhalten.
Tyark beobachtete die turbulente Szene gedankenverloren. Vor seinem inneren Auge sah er die Silhouette seiner brennenden Heimatstadt und hörte für einen Moment die Schreie der Verwundeten und Sterbenden. Das konturlose Gesicht seiner ermordeten Frau blitzte in seinem Geist kurz auf. Panik erfüllte ihn, als er realisierte, dass er nicht mehr hätte sagen können, wie Mayras Gesicht einmal ausgesehen hatte! Die Erinnerung an sie schmolz dahin und würde schon bald kaum mehr als ein kümmerlicher Rest sein.
Tyark fühlte ein Stechen in der Brust und trank hastig seinen Becher in einem Zuge leer. Er drehte sich um, setzte sich mit dem Rücken zum Tresen und beobachtete die zahlreichen Gäste, während er darauf wartete, dass der Alkohol seinen Geist betäubte.
Die Gruppen waren buntgemischt und schienen aus allen Himmelsrichtungen zu kommen. Er sah arme und reiche Kaufleute, Händler, Reisende, Flüchtlinge und viele Soldaten, von denen die meisten recht abgeschlagen wirkten. Von den Soldaten oft kaum zu unterscheiden waren andere raue Gesellen, die schwerbewaffnet in Gruppen zusammensaßen. Söldner vielleicht – wilde, offenbar kampferprobte Gesellen, deren Gesichter von so mancher Schlacht zeugten. Die Menschen hier amüsierten sich - so gut es diese dunkle Zeit eben zuließ.
Während er so dasaß, traten zwei schlaksige Spielmänner auf ein niedriges Podest in einer Ecke des großen Raumes. Während einer der beiden mit zwei länglichen Flöten im Mund mehr oder weniger gelungene Melodien spielte, jonglierte der andere mit bunten Bällen dazu. Immer wieder wurden die beiden allerdings unterbrochen, als Musikwünschen oder gegrölten Beschwerden durch fliegende Knochen und andere Essensreste Nachdruck verliehen wurde. Einmal kam von einem Tisch mit Kriegern der Rest eines Hähnchenschenkels geflogen, prallte gegen einen der durch die Luft fliegenden Bälle und katapultierte diesen direkt ins Gesicht des Spielmannes. Dieser ließ daraufhin auch die anderen Bälle fallenließ und fluchte laut. Lautes Grölen der Gäste war die Antwort, die Wirtin zeterte und herrschte den mutmaßlichen Werfer wütend an, der die Schuld auf seinen betrunkenen Nebenmann schob. Tyark lächelte in sich hinein und lehnte sich zufrieden an den klebrigen Tresen zurück. Der Alkohol tauchte die ganze Szenerie in einen angenehmen Nebel.
Einige Zeit später, Tyark war bereits ziemlich betrunken, wurde er sich bewusst, dass er das schleichende Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Er schaute sich unauffällig um und entdeckte bald, halb verborgen in den tanzenden Schatten der hinteren Ecken, einen riesigen Kerl, der mit einem Krug auf dem Tisch dort alleine saß.
Tyark konnte das Gesicht des Mannes wegen des Rauches und der eher spärlichen Beleuchtung nur schwer erkennen, doch er erkannte sofort das abgehärtete Antlitz eines Kriegers. Eines der Augen darin wurde von einer schwarzen Binde verhüllt und scheußliche, kleine Narben durchzogen das gesamte Gesicht darunter. Solche Wunden hatte Tyark noch nie gesehen: Fast schien es, als ob jemand dem Kerl unzählige Messerschnitte zugefügt hätte!
Der Fremde starrte aus dem einen, dunklen Auge zurück und nickte kurz mit dem Kopf. Dann wandte er sich den Spielmännern zu, zu denen sich mittlerweile ein junges Mädchen hinzugesellt hatte und mit einer kleinen Trommel den Flötenspieler begleitete.
Tyark beobachtete den Mann noch eine Weile heimlich. Die Narben erstreckten sich nicht nur das Gesicht, sondern schienen auch den Rest des Körpers in einem unregelmäßigen Muster zu bedeckten. Unwillkürlich musste Tyark schlucken. Was für schreckliche Dinge mochten diesem Mann passiert sein?
»Ein Krieger aus den Riesengraten im Norden.«
Die Wirtin war wieder an Tyark herangetreten und hatte wiederum ihn beim Beobachten des Mannes beobachtet. Tyark fühlte, wie er rot wurde.
»Wie bitte?«
»Na, der Mann dort, den du die ganze Zeit beobachtescht. Er ist seit einigen Tagen hier. Sprischt nicht viel und die meischten hier haben Respekt oder Angst vor ihm. Oder auch beides. Er sieht ja auch nicht wirklich einladend aus, nischt wahr!«
Tyark entgegnete nichts und nickte bloß. Während die Wirtin mit einem fleckigen Lappen Krüge abtrocknete fuhr sie fort: »Soweit ich weisch, war er als Soldat im Süden. Bevor die südlichen Königreiche der Horde anheimgefallen sind. Viele d‘ ehemalige Soldate‘ sind nun auf dem Weg nach Hause. Nischt imme‘ kann man die Spuren des Krieges so gut erkennen wie bei dem dort.«
»Was könnte ihm passiert sein? Ich meine, mit seinem Gesicht?«
Die Wirtin warf einen raschen Blick auf den Krieger und brüllte dann den Jungen an, der gerade von irgendwelchen Grobianen festgehalten wurde.
Dann wandte sie sich wieder Tyark zu und sagte seufzend: »Ach, Jungsche! Woher soll ich dat wisse‘? Wer weß scho‘, was den Jungs im Krieg so zustößt, nischt wahr?«
Tyark nickte stumm. Er versuchte, der Gestalt in der dunklen Ecke keine weitere Bedeutung beizumessen und beobachtete das Treiben der Spielmänner. Und er genoss die berauschende Wirkung des Bieres in vollen Zügen. Sein Bauch war voll damit und obwohl er nur noch wenige Kupferstücke besaß, war sein Geist zumindest für den Moment sorgenfrei.
Die Spielmänner begannen damit, ein anscheinend sehr bekanntes Lied zu spielen, denn viele der Gäste standen sofort auf und sangen mit; die Bierkrüge schwankten in den Händen und der Nebenmann wurde flugs in den Arm genommen. Das Mädchen sprang auf der Bühne herum und trommelte wie wild. Auch Tyark summte mit und der Rest des Abends versank in bierseliger Harmonie.
***
Tief in der Nacht war Tyark endlich betrunken genug zum Schlafengehen. Das Wirtshaus war immer noch gut gefüllt, der Knabe der Wirtin eilte weiterhin müde zwischen den Tischen hindurch und sammelte Essensreste und Scherben auf. Manchmal stibitzte er auch das ein oder andere Kupferstück, das herrenlos zwischen den Stühlen und Tischen herumlag.
Tyark hatte sich eine ganze Weile mit einem der vielen Händler unterhalten, doch dessen Geschichte wie auch sein Name verschwammen im Dunst des Starkbieres, welches durch seine Adern floss.
Er hatte für ein paar Kupferstücke das Anrecht auf Stroh und ein Dach über dem Kopf gemietet und war nun etwas schwankend auf dem Weg zu seinem Lager. Unwillkürlich schaute er sich nach dem vernarbten und etwas unheimlichen Krieger um, aber die drehende Umgebung verursachte nur Übelkeit in ihm und er gab auf.
Draußen war es sehr kalt und selbst die wohlige Bierwärme schien sich schreckhaft zurückzuziehen. Frierend verharrte Tyark vor der Stallung und beobachtete etwas ungläubig die aufsteigenden Dampfwolken seines Atems – wann war ein Sommer jemals so kalt gewesen?
Vom Alkohol benebelt blickte er nach oben und versank einen Moment in der Tiefe des dunklen, scheinbar unendlichen Firmaments über ihm. Er sah die beiden Monde, Daimon und Tana, hell über der Landschaft schweben. Tana, der kleinere Mond, war nur zur Hälfte gefüllt, während Daimon groß und voll am Himmel stand. Man konnte sehr gut erkennen, dass ein großes Stück des Mondes fehlte – als sei es vor langer Zeit herausgeschlagen worden. Silbrig glänzende Bruchstücke formten den langen Schweif, der Daimon umgab.
Tyark erinnerte sich an die Legende des zweiköpfigen Titanen Morok, die ihm in einer scheinbar unendlich weit zurückliegenden Zeit von seinem Lehrer, einem alten Ordensbruder, erzählt worden war. Er konnte die raue, tiefe Stimme des alten Mannes immer noch hören und sah sein durch eine große Narbe entstelltes Gesicht vor seinem inneren Auge:
Bevor es die Zeit gab, herrschte der blutrünstige Titan Morok als grausamer, alles Leben unterjochender König über Teanna. Unsere ganze Welt drohte schließlich, zu einer tödlichen, kalten Einöde zu werden!
Das Leiden Teannas war so schrecklich, dass es von den Großen Alten erhört wurde. Diese stiegen aus den Sternen herab und töteten Morok in einer großen Schlacht. Sie enthaupteten ihn, schnitten das glühende Herz des Titanen aus seiner Brust und zerschmetterten seinen schändlichen Körper in tausend Stücke! Das Blut des Titanen ist es, das die Wüsten unserer Welt rot färbte.
Seinen Kopf und sein immer noch schlagendes, blutiges Herz schleuderten Sie in die Himmelswiege, sodass beide fortan als unsere Monde Daimon und Tana das Himmelszelt durchwandern und als Warnung an all jene dienen, welche die Macht der Großen Alten infrage zu stellen wagen!
Manchmal – man sagt, wenn Krieg bevorsteht oder schreckliche Dinge geschehen sind – weint der tote Kopf des Titanen brennende Tränen der Freude und der Lust, von denen manchmal eine in einen Feuerschweif gehüllt vom Himmel stürzt ...
Tyark fröstelte. Er erinnerte sich auch an die Lehre des Ordens, die besagte, dass Daimon sich langsam aber unaufhaltsam Teanna näherte und eines Tages auf sie stürzen würde. Nicht zuletzt deshalb wurde Daimon auch als der Schicksalsbote bezeichnet. Denn er würde die Apokalypse einleiten, die niemand überleben konnte. Nur die Großen Alten selbst würden dieses Ereignis verhindern können – doch sie würden es nur dann tun, wenn die Menschen sich bis dahin Ihrer wieder als würdig erwiesen hätten!
Tyark schluckte. Die Erinnerung an sein Leben vor der Flucht erzeugte ein seltsam leeres Gefühl in ihm – als ob sich all seine früheren Jahre ebenfalls in den Flammen der plündernden und mordenden Horde aufgelöst hätten.
Er nahm rasch seine treue, raue Wolldecke aus dem Rucksack und legte sie sich über die Schultern. Der Bruder, der ihm diese Geschichte erzählte hatte, war nun sicher tot. Tot wie alle anderen, die in seiner Heimatstadt Nai’Alabat gelebt hatten, als die Horde angriff.
Noch schwankend betrat er in die Scheune, die angenehm nach Stroh und Pferden duftete. In irgendeiner Ecke ließ er sich in die Heuballen fallen und fand noch die Kraft für ein letztes Gebet an die Großen Alten. Er bat inständig um die Kraft, seinen Ängsten entgegentreten zu können und dankte ihnen, dass sein Schicksal bislang nicht der Tod gewesen war – im Gegensatz zu den vielen, die er einmal gekannt hatte. Sein Herz fühlte sich schon bald etwas leichter an und bald schon schlief er ein – und träumte in dieser Nacht zum ersten Mal seit sehr langer Zeit.
***
Ein dunkler Herrscher schritt durch sein Reich, welches einmal eine Welt voller Leben und Wissen gewesen war. Eine Dornenkrone aus Knochen wuchs aus seinem Kopf und ragte dunkel in den Himmel. Er bestieg eine Pyramide aus erschlagenen Körpern. Knirschend und gleichgültig traten die schweren Stiefel in entsetzte, verzerrte und tote Gesichter. Das Fleisch zischte, als es von der Hitze seines Körpers verbrannt wurde.
Unter glutrotem Himmel, der einmal blau gewesen sein mochte, stand auf der abgeflachten Spitze der Pyramide ein Thron aus Köpfen, bespannt mit Menschenhaut. Lebendiges Fleisch schien sich schlangengleich und zuckend um den Thron zu wälzen, wucherte, blutete und erfüllte den sich setzenden Herrscher mit einem Schauer der Vorfreude.
Er genoss das Schauspiel, welches sich vor ihm bis zum Horizont erstreckte. Brennende Trümmern lagen vor ihm, verkohlte Städte, die einmal bis zum Horizont gereicht hatten.
Seine Drachen kreisten gewaltig und triumphierend in den warmen Aufwinden der gewaltigen Feuersbrünste unter ihnen. Der Herrscher lächelte. Er schloss die Augen, um die kreischenden Seelen seiner unzähligen Opfer zu sehen, wie sie in einen gewaltigen Strom gesogen wurden. Einen Strom, der in einen kleinen Gegenstand zu münden schien, der in seiner gepanzerten Hand lag. Er öffnete die Augen und blickte zufrieden auf den kleinen, unscheinbaren schwarzen Kubus. Er würde auch bald die anderen Kuben finden und er würde alle niederen Kreaturen vernichten und versklaven, die es wagten, diese Geschenke des Dunklen Gottes in ihren unwürdigen Klauen zu halten!
Am Horizont waren bereits die schwarzen Silhouetten der Drachen seiner Feinde zu sehen. Seine Drachen spürten die monströse Stimme ihres Schöpfers in ihren Köpfen und griffen kreischend an. Der Herrscher spürte, wie die wenigen verbliebenen Feinde sammelten. Die letzte Schlacht hatte begonnen. Doch bevor er schweren Schrittes von seinem Thron herunterstieg, blieb er plötzlich stehen. Das gekrönte Haupt drehte sich um und die schwarzen, steinernen Augen schienen Tyark direkt in die Seele zu blicken. Eine grauenhafte, weißglühende Hitze breitete sich in ihm aus und bevor Tyark begriff, was vor sich ging, stand er plötzlich in Flammen. Er wollte schreien, doch die Glut verbrannte seine Lungen. Er wollte davonrennen, doch seine Beine waren nur noch verkohlte Knochen. Er stürzte zu Boden und verbrannte bei lebendigem Leib.
***
Schweißgebadet schreckte Tyark aus dem Schlaf auf, Übelkeit schoss in ihm hoch. Nur mühsam konnte Tyark seine Panik bekämpfen. Er versuchte, die Erinnerungen an diesen furchtbaren Traum hinweg zu schütteln.
Er rieb sich den Nacken und dachte darüber nach, dass er in den letzten Monaten immer wieder diesen seltsamen Traum gehabt hatte. Es hatte irgendwann einfach angefangen und es schien nicht aufhören zu wollen.
Während er nachdenklich dalag, drang ihm der schale und faulig riechende Atem des neben ihm schnarchenden Mannes in die Nase. Angewidert wandte Tyark seinen Kopf ab. Sein Schädel brummte. Schon lange hatte er nichts anderes mehr geträumt als von diesem furchtbaren Herrscher. Seit seine Heimatstadt von der Horde überrannt worden war. Seit es sein altes Leben nicht mehr gab ...
Mühsam wälzte er den fremden Mann beiseite, welcher sich irgendwann in der Nacht unangenehm nah neben Tyark gelegt hatte. Der Mann murmelte nur Unverständliches und zeigte bis auf unappetitliche Geräusche seiner Eingeweide keine weitere Reaktion. Tyark musste schließlich grinsen und dachte kopfschüttelnd darüber nach, weshalb er ausgerechnet von Drachen geträumt hatte! Jedes Kind wusste doch, dass diese sagenumwobenen Ungeheuer nicht viel mehr als Märchen waren, die man ihnen abends erzählte, nachdem sie mit einer Mischung aus Neugier und Angst lange darum gebettelt hatten. Und selbst diese Märchen verblassten angesichts der Jahrtausende, die ohne jegliche Spur dieser Wesen vergangen waren. Nein, es gab viel Schlimmeres als die Angst vor diesen geflügelten Fabelwesen, die einst vielleicht diese Welt durchstreift haben mochten.
Einige der anderen Reisenden waren bereits wach, das deftige Bier des Gasthofes hatte allerdings unübersehbare Spuren in den Gesichtern hinterlassen. Tyark verspürte plötzlich eine heftige Übelkeit. Er schaffte es gerade noch, aufzustehen und zu einem der zahlreichen Heuballen zu hasten. Nachdem er sich drei Mal übergeben hatte, ging es ihm langsam besser.
Pferde wieherten nervös, der Geruch von Mensch und Tier hing dick in der Luft. Tyark rieb sich die Bartstoppeln und begann verschlafen, etwas Brot aus seiner Tasche zu kramen, das ihm die Wirtin gestern Abend noch mitgegeben hatte. Mühsam trat er aus der Scheune heraus und blinzelte in Helligkeit des heranbrechenden Tages.
Ein Kaufman, den er am Abend gesehen hatte, bot ihm einen Krug Wasser an, den Tyark mit einem stummen Nicken dankbar annahm. Das kalte Wasser rann ihm wohltuend die Kehle herunter. Nachdem er auch seinen Kopf in eine Pferdetränke getaucht hatte, ließen auch die Kopfschmerzen langsam nach, pochten aber noch eine ganze Weile düster im Hintergrund.
Er verspürte wenig Bedürfnis, länger hierzubleiben. Auch war sein Geld bereits fast aufgebraucht und wenn er nicht bald eine feste Bleibe finden würde, wäre sein weiteres Schicksal äußerst ungewiss. Er zweifelte daran, dass die Wirtin sonderlich mildtätig mit ihm umgehen würde - ob Flüchtling oder nicht.
Als er wenig später aufbrach, war es immer noch recht früh am Morgen und nur die wenigsten Reisenden waren bereits aufgestanden. Tyark hatte sich von der Wirtin den Weg beschreiben lassen und erfahren, dass er, wie befürchtet, über die Ausläufer der Riesengrate reisen musste, wenn er nicht einen Umweg von mehreren Wochen in Kauf nehmen wollte – was angesichts des nahenden Winters nicht ratsam war.
Die Riesengrate hatten ihn am Horizont bereits seit einiger Zeit begleitet. Zunächst fern und im Dunst verborgen, dann zunehmend groß hatten sie sich zu einem ehrfurchtgebietenden Gebirge entwickelt, das sich drohend im Norden auftürmte.
Tyark hatte auch von anderen Flüchtlingen schon viel davon gehört. Dem Vernehmen nach ein geradezu undurchdringliches, hohes Gebirge, welches von einem dichten, unermesslich großen Wald umschlossen war. Ihm war von plötzlichen Wetterumschwüngen und Felslawinen erzählt worden – und von den zahllosen Kreaturen und unerklärlichen Boshaftigkeiten, welche die wilde Natur der Grate für den unachtsamen Wanderer bereithielt.
Zunächst konnte sich Tyark glücklicherweise in Begleitung anderer Reisender bewegen, die sich in einem lockeren Strom auf die äußeren Ausläufer der Grate zubewegten. Doch nach drei Tagen waren die anderen Reisenden in unterschiedliche Richtungen gegangen und irgendwann musste Tyark alleine verschlungenen Pfaden folgen, die direkt ins Gebirge führten. Immer wieder blieb Tyark staunend stehen, um diese wilde und überwältigende Landschaft zu betrachten. Seine Heimat bestand größtenteils aus weiten Steppen und einigen Wüsten – und nur wenigen Wäldern, die auch bei Weitem nicht so dicht und undurchdringlich waren wie diese hier!
Das Wetter erwies sich schon bald als launisch und fast zwei Tage lang breitete sich ein dichter Nebel unheimlich über das Land aus. Als sich der Nebel endlich lichtete, war es schon beunruhigende drei Tage her, dass er etwas von anderen Reisenden mitbekommen hatte.
Als Tyark am darauffolgenden Tag nicht einmal mehr ausgetretene Pfade vorfand, wurde ihm klar, dass er sich verlaufen haben musste! Verblüfft fluchte Tyark in sich hinein. Wie hatte das passieren können! Gerade die Angehörigen seines Volkes waren bekannt für ihren Orientierungssinn. Er hatte sich noch nie in seinem Leben ernsthaft verlaufen, nicht einmal als Kind! Und es war ein denkbar schlechter Zeitpunkt, damit anzufangen ...
Zwar konnte er hier und da einigen Pfaden folgen, immer entpuppten sie sich allerdings als Wildpfade und endeten an irgendeiner Wasserstelle oder verliefen sich im dichten Unterholz.
Das Vorankommen war fortan sehr mühsam. Tyark versuchte zunächst erfolglos, auf die bereits hinter ihm liegenden Pfade zurückzufinden. Da ihm dies allerdings nicht gelang, beschloss er schließlich, so gut es ging der Beschreibung der Wirtin zu folgen und solange das Gebirge zu einer Rechten zu halten, bis ein großer Strom unter einem Berggipfel entsprang, der wie sich wie eine Schlange in die Täler herabschlängelte. Er würde schon irgendwie über die Ausläufer kommen.
Zwischen den mächtigen Stämmen der uralten Bäume herrschte dichtes Unterholz, der Boden selbst war meist mit dichtem Moos bedeckt. Was sich wiederum als überraschend angenehm erwies, da es weicher war als jedes Strohlager, das Tyark in den letzten Monaten kennengelernt hatte.
Da es oft regnete, hatte er wenig Probleme, seinen Wasserschlauch zu füllen, allerdings waren seine Dörrfleisch- und Brotvorräte schon fast aufgebraucht. Auch die Jagd nach Wild erwies sich als schwierig und mühsam. Zum Glück gab es hier und da essbare Beeren und einmal sogar ein paar Apfelbäume, die anscheinend zu einem längst verlassenen Gut gehörten, dessen Trümmer Tyark zwischen großen Brombeerranken fand.
Es war nun fünf Tage her, dass er das Wirtshaus verlassen hatte. Immer öfter sah er mitten im Wald gewaltige Felsbrocken liegen, die wie zurückgelassenes Spielzeug von Riesen wirkten. Tyark fragte sich, wie diese gewaltigen Steine einst hergekommen sein mochten, da die steilen, zerklüfteten Hänge der eigentlichen Grate noch recht weit entfernt waren. Vielleicht hatten irgendwelche Trolle sie hierher gerollt? Oder waren sie Hinterlassenschaften von uralten, längst zerfallenen Festungsanlagen? Oder, wie ihm vor einiger Zeit ein Händler erklärt hatte, tatsächlich die Überreste von Steinriesen, die sich gegenseitig erschlagen hatten? Er schauderte unwillkürlich und wünschte sich einmal mehr, andere Menschen um sich zu haben.
Der Wald wurde zunehmend steiler und schwerer zu begehen, oft konnte er selbst die gewaltigen Gipfel der Grate vor lauter Bäumen nicht mehr sehen. Das einzige Geräusch in dieser Wildnis schienen seine Flüche zu sein, begleitet von dem ruhigen Knarren der uralten Stämme und dem Rauschen des Windes in den Baumwipfeln.
Als Tyark gegen Abend auf einem erhöht gelegenen Felsausläufer der Grate ankam, beschloss er, dort zu rasten. Fasziniert und gleichzeitig mit Schauern auf dem Rücken beobachtete er ein in weiter Ferne niedergehendes, schweres Gewitter. Nur manchmal konnte er einen der schweren Donnerschläge vernehmen, die meisten Blitze zuckten lautlos aus den dunklen Wolken oder erleuchteten sie gespenstisch aus dem Inneren.
Manchmal hatte er auch das Glück, eine trockene Höhle zu finden, in der er mit Moos und Laub ein einigermaßen bequemes Lager bauen konnte.
Auch wenn er alleine in dieser gnadenlosen Natur unterwegs war, so spürte er doch nicht nur Sorge, sondern auch gleichzeitig eine tiefe Ruhe, die durch die Felsen, die wilde Natur um ihn herum und auch ihn selbst zu strömen schien. Trotz der Unwegsamkeiten und Gefahren, die in der freien Natur auf Wanderer lauerten, fühlte sich Tyark wohl. Nachts lag er oft lange wach und lauschte den Bewohnern der Wildnis bei ihrem Nachtwerk. Einmal legte er auch sein Ohr an einen der riesigen Felsbrocken und wartete vergebens, ob ihm der Fels irgendwelche Wahrheiten vermitteln konnte.
Er war den ganzen folgenden Tag weiter in Richtung der großen Gipfel gewandert und hatte es schon fast aufgegeben, die richtige Richtung wiederzufinden. Am Nachmittag war es ihm aber immerhin gelungen, ein mageres Kaninchen zu fangen. Nun brutzelte es über einem kleinen, gemütlichen Lagerfeuer und Tyark freute sich auf den Geschmack des frischen Fleischs auf der Zunge.
Er hatte sein Lager auf einem Feldplateau aufgeschlagen, das von rauschenden, würzig duftenden Nadelbäumen eingerahmt wurde. Während er an einem Kaninchenbein kaute, betrachtete er neugierig die moosbewachsenen, steinernen Überreste eines Gebäudes, welches einst den größten Teil des Plateaus bedeckt haben musste.
Viel mehr als Reste der Grundmauern waren nicht übrig, sodass Tyark bei bestem Willen nicht hätte sagen können, wie es einst ausgesehen habe mochte.
Es schien aus dunklen Steinen gebaut gewesen zu sein und er vermutete, dass es sich um Steine direkt aus dem Gebirge um ihn herum handeln musste. Alles war mit feuchten Moosen und Flechten überwachsen und Tyark vermutete, dass schon einige Jahrzehnte, vielleicht sogar Jahrhunderte an diesen stummen Zeugen vorbeigegangen sein mussten.
Als er neugierig um einen halbverfaulten Stamm eines umgestürzten Baumes herumgelaufen war, fand er überrascht eine Treppe, die in das Dunkel des Felsens hinabführte. Pflanzen bildeten einen grünen Teppich, der vom Erdboden fast bis auf die Stufen herabreichte und Tyark war sich sicher, dass er diesen Eingang niemals gefunden hätte, wenn er nicht direkt davor gestanden hätte.
Zögerlich ging er einige Schritte die Treppe hinab. Die Luft hier war kalt und das dunkle Kellergeschoss – denn das musste es sein – wirkte wenig einladend. Doch seine Neugier siegte und er lief rasch zum Lagerfeuer zurück, fütterte das Feuer mit frischem Holz und nahm sich dann ein brennendes Holzscheit mit zu der Treppe.
Vorsichtig ging er die glitschigen Stufen hinab, die gut vier Meter tief in den Erdboden reichten. Seine improvisierte Fackel gab nur wenig, unruhiges Licht und es reichte kaum aus, das ganze Gewölbe zu beleuchten, das sich vor ihm auftat. Der Boden bestand aus glatt gehauenen dunklen Steinen, aus denen auch das Mauerwerk selbst zu bestehen schien. Irgendwo tropfte Wasser.
Tyark stockte – die Luft roch einerseits modrig und abgestanden, aber es roch hier auch seltsam süßlich. Tyark verspürte ein leichtes Kribbeln in den Handflächen. Eine leichte Bewegung im Augenwinkel veranlasste ihn, sich ruckartig umzudrehen. Gleichzeitig verfluchte er sich, dass er sein Kurzschwert nicht mitgenommen hatte. Hektisch griff nach dem Dolch in seinem Gürtel. Die Fackel knisterte und das flackernde Licht fiel auf seltsame, fingerdicke weiße Fäden, die von der Decke herunterfielen und sich leise im Luftzug bewegten.
Erstaunt trat Tyark näher und blickte an die Decke über ihm. Die Fäden schienen aus sehr großen, dunklen Pflanzen zu kommen, welche in den zahlreichen Ritzen und Spalten der Decke wuchsen. Etwa acht bis zehn große, wulstige Blätter mit gezackten Kanten breiteten sich einer Art Blüte um das Zentrum der Pflanze aus, aus dem auch die dünnen weißen Fäden wuchsen. Die Pflanzen waren gut einen halben Meter groß, vielleicht sogar mehr.
Bei näherer Betrachtung sah Tyark erstaunt, dass auf der Innenseite der feucht glänzenden Blätter kleine, feste Dornen wuchsen, die ihn irgendwie an Reißzähne erinnerten. Auch der süßliche Geruch schien von hier zu kommen.
Erstaunt trat Tyark einen Schritt zurück, denn er ahnte bereits dunkel, mit was für Pflanzen er es hier zu tun hatte. Er sah sich auf dem Boden um und entdeckte bald, wonach er gesucht hatte. Überall lagen, manchmal frisch aussehende, aber teilweise auch geradezu mumifizierte Kadaver kleinerer Tiere herum.
Tyark entdeckte zahlreiche Reste von Fledermäusen, aber auch Mäusen und Ratten. Er nahm den vollkommen vertrockneten Kadaver einer Ratte auf und warf ihn gezielt in Richtung der Fäden. Noch bevor der Kadaver einen der Fäden berührte, schien dieser von sich aus hervorzuschnellen und wickelte die Reste der Ratte in unglaublicher Schnelligkeit ein. Wie in einem Faden wurde der Kadaver aufgerollt und bewegte sich so in Richtung der seltsamen Blüte. Raschelnd und schmatzend schlossen sich die großen Blätter um die aufgerollte Beute.
Staunend betrachtete Tyark den Vorgang und nahm sich schließlich vor, in Zukunft noch vorsichtiger durch diese Wälder zu streifen. Solche gefährlichen Pflanzen gab es in seiner alten Heimat wahrhaftig nicht!
Während Tyark mit einer Mischung aus Faszination und Ekel die Pflanze betrachtete, öffneten sich die Blätter wieder und die ausgetrocknete Ratte fiel mit einem dumpfen Geräusch hinaus. Auch der lange Fangfaden streckte sich wieder aus der Blüte und fing an, sich leicht schaukelnd in Richtung des Bodens zu bewegen.
»Hat dir wohl nicht geschmeckt, was?«
Die Pflanze antwortete nicht, lediglich der Faden schien ein wenig in Tyarks Richtung zu zucken.
Er zählte fast fünfzehn dieser Pflanzen, die größte von über einen Meter im Durchmesser. Schaudernd vermutete er, dass sich Pflanzen dieser Größe wohl kaum auf Dauer mit einfachen Ratten oder Fledermäusen zufrieden geben würden!
Bei näherem Hinsehen lagen auch tatsächlich Knochen und Fellballen von größeren Tieren herum: Einen Fuchs – oder was von ihm übrig war – konnte Tyark problemlos erkennen. Ihm schauerte. Er sah sich weiter um, doch außer Staub, Dreck und lauerndem Tod war hier nichts zu finden und so war er froh, bald schon wieder den abendlichen Himmel über sich zu sehen und die frische Kühle der herannahenden Nacht zu spüren.
Tyark kehrte zu seinem Lagerfeuer zurück, verscheuchte die lästigen Fliegen von seinem restlichen Kaninchen und starrte gedankenverloren in die Ferne. In welch seltsames Gebirge er doch geraten war!
Später rollte er sich in seine Decke ein und betrachtete ehrfürchtig die Sterne. Dort oben war es, das Antlitz der Großen Alten! So weit oben und doch so gnädig schauten Sie auf die Menschen herab, die Sie einst erschufen und von welchen Sie dann so schändlich verraten wurden. Tyark schloss die Augen und versank in einem Gebet an seine Götter. Er bat um Kraft und um Führung auf den Wegen, die noch vor ihm lagen. Dann legte er sich hin und sein Schlaf wurde sanft von den nächtlichen Geräuschen des Waldes begleitet, in dessen Wipfeln ein kalter Wind rauschte.
***
Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als Tyark plötzlich von dem Geräusch brechenden Unterholzes aufgeschreckt wurde. Er fluchte, dass er solange geschlafen hatte, sprang schnell auf und erstickte rasch die noch glimmende Glut des Feuers.
Er griff nach seinem Kurzschwert und verbarg sich hinter einem der Felsen. Wer mochte hier noch außer ihm durch die Wildnis irren? Räuber? Schlimmeres? Tyark erinnerte sich an die Schauergeschichten über die Grate, welche er von der Wirtin und anderen Reisenden erfahren hatte. Trolle sollte es hier geben, doppelt so groß als der größte Mann! Oder noch schlimmer, Harpyien, grausame Vogeldämonen, die unachtsame Wanderer in die Höhe rissen und sie dann auf den Felsen zerschmetterten ...
Im Dickicht des Waldes konnte Tyark den riesenhaften Schatten erst sehr spät ausmachen, obwohl ihm das berstende Unterholz recht genau verriet, wo sich der Eindringling aufhielt. Er war zu groß für einen Vogeldämon, dies musste also ein Troll sein! Vielleicht auf der Suche nach Menschenfleisch – auf der Suche nach ihm? Tyark begann zu schwitzen und seine Hand verkrampfte sich um den Griff des rostigen Schwerts. Gegen einen Troll zu kämpfen erschien ihm bei genauerem Nachdenken ziemlich sinnlos und er überlegte, wie er am schnellsten von diesem Plateau herunterkommen konnte, ohne sich alle Knochen zu brechen. Seine Rücken war schweißnass und schon bildete er sich ein, im Wald vor sich zwei rote Punkte anstelle von Augen zu sehen, obwohl er eigentlich keine Ahnung davon hatte, wie ein Troll aussehen mochte. Mit der Panik kämpfend machte er sich bereit, schnell zu flüchten – oder um sein Leben zu kämpfen.
Gerade als er aufspringen wollte und durch einen kühnen Sprung ins Unterholz seine Haut zu retten gedachte, rief der Troll mit tiefer Stimme ein fragendes »Hallo?« in die klare Luft des Tages.
Tyark zuckte zusammen und fast wäre er dennoch gesprungen, hätte sein Verstand ihm nicht noch rechtzeitig gesagt, dass Trolle wahrscheinlich kaum zum Sprechen neigten. Dies musste also ein Mensch sein – ob Freund oder Feind würde sich noch herausstellen.
Vorsichtig stand Tyark auf und rief gleichfalls ein leicht zitterndes »Hallo!« dem Unbekannten entgegen.
Ein großer Schatten trat aus dem Wald und kletterte dem Lagerplatz entgegen. Mit dem Schwert in der Hand trat Tyark dem Mann entgegen und als in der Dämmerung endlich ein Gesicht zu erkennen war, zuckte Tyark abermals kurz zusammen, nur um dann sogleich erleichtert das Schwert sinken zu lassen. Es war das schrecklich vernarbte Gesicht desselben Hünen, welchen er im Gasthaus vor einigen Tagen in der Ecke hatte sitzen sehen! Sein grauweißes Haar hatte der Mann mittlerweile zu Zöpfchen gebunden und ein gepflegter Kriegerbart zierte sein Gesicht.
Der Mann baute sich nun in voller Größe vor Tyark auf, das Gesicht zu so etwas wie einem Grinsen verzogen. »Ich grüßte dich, Wanderer! Gestern Abend konnte ich ein fernes Feuer bei der alten Garnison sehen und ich dachte mir, dass dies vielleicht zu der seltsamen Spur gehört, die kreuz und quer durch den Wald zu verlaufen scheint.«
Tyark steckte sein Schwert zurück in die Scheide und grüßte zurück. »Ja, ich bin eigentlich auf dem Weg nach Gratenfels und dachte auch, dass ich die Wegbeschreibung der Wirtin richtig verstanden hätte ...«
Der Fremde lachte plötzlich schallend und Tyark zuckte abermals zusammen. Einer seiner gewaltigen Pranken landete schmerzhaft auf Tyarks Schulter. Der Fremde polterte: »Die alte Birma kann Bier brauen, aber niemals einen Weg beschreiben! Sie würde sich selbst in ihrem Wirtshaus verlaufen, wenn sie dort nicht schon ihr ganzes Leben wohnen würde! O, du bist sehr weit weg von dem direkten Weg nach Gratenfels! Sehr weit, mein guter Freund! Ich dachte mir so etwas bereits. Nur Irre oder Verlorene wandern ziellos durch diese Wälder.«
Der Fremde gluckste noch eine Weile vor sich hin und erklärte dann: »Ich möchte dich nicht auslachen. Verzeih! Mein Name ist Pereo.«
Er steckte Tyark seinen starken Arm entgegen und nach einem kurzen Zögern umfasste Tyark ihn. Obwohl er das Gefühl hatte, dass sein Handgelenk gleich zu Mus gequetscht werden würde, lächelte Tyark und bot Pereo den kärglichen Rest des gestrigen Kaninchens an. Bald saßen beide am flackernden Feuer und waren in lockere Plaudereien vertieft, die immer wieder durch lang anhaltendes Schweigen unterbrochen wurden.
Tyark erfuhr unter anderem, dass Pereo auf dem Weg zu dem hoch in den Bergen gelegene Dorf Schwarzbach war, um dort seine Halbschwester aufzusuchen. Und Pereo machte ihm klar, dass er wirklich sehr weit von allen größeren Wegen gekommen war. Es war reiner Zufall, dass Pereo vor einigen Tagen über seine Spuren gestolpert war. Hätte Tyark am Abend kein Feuer auf dem Plateau gemacht, hätte Pereo ihn wohl nie gefunden.
Pereo war Soldat im Heer König Gunthers gewesen, doch war mit dem kümmerlichen Rest des Heers nach der blutigen Niederlage im Südosten vor fast einem Jahr Richtung Norden gezogen.
Zum Glück waren die Armee des Kaisers und des Ostreichs erfolgreicher gewesen. Die Horde war an der Grenze zum Ostreich aufgehalten worden, wenn auch nur knapp.
Ob die anderen Reiche weiterhin sicher bleiben würden, vermochte im Moment niemand zu sagen. Pereo hatte sich schließlich beurlauben lassen, um die Schrecken des Krieges in Frieden in seiner Heimat, wenigstens für kurze Zeit, vergessen zu können.
Während der Krieger mit tiefer Stimme und schlichten Worten seine lange Reise beschrieb, hörte Tyark aufmerksam zu. Er fühlte instinktiv, dass auch Pereo ein Flüchtling war – auch wenn seine Heimat noch voller grüner Wälder und Menschen war und nicht in Flammen aufgegangen war wie die von Tyark.
Als Pereo seine Erzählung beendet hatte, sagte Tyark: »Ich danke dir Pereo, dass du mir dies alles erzählt hast und ich bin sehr froh, dich hier getroffen zu haben. Diese Wälder sind dichter als alles, was ich aus meiner Heimat kenne. Und wesentlich unheimlicher ...! Da drüben ist ein Kellerloch und da drinnen wachsen Pflanzen, die offensichtlich ganze Tiere einfangen!«
Pereo wandte seinen Kopf in Richtung der Treppe und brummte: »Ja, wenn man in den Graten unter Tage geht muss man aufpassen. Die Fangfäden der Pratanen sind tückisch. Und giftig! Einem gesunden, erwachsenen Mann kann aber kaum was passieren. Nur Kinder müssen vorsichtig sein.«
Tyark musste unwillkürlich schlucken.
Pereo sah ihn dunkel an: »Es soll in den zahlreichen Höhlen der Grate aber auch Exemplare geben, die auch einem erwachsenen Mann gefährlich werden können. Sie sollen auch nicht nur reglos an der Decke hängen, sondern sogar ihren Platz wechseln können! Schon mancher Wanderer soll sich morgens plötzlich im Maul einer Pratane wiedergefunden haben, die am Abend zuvor noch dutzende Meter entfernt war.«
Als er Tyark bestürztes Gesicht sah, lachte er wieder dröhnend. »Hab keine Angst, Tyark! Das sind nur Märchen betrunkener Reisender! Ich selbst habe noch nie eine Pratane gesehen, die Anstalten machte, ihren Platz zu verlassen. Ich treibe mich aber auch nicht so oft in irgendwelchen Höhlen herum. Ich verabscheue geschlossene, dunkle Orte.«
Tyark stutzte, irgendwas in Pereos Stimme ließ ihn aufhorchen. Aus einer Eingebung heraus fragte er: »Sag Pereo, deine Narben, aus welchem schrecklichen Kampf stammen sie? Ich habe solche Wunden noch nie gesehen.«
Durch das vernarbte Gesicht des alten Soldaten ging eine kaum merkliche Regung und das eine verbliebene Auge schien Tyark regelrecht zu durchbohren. »Ich hatte eine Begegnung mit einem Urgukhal. Einem Dämon.«
Pereo zuckte mit dem Schultern, als ob damit alle Fragen beantworten seien. Dann stand er auf und trug weiteres Feuerholz zu ihrem Lager. Tyark blieb zurück, das Herz erfüllt voll dunkler Angst. Er wusste nicht, was beängstigender war – dass jemand tatsächlich einen leibhaftigen Dämon gesehen hatte – oder dass er davon noch erzählen konnte!
Sie hatten beschlossen, den Tag zu rasten und für die Jagd zu verwenden. Auch hierbei erwies sich Pereo als erstaunlich geschickt und schon bald hatten sie ein fettes Reh erbeutet. Abends saßen sie dann zusammen am Feuer und betrachtete still und ehrfürchtig das funkelnde Firmament über sich.
Tyark unterbrach das gemeinsame Schweigen: »Sag, Pereo, was war hier einst gebaut? Es scheint eine recht große Anlage gewesen zu sein.«
Pereo biss in ein fettiges Stück Wildfleisch und erklärte: »Dies ist eine alte Veste. Ein Stützpunkt des Roten Königs.«
Auf Tyarks fragenden Blick hin erklärte Pereo: »Die Riesengrate gehörten zu seinem Königreich. Das mag nun bereits fünfzig Sommer her sein, eher mehr. Viel weiß ich nicht darüber. Irgendwann zerfiel sein Reich und zurück blieben einige Anlagen seines Heeres in den Graten. Aber nur hier unten – im Hochgebirge selbst hat noch nie ein Herrscher dauerhaft Fuß fassen können. Wenn es überhaupt jemand versucht hat. Wozu auch? Dort oben gibt es nur Felsen, Wetter und die uralten Festungen der Nihilim. Von denen du dich übrigens fernhalten solltest! So wie das alle machen, die hier oben leben und noch Verstand im Schädel haben.«
Er erzählte Tyark einige der Mythen und Legenden der einfachen Bergvölker hier oben. Tyark sog dieses Wissen förmlich auf - für den Preis, dass er später lange brauchte, um einschlafen zu können.
***
Am nächsten Morgen war Pereo wie gewohnt wortkarg. Sie beide bemerkten, dass eine ungewöhnliche Kälte in der frischen Morgenluft lag, Pereo reagierte mit Sorge und murmelte etwas von einem bösen Omen und Geister, die hier am Werk sein mussten. Tyark hatte ebenfalls das Gefühl, dass seine Träume intensiver geworden waren – er versuchte, jeden Gedanken an sie zu vermeiden. Oft genug blitze das ein oder andere Bild vor seinem inneren Auge auf. Meist waren es furchtbare, grausame Schlachten, die auf vollkommen unwirklich erscheinenden Schlachtfeldern gefochten wurden, mit Waffen, die er nicht begriff. Und noch etwas wurde immer klarer: Der dunkle Herrscher, den Tyark bereits kannte, gewann. Alle anderen Herrscher – manche von ihnen glichen eher entsetzlichen Ungeheuern als Menschen – fielen und wurden von dem dunklen Herrscher versklavt.
Als er betont beiläufig Pereo auf diese Träume ansprach, reagierte dieser recht abweisend mit der Bemerkung, dass das Nachdenken darüber nur überflüssiges Weibergewäsch sei.
Tyark hatte rasch genickt – vielleicht war sein Begleiter ja im Recht. Andere Gesprächsthemen, wie etwa das der Waffenkunde oder des Fährtenlesens waren viel ergiebiger und sein Begleiter erwies sich als erfahrender Mann in dieserlei Dingen.
Tyark lerne in den Tagen ihrer gemeinsamen Reise mehr über das Leben in der Natur, als in seinem ganzen vorherigen Leben zuvor. Pereo bewegte sich stets mit einer für seine Größe erstaunlichen Gewandtheit durch das dichte und felsige Unterholz. Tyark hatte häufig Mühe, mit ihm Schritt zu halten, obwohl er selbst recht gut in Form war – trotz oder vielleicht auch wegen seiner mittlerweile ein Jahr andauernde Flucht.
Gegen Abend hatten sie an die fünfzehn Meilen zurückgelegt, eine enorme Strecke in diesem Gelände.
»Wie schaffst du das bloß, Pereo! Ich bin total erledigt –und du scheinst kaum außer Atem zu sein! Lass uns hier Feuer machen und ausruhen.«
Tyark ließ sich mit einem Seufzer auf einem großen, mit dichten, weichen Moosen überwachsenen Felsen nieder. Er sagte: »Es donnert auch in der Ferne, ein Gewitter wird aufziehen – ich will nicht wieder im Regen schlafen müssen.«
Erst jetzt bemerkte er die angespannte Haltung seines Begleiters. Pereo stand im Zwielicht einer Statue gleich auf einem anderen Felsen und schien angestrengt den Himmel zu beobachten. »Was ...«
Doch Pereo zischte ihm sofort entgegen: »Sei leise! Bei Unwettern, die aus dem Westen aufziehen, sind oft Harpyien in der Luft. Wir müssen aufpassen!«
Tyark duckte sich instinktiv. »Harpyien? Ich habe mal von einem Kaufmann von ihnen gehört – ich dachte, sie wären mehr oder weniger nur Geschichten, die man unartigen Kindern erzählt?«
Pereo schüttelte stumm den Kopf und lauschte angestrengt.
Das Gewitter war nun deutlich näher. Blitze zuckten und tauchten das riesige Gebirge vor ihnen in unheimliche Schatten.
»Komm Tyark, wir sollten uns eine Höhle suchen – mir gefällt das Ganze nicht. Ich habe einen Sinn für Gefahr, und der läutet gerade die Sturmglocken. Sie sind dort oben, tanzen mit den Winden, ganz sicher. Es wäre nicht gut, von ihnen entdeckt zu werden. Wir sind nur zu zweit.«
Geduckt lief Tyark hinter seinem Begleiter her, immer wieder ängstlich in den Himmel blickend, der nun von einem kalten Feuer erleuchtet schien. Zunächst hatte er das Geräusch nur für einen seltsamen Widerhall des Donners gehalten, vielleicht für das Rauschen des Windes in den Tannen. Dann aber erkannte er, dass es eindeutig kein Donnern war und auch kein Rauschen. Grausame, menschenähnliche Schreie schienen in der Luft zu liegen – Tyark meinte fast, eine Art Gelächter zu hören.
Kaltes Grauen stieg ihm den Rücken hinauf, er fühle, wie sich sein Haar sträubte. Auch Pereo schien das Geräusch gehört zu haben, denn er fing unvermittelt an, zu einer Felsformation zu laufen. »Komm Tyark, beeil dich! Sie dürfen uns nicht sehen!«
Mit dem einsetzenden Platzregen fanden Sie einen überhängenden Felsvorsprung. Beide wickelten sich in ihre nassen Decken und beobachteten das Schauspiel am Himmel. Das Gewitter war nun so heftig, wie Tyark es selten erlebt hatte: Sogar einige Bäume wurden entwurzelt und ein ganzer Ozean schien sich aus dem schwarzen Himmel zu ergießen. Zu allem Überfluss begannen bald auch Hagelkörner herunterzufallen. Kälte kroch in ihre Glieder, von Windböen in ihre Gesichter geschleuderte Körner stachen wie Nadeln.
Und in den permanent aufflackernden Blitzen sah Tyark sie schließlich: Seltsame Kreaturen mit großen dunklen Schwingen, die in den Wolken tanzten, umeinander kreisten und lange dünne Schwänze hinter sich herzogen.
Verzerrtes Gelächter klang zu ihnen herunter, beängstigend menschlich und doch eindeutig tierisch. Er konnte keine Details ausmachen, doch er sah, dass sie Frauen in gewisser Weise ähnlich waren, auch wenn der Körper von einem dunklen Fell bedeckt schien. Große, lederne Schwingen hielten sie kraftvoll in der Luft, ihre Hände und Füße waren mit großen Klauen bestückt. Es mochten vielleicht zehn oder mehr sein, die tosende Natur ließ keine genaueren Schätzungen zu.
Als er mit einer Mischung aus Faszination und Angst das Treiben dieser Kreaturen beobachtete, wurde Tyark plötzlich bewusst, dass ein kleiner Schwarm, vielleicht fünf Tiere, über ihrem Felsen zu kreisen begann. Er griff instinktiv nach seinem Schwert, auch Pereo begann sich zu wappnen und brummte ruhig: »Bleib ganz ruhig, es sind zu viele für uns zwei. Wenn sie angreifen, flüchte in den Wald, bleib möglichst dicht am Unterholz. Greife sie nur im Notfall an! Sie werden versuchen, dich in die Höhe reißen und auf den Felsen zerschmettern. Gegen eine oder zwei von ihnen würden wir vielleicht ankommen, aber so nicht gegen so viele. Ich frage mich, was sie aus ihren Höhlen getrieben hat.«
Tyark fing an zu zittern. Es kam ihm fast so vor, als ob sich die dunklen Silhouetten der Bäume in ihre Richtung bewegten, ihre Äste nach ihnen austreckten. »Mach dich bereit! Ich glaube, sie haben uns entdeckt!«
Pereos Stimme klang angespannt. Tyarks Magen krampfte sich zusammen. Tatsächlich begann der Schwarm, sich langsam zu ihnen hinunter zu bewegen, deutlich war das Geräusch der Schwingen zu hören, die durch das Unwetter schnitten.
Tyark spannte alle Muskeln an, bereit zu laufen aber auch bereit, um sein Leben zu kämpfen. Ein greller Blitz und ein ohrenbetäubendes Donnern ließ beide zusammenfahren, Tyark spürte sein Herz in den Ohren pochen.
Ein purpurn leuchtender Blitz war in eine der Harpyien gefahren! Diese stürzte sofort als brennender Feuerball vom Himmel, gefolgt von den anderen und einem Gelächter, das Tyark das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Pereo umfasste seine Schulter. »Puh! Das war Glück! Wir müssen hier weg! Sie werden sich schon bald an ihrer unglücklichen Gefährtin gütlich getan haben und sich dann an uns erinnern.«
Noch betäubt vom Donner und geschüttelt von Todesangst folgte Tyark stolpernd seinem Begleiter, der selbst bei diesem Wetter trittfest und sicher über die karstigen Felsen lief.
Tyark und Pereo hasteten noch lange durch den nächtlichen Wald, bevor sie sich total erschöpft in einer Kuhle niederließen, die ein umgestürzter Baumriese hinterlassen hatte. Nur langsam konnte Tyark klare Gedanken fassen. »Das waren also Harpyien ... sie sahen beinahe aus wie Frauen ...!«
Pereo nickte nur und fuhr unbeirrt fort, ein Feuer anzuzünden. Schließlich brummte er: »Ja. Die hier lebenden Menschen nennen sie daher Windbräute. Sie haben ihre Höhlen weit oben in den Gipfeln des Gebirges und kommen nur selten so tief herunter. Es sind bösartige Dinger. Oft reißen sie das Vieh von den Feldern und manchmal auch kleine Kinder. Niemand weiß, was dann mit ihnen geschieht.«
Ein Zucken ging durch das vernarbte Gesicht. »Ich glaube, sie fressen ihre Opfer einfach in ihren Nestern. Aber es gibt so manche Geschichte darüber - was in den unzugänglichen Höhen der Riesengraten wirklich vor sich geht, weiß niemand.«
Pereo zeigte keine weitere Regung, jedoch lief erneut ein kalter Schauer über Tyarks Rücken. Pereo fuhr fort: »Diese Grate sind voller Stollen und Bergwerke und alter Festungen der Nihilim. Wer weiß, was dort oben noch alles lebt! Falls du einen solchen Stollen siehst, halte dich fern. Die Nihilim haben diesen Ort wahrlich nicht ohne Grund vor langer Zeit verlassen.«
Auch Tyark hatte auf seiner Flucht manchmal Legenden über die Nihilim gehört. Manche behaupteten, sie würden direkt von den Großen Alten abstammen und seien zurückgeblieben, um die Welt zu bewahren, bis die Großen Alten wieder zurückkehrten. Wieder andere behaupteten, die Nihilim seien mit Absicht von den Alten zurückgelassen worden und hätten sich aus Scham darüber tief in die Erde eingegraben. Wieder andere vermuteten dunkle Kulte bei den Nihilim, die Dämonen und Geister anbeteten. Wohin dieses Volk dann allerdings verschwunden war, darauf wusste niemand eine Antwort.
Zurück blieben nur tiefe Bergwerke und gewaltige Felsenfestungen, so manche vollgestopft mit Gold, Edelsteinen und kunstvollstem Schmuck, wie man sich erzählte. Aber manchmal fanden sich darin auch Dinge, die kein Mensch je zu Gesicht bekommen sollte und die besser verschollen blieben.
»Ich möchte dir keine Sorgen bereiten, Tyark. Weißt du. Aber ich habe selbst, als ich noch ein Kind war, einen Freund verloren. Er hatte sich in einen dieser alten Stollen verirrt. Wir haben nur Stoffreste seines Hemdes gefunden. Vom Wind um die Spitze eines Baumes gewickelt. Keiner weiß, wie es dahin gekommen ist. Und niemand hat sich getraut, tiefer in den alten Stollen nachzuschauen.«
Pereos Pranke fasste sanft Tyarks Schulter und der Krieger lächelte: »Wir werden in vielleicht ein bis zwei Tagen in Schwarzbach sein. Halte dich an mich und es wird dir nichts geschehen.«
Das verbliebene, ungewöhnlich dunkle Auge zwinkerte ihm zu.
In dieser Nacht fand Tyark nur wenig Schlaf, ständig hatte er Alpträume von Klauen, die ihn in die Höhe rissen und dann auf die scharfkantigen Felsen stürzen ließen. Umtost vom Gebrüll und Gelächter der Harpyien stürzte er auf die dunklen Felsen zu, den sicheren Tod im Auge – nur um kurz vor dem tödlichen Aufschlag schweißgebadet aufzuwachen. Zitternd lag er dann in der kalten Morgenluft wach und hörte Pereo neben sich ruhig atmen.
Das Geschrei der Biester lag ihm noch in den Ohren und während er den Sonnenaufgang beobachtete, kam es ihm fast so vor, als ob in diesem grauenvollen Getöse eine zarte, leise Stimme zu hören gewesen war. Eine wundervolle Stimme, die verheißungsvoll seinen Namen geflüstert hatte. Doch nicht nur Wärme und Liebe waren in dieser Stimme zu spüren gewesen: Gleichzeitig war dort eine zeitlose, grausame Kälte gewesen, die Tyarks Herz kaum ertragen konnte.
Der nächste Tag war zwar kühl, aber bemerkenswert schön. War der Himmel die letzten Tage fast stets in tristes Grau getaucht, so war nun endlich die Sonne so zu spüren, wie es sich für einen Spätsommer gehörte. Schnell waren die Schrecken der letzten Nacht vergessen und sogar Pereo wurde für seine Verhältnisse geradezu gesprächig.
Tyark genoss das Wandern über die zerklüfteten Ausläufer der Grate, welche nun wie eine gewaltige schwarze Wand fast den gesamten Horizont vor ihnen ausfüllten, die schneebedeckten Gipfel in Wolken getaucht. Ein frischer Wind ließ die Bäume rauschen und außer den zahlreichen Bewohnern dieser dichten Wälder war nichts weiter zu hören.
Pereo schien mit der zunehmenden Nähe zu seinem Heimatort immer besser gelaunt und wurde geradezu gesprächig.
Der Krieger schien die normale Kindheit eines Menschen gehabt zu haben, der in diesen gnadenlosen Bergen aufgewachsen war. Eine Kindheit, bestimmt von einer grausamen Natur, die kaum einen Fehler verzeihen würde und einem Gebirge, das so schwarz war wie die Geheimnisse, die es in seinem Innersten verbarg.
Wie Tyark erfuhr, war Pereos Freund aus Kindertagen nur ein Opfer unter vielen, welche die Riesengraten als Tribut für fruchtbare Erde und Bodenschätze forderten. Die Grate nehmen was sie geben war die schicksalsergebene Devise der Menschen hier oben.
Und doch wurde Tyark bald klar, wie frei das Leben hier oben gleichzeitig sein musste!
Kein Fürst, ja nicht einmal der Orden ließen sich hier oben häufig blicken. Die Jahreszeiten bestimmten das Leben, viel stärker als weiter südlich. Der kurze Sommer wurde schnell von einem erbarmungslosen Winter abgelöst. Die Menschen hier waren von ihrer dörflichen Gemeinschaft abhängig, aber sie standen auch füreinander ein: Mit der Natur als stetige, unerbittliche Bedrohung konnte es sich niemand hier oben leisten, selbstsüchtig oder einzelgängerisch zu sein - im Gegensatz zu den Menschen in den großen Städten, wie es manchmal den Anschein hatte.
Auch so können Bande geschaffen werden, dachte Tyark im Stillen.
Gegen Abend brieten sie ein mageres Reh, welches sie dem Wald durch zweistündige Jagd abtrotzen konnten.
Die blutrot untergehende Sonne war bereits flankiert von dunklen, bedrohlichen Wolken; Pereo erklärte Tyark, wie er Anzeichen der schnell aufziehenden und berüchtigten Stürme der Grate erkennen konnte, den Buran. Der Wind frischte dann auch zusehends auf und schon bald beugten sich die Baumwipfel unter kräftigen Böen, die im Hochgebirge schnell verhängnisvoll werden konnten.
Es war an diesem stürmischen Abend, an dem sie zum ersten Mal das Heulen von Wölfen im Wind hören konnten. Pereo blickte nur kurz vom Feuer auf und brummte grimmig: »Wird auch Zeit, dass unser Ankommen verkündet wird.«
An Tyark gewandt sagte er: »Du wirst schon öfter mit Wölfen zu tun gehabt haben, oder?«
Tyark nickte stumm und dachte an die Begegnung mit einem ausgehungerten Rudel Wölfe, das einen kleineren Flüchtlingstross im Wald überfallen hatte.
Ohne seine Antwort abzuwarten fuhr Pereo fort: »Egal was du erlebt hast. Die Wölfe der Graten sind anders, glaube mir. Es sind sehr schöne, aber auch sehr wilde Tiere. Die Grate schicken sie den Menschen, um ihnen zu zeigen, dass ihr Platz hier nie von Dauer ist. Unvorsichtige Wanderer werden durch sie auf ihre dummen Fehler hingewiesen. Verirrte Kinder aber ebenso.«
Gedankenverloren schaute Pereo in den dunkler werdenden Himmel, Tyark fiel zum ersten Mal auf, wie leer dieser Blick des einen verbliebenen Auges sein konnte.
Pereo fuhr fort: »Wir leben im gegenseitigen Respekt voreinander. Nur im Notfall machen wir Jagd auf diese Tiere. Denn sie tun nur, was die Natur und die Berge ihnen befehlen. Oder zu was unvorsichtige Wanderer sie zwingen. Sie ohne triftigen Grund zu töten hieße, den Boten für seine Nachricht verantwortlich machen. Oder dem Schicksal zu widersprechen. Abgesehen davon sind Wölfe meist friedlich. Wenn sie nicht krank sind oder während eines harten Winters selber hungern müssen. Im Grunde weiß man bei ihnen stets, woran man ist.«
Unversehens schaute er Tyark mit einem durchdringenden Blick an: »Wölfe werden nur dann wirklich gefährlich, wenn ein Ingrimm von ihnen Besitz ergriffen hat – das geschieht meist dem Leittier des Rudels.«
Auf Tyarks fragenden Blick antwortete er: »Ein Ingrimm ist ein uralter Berggeist. Meistens hat der Geist gute Gründe dafür, dass er sich einen Wolf sucht. Zorn etwa. Der Zorn des Berges, wenn du so willst. Manchmal, wenn die Menschen zu tief und zu gierig geschürft haben oder zu viel Holz geschlagen haben, taucht einer auf.
Und manchmal reicht einer, um die Bewohner eines ganzen Dorfes verschwinden zu lassen. Alle paar Jahrzehnte kommt es wohl dazu. Thornbolt sei Dank ist vom Auftauchen von zwei oder gar mehr Ingrimms seit vielen Hundert Jahren nicht mehr berichtet worden! Ich glaube, zuletzt zur Zeit der Silberkriege vor über achtzig Sommern. Lange vor meiner Zeit.
Meine Großmutter erzählte mir aber früher davon. Ich muss auch zugeben, seit der Orden öfter seine Geweihten in die Grate schickt, ist kein Ingrimm mehr aufgetaucht. Oder konnte schnell wieder zurückgetrieben werden, wie auch immer.«
Tyark wurde aufmerksam. Es war das erste Mal, dass er Pereo von Religion reden hörte. Anscheinend glaubte Pereo zwar an die Großen Alten, aber gleichzeitig an die alten Götter, an welche die Menschen hier schon immer geglaubt hatten. Aber war ihm denn egal, dass der Glaube an alte, heidnische Götter unter Strafe gestellt war? War das Erwähnen des alten Berggottes ein Versehen? Ein Zeichen des Vertrauens? Oder einfach eine Gewohnheit?
Tyark entgegnete: »Der Orden hat hier Tempel gebaut?«
Pereo lachte grollend: »Nein! Soweit ist es noch nicht gekommen – aber kurz vor meinem Aufbruch aus Schwarzbach ist so ein Bruder des Ordens bei uns aufgetaucht. Rynn heißt er. Dürfte immer noch da sein. Eigentlich ein brauchbarer Kerl. Etwas komisch vielleicht. Wie die Leute vom Orden manchmal so sind. Aber ehrlich und standhaft, das muss ich zugeben.«
Pereo gähnte und fuhr fort: »Er schien auch viel von Kräutern und solchen Dingen zu verstehen. Oft war er tagelang im Gebirge unterwegs und hat Steine gesammelt. Aber nicht Erze für Schwerter. Das hätte ich ja noch verstanden! Sondern lauter wertlose Karfunkel oder andere bunte Steine. Meinte, er sammle sie einfach. Verstehe so etwas nicht. Führt sich auf wie ein Magier, finde ich.«
Der Hüne zuckte mit den Schultern.
Tyark lächelte und nickte zustimmend. Auch er hatte bislang nur diverse Geschichten über Magie und dergleichen gehört. Insgesamt wusste er aber nur sehr wenig darüber. Etwa, dass es überhaupt nur sehr wenige Magier gab. Und das Risiko war immer groß, mehr als nur die beabsichtige Wirkung beim Zaubern zu erzielen – manchmal mit schlimmen Folgen. Schon als Kind hatte er gelernt: Es war die oberste Aufgabe des Ordens, die Magie in ihren natürlichen Grenzen zu halten. Daher mussten wohl alle Magier bereits als Kinder in die Obhut des Ordens, genauer, in einen Magierzirkel, die es in den großen Städten der Länder gab. Tyark hatte selbst vor einigen Monaten einen dieser Zirkel gesehen: Ein unscheinbarer Bau, umgeben von einer hohen Mauer, die von der sogenannten Zirkelwache bewacht war.
Erneutes Wolfsgeheul riss ihn aus seinen Gedanken. Diesmal näher als beim letzten Mal! Er wickelte seine Decke fester um sich. Pereo lächelte grimmig: »Keine Sorge, sie begleiten uns schon seit fast zwei Tagen. Sie heißen uns willkommen in ihrem Reich. Wir sind bald da, wir müssten morgen am Gor’gata–Moor vorbeikommen. Der faulige Geruch wird dir wie ein sanfter Duft vorkommen, denn er sagt dir, dass wir auf der richtigen Spur sind. Und dann wirst du schon bald einen besonderen Schatz bekommen: Riesenbräu! Das beste Bier, das du je getrunken hast! Wetten?«
Tyark erzitterte, als Pereos Pranke hart auf seiner Schulter landete.
Tyark stimmte Pereo hustend zu, doch mit einem Ohr lauschte er weiter misstrauisch dem Geheul der Wölfe. Vor dem Schlafengehen achtete er darauf, sein Schwert griffbereit zu haben.
***
Als Tyark am nächsten Morgen wieder als Erster aufwachte, hatte er das deutliche Gefühl, beobachtet zu werden. Schlaftrunken versuchte er, in den Schatten des noch dämmrigen Waldes etwas auszumachen. Vor seinem Geiste tauchte die undeutliche Erinnerung an zwei große gelbe Augen auf. An den durchdringenden Geruch von wildem Tier und Waldboden.
Schnell rappelte er sich auf und griff nach seinem Schwert – da hörte er ein Rascheln aus dem Gebüsch vor ihnen. Sein Herz klopfe bis zum Hals, er begann zu schwitzen. Er schrie beinahe auf, als etwas heraussprang, sein Schwertarm zuckte – doch es war nur ein verdutztes Eichhörnchen, welches deutlich noch größere Angst vor ihm hatte als umgekehrt. Mit einem Zapfen im Maul stob es hastig davon und kletterte geschwind eine benachbarte Tanne herauf, von wo es ihn argwöhnisch beobachtete.
Pereo wurde wach und begrüßte Tyark durch ein herzhaftes Lachen, als er dessen Reaktion auf das graue Eichhorn bemerkte. »Keine Sorge mein kleiner Freund! Die tun dir nichts! Meistens jedenfalls!«
Tyark wurde rot und lachte schließlich selbst über seine Schreckhaftigkeit. Mit einem misstrauischen Blick in Richtung des dunklen Unterholzes begann er damit, ein Feuer zu entzünden. Vielleicht war dort wirklich nichts gewesen – vielleicht waren es nur Träume gewesen.
Sie brachen zügig auf und begannen durch kalten Nebel und Nieselregeln Richtung Nordwest zu wandern. Am frühen Nachmittag bemerkte Tyark, wie ein fauliger Geruch in seine Nase stieg und er hatte das undeutliche Gefühl, das auch die Luft kälter geworden war. Pereo schien seine Gedanken zu erraten: »Das dürfte das Moor sein, wir müssen jetzt aufpassen.«
Tyark erfuhr, dass die Menschen der Berge daran glaubten, dass dieses Moor mit der Unterwelt verbunden war. Es gab den Sagen nach zwar einige dieser geheimnisvollen Orte zwischen den Welten, doch das Moor war der wichtigste von ihnen.
Nach und nach begriff er, dass die Unterwelt im Denken der Bergmenschen im Hier und Jetzt existierte – nicht erst am Lebensende, wie es der Orden predigte. An besonderen Orten wie etwa dem Moor berührten sich die beiden Welten – die der Lebenden und die der Toten.
»Und wenn sich die Lebenden als unwürdig erwiesen haben, erwarteten sie dort nur ewige Kälte und Einsamkeit. Für immer wandeln sie dort durch Berge aus Eis. Unfähig zu sterben und schließlich vollkommen wahnsinnig. Denn sie vergessen sogar, was Hoffnung ist.«
Tyark wusste nicht so recht, was er antworten sollte und schwieg deshalb. So liefen sie einige Zeit schweigend nebeneinander her, bis sie nach einem steilen Aufstieg über den Nebel blicken konnten. Tyark sah in der Ferne eine dunkle Fläche ohne Bäume, nur unterbrochen durch einige Felsformationen. Aus der Ferne sah sie aus wie eine große Wiese, die bis zum Horizont reichte, umrahmt von majestätischen Bergen.
»Dort ist Gor’gata. Da kann der Orden sagen was er will«, sagte Pereo mit belegter Stimme.
»Was sagt der Orden zu diesem Ort?«, wollte Tyark wissen. Brummend antwortete Pereo: »Nun, Rynn hat es mir mal erklärt. Für den Orden war das Moor einmal eine gewaltige Stadt der Großen Alten. Oder wo auch immer die Großen Alten gelebt haben. Die Stadt soll jedenfalls immer noch dort sein. Unter all dem Sumpf und Schlamm.«
Sein Blick verfinsterte sich: »Wer auch immer Recht hat – das Moor ist kein Ort, den man ohne Not durchqueren sollte. Schon so mancher hat es versucht und ist verschluckt worden. Wenn du mich fragst: Man sollte nicht erwarten, leichtfüßig über Gor’Gatas Schlund spazieren zu können, ohne gefressen zu werden. Selbst die Harpyien scheinen diesen Ort nicht zu mögen! Und wenn schon die Windbräute sich davon fernhalten, sollten wir das ebenfalls tun.«
Er spuckte aus, machte eine merkwürdige Geste und fluchte leise. Unbehaglich blickte Tyark über das riesige Moor, welches nun zwischen den dichten Bäumen zu sehen war. Es schmiegte sich an die Ausläufer einer hohen, unbezwingbar erscheinenden Gebirgsausläufers. Er konnte aus der Ferne dunkle Baumreste im Moor erkennen, die ihre dürren Äste in den Himmel streckten.
Hier und dort waren kleinere Inseln aus großen Steinen zu sehen, ansonsten nur flache Pflanzen, zwischen denen manchmal schwarze Wasserflächen im Sonnenlicht aufblitzten.
Pereo wies auf eine dieser Inseln und sagte: »Diese Inseln sind besonders tückisch. Denn sie sind meist umsäumt vom schwarzen Wasser Gor’gatas. Ganz flach scheint es zu sein. Doch oft genug ist es so tief, dass es ganze Divisionen verschlucken kann, ohne dass auch nur eine Leiche wieder auftaucht! Und selbst wenn das Wasser einmal flach sein sollte, so saugt der Boden einen förmlich an und ohne ein festes Seil kann man sich nicht mehr befreien!«
Pereo schüttelte sich und erklärte, dass er vermeiden würde, auch nur die kleinsten Ausläufer des Moores zu streifen. Tyark nickte beeindruckt: Die Grate waren wahrhaftig von einer wilden, unbeherrschbaren Natur erfüllt! Er verstand Pereos Glauben an den Göttervater Thornbolt, auch wenn dieser vom Orden zu Recht als falsch bezeichnet wurde, denn es gab in Wirklichkeit eben nur die Großen Alten. Doch in einer solchen grausamen und willkürlichen Natur konnte nur der Starke überleben und jeder Fehler wurde unerbittlich bestraft. Und die Naturgewalten schienen so gewaltig und geheimnisvoll, dass in der Tat nur rachsüchtige Götter dahinterstecken konnten.
In der folgenden Nacht hörten sie erneut das Wolfsrudel seine Klagen an die schlafenden Riesen der Grate richten. Schaudernd erinnerte er sich an einen Traum, den er gehabt hatte – und an das Gefühl, nach unten gezogen zu werden, als stecke er in einem dieser dunklen Tümpel. Knöcherne Hände der Ertrunkenen griffen nach seinen Beinen und zogen ihn immer weiter nach unten. Seine Nägel krallten sich in den moorastigen Boden und hinterließen dort ihre Spuren – bis das schwarze Wasser über ihm glucksend zusammenschlug.
***
Nach weiteren zwei Tagen hörte Tyark die erlösenden Worte: »Wir sind bald da! Heute Abend wirst du mit mir am Feuer sitzen und die wunderbare Wärme des Riesenbräus in deinen Eingeweiden spüren, O ja!«
Pereo schien fast vergnügt, zumindest soweit Tyark das im kaum ergründbaren und vernarbten Gesicht seines Begleiters erkennen konnte.
Es nieselte, der stetige, kalte Wind des Gebirges wehte ihnen entgegen und Tyark tränten davon die Augen.
»Ein unglaublich kalter Sommer. Habe ich so noch nie erlebt.«, brummte Pereo.
Tyark entgegnete: »Nein, wahrlich nicht. Ein alter Kaufmann aus dem Süden hat mir gesagt, dass auch er noch nie einen solch kalten Sommer erlebt habe. Er meinte, das hänge mit dem Bösen zusammen, welche sich aus dem Süden und Osten ausbreite. Der Horde.«
Pereo blickte grimmig in den Himmel: »Ja, die Horde. Das ist gut möglich. Ich habe noch vor wenigen Wochen gegen die Ausgeburten gekämpft, welche sie aus ihrem Leib presst. Sie vergiftet aber auch die Herzen der Menschen.«
Tyark musste an seine Flucht denken. An seine Eltern, die nun tot waren. An all die Freunde, die er verloren hatte, als die Stadt eingenommen wurde. Seine Frau. Als er an sie dachte, schnürte Panik seine Kehle zu: Er schaffte es nicht mehr, sich an ihr Gesicht zu erinnern! Das Gesicht der Frau, mit der er sein Leben hatte teilen wollen. So sehr er sich bemühte, es gelang ihm einfach nicht! Eine Faust aus Eis umschloss sein Herz und er spürte, wie Tränen in seinen Augen brannten.
Er war froh, als Pereo ihn aus seiner Agonie riss: »Hab ich‘s nicht gesagt! Heute Abend sind wir da, endlich! Siehst du den großen Baum dort? Er bedeutet, dass es höchstens noch ein Tagesmarsch nach Schwarzbach ist. Endlich!«
Pereo beschleunigte seinen Schritt deutlich und schon bald hatte Tyark wieder Schwierigkeiten, dem großen Mann zu folgen, der so außergewöhnlich trittsicher über scharfkantige Felsen und rutschige Flechten schritt.
Schon bald standen sie unter einer gewaltigen Eiche. Tyark fiel es schwer, Pereos Begeisterung zu teilen: Der Baum hatte einen gewaltigen Durchmesser, sicherlich zwei Meter, und ragte bedrohlich in den bewölkten Himmel. Er hatte fast keine Blätter und war ungewöhnlich knorrig. Seine merkwürdig verkrüppelten, borkigen Äste ragten gut dreißig Meter in den Himmel. Tyark mochte diesen Baum instinktiv nicht, der seine verknoteten Wurzeln tief ins Erdreich gebohrt hatte.
Pereo schien seine Gedanken zu erraten, trat zu ihm und erklärte, während er behutsam den gewaltigen Stamm tätschelte: »Meine Großmutter erzählte mir früher, dass dieser Baum tatsächlich ein Haar sein soll. Ein Haar, das dem Riesen Sapherot aus dem Schädel wächst! Tatsächlich ist der Baum nicht tot, auch wenn er so aussieht. Alle paar Jahre ist er voll von dunklen Blättern. War immer schon kein gutes Vorzeichen, wenn er Blätter trug. Harte Winter und Hungersnöte, hat meine Großmutter immer gesagt.«
Pereo warf einen dunklen Blick in die Baumkrone. Dann sagte er nachdenklich: »Komm, lass uns keine weitere Zeit verlieren.«
Nachdenklich folgte Tyark Pereo und war froh, den unheimlich Baum bald hinter sich lassen zu können.
Erst einige Zeit später fiel ihm ein, was ihn so sorgenvoll gemacht hatte: Er wurde das Gefühl nicht los, an einem der obersten Äste Blätter gesehen zu haben. Dunkle Blätter, die sich im Wind leise flüsternd hin und her wiegten.
Es dämmerte bereits, als sie an ersten spärlichen Feldern vorbeikamen, die sich in Felsstufen duckten. Pereo erklärte Tyark, dass diese dem Freibauern Mandolf gehörten, der in Schwarzbach lebe. »Mandolf lebt in ewigem Zwist mit dem Fürsten Sturmfels zu Lindburg. Er hat sich schon immer schwer damit getan, die Herrschaft des Fürsten anzuerkennen. Meint immer, nur der Himmel und die Riesen hätten ihm was zu sagen. Niemand sonst.«
Pereo lachte schallend. »Der Orden hört so etwas natürlich auch nicht gern. War wohl auch ein paar Nächte im Kerker des Fürsten. Drüben in Lindburg. Hat danach das Maul nicht mehr so weit aufgerissen! Aber an seiner Meinung hat es nichts geändert. Man kann einen Menschen wohl zum Schweigen bringen, überzeugt hat man ihn deshalb aber noch lange nicht. Gerade die Bergbauern des Grates haben gewaltige Dickschädel. Müssen sie auch.«
Pereo griente vor sich hin und wies dann auf einen Schatten am Waldrand vor ihnen: »Dort drüben ist Mandolfs kleine Hütte. Die nutzt er immer, wenn er hier draußen arbeiten muss.«
Tyark folge ihm beflissen und konnte sich gut diesen unbekannten, dickschrötigen Dorfbauern vorstellen, wie er die göttliche Ordnung infrage stellte. Dabei war vollkommen klar, dass die Menschen stets jemanden brauchen würden, der sie regierte. Ansonsten würde nur Chaos ausbrechen und die Herzen der Menschen vergiften.
Bald schon erreichten Sie ein Gebilde, das den Namen Hütte wohl kaum verdiente. Es war nicht viel mehr als ein Bretterverschlag, der zu zwei Seiten winddicht gemacht worden war, aber immerhin über ein moosbewachsenes Dach verfügte. Die Kälte der Nacht würde nicht aufgehalten werden, aber es würde zumindest ausreichen, sie trocken zu halten.
Pereo stutzte plötzlich und wies auf den Boden des Lagerplatzes: »Jemand ist hier gewesen, warte.«
Der Hüne kniete sich auf den Boden und hielt die Hand an einen dunklen Haufen, der offensichtlich die Überreste eines Feuers waren. »Noch warm.«, er blickte sich um, »Jemand ist noch vor Kurzem hier gewesen. Mandolf wäre nie so dumm, bei Anbruch der Dunkelheit zum Dorf aufzubrechen. Jemand Fremdes muss hier gewesen sein.«
Ratlos spähte Pereo ins Dunkle und wie zur Antwort heulte ein Wolf in der Ferne. Aufkommender Wind begann, sein einsames Lied in den Baumwipfeln zu spielen.
»Wer auch immer hier war, ist weg, Pereo. Wir sollten Feuer machen und uns ausruhen. Es ist auch wieder so kalt.«
Tyark sah die mächtigen Kiefermuskeln in Pereos Gesicht arbeiten. Schließlich sagte dieser: »Du hast recht. Lass uns ein Feuer anzünden. Wer auch immer da unterwegs ist, wird mit etwas Glück morgen beim Dorf auf uns warten.«
In dieser Nacht träumte Tyark erneut, etwas Boshaftes habe sich aus dem Wald gewunden. Ein dunkles Etwas hatte sich in seinem Traum direkt vor sein Gesicht gestellt, er hatte den stinkenden Atem deutlich riechen können. Ein Etwas, das nur aus zwei Reihen grinsender, spitzer Zähne zu bestehen schien.
Aufgewacht war er nicht – aber der Geruch nach Erde, Blut und Verwesung hing ihm auch kurz nach dem Aufwachen noch in der Kleidung, zumindest kam es ihm so vor.
Kurz vor dem Aufbruch bemerkte Tyark, wie Pereo plötzlich stutzte und sich vor der Hütte auf den Boden kniete und nachdenklich mit dem Finger auf der Erde entlangfuhr. Er sagte: »Ich glaube, wir haben Besuch gehabt. Heute Nacht.«
Tyark spürte sofort, wie ein Schauer seinen Rücken entlang lief und für einen kurzen Moment konnte er den fauligen Atem des Bösen wieder riechen.
»Was meinst du? Ich glaube nämlich fast, ich hätte heute Nacht etwas gespürt! Im Traum, meine ich. Aber wach geworden bin ich nicht. In meinem Traum war es ein Geist oder so. Schrecklich war es jedenfalls!«
Pereo blickte ihn mit gerunzelter Stirn an, bevor er fortfuhr: »Nun, Geister hinterlassen eher keine Pfotenabdrücke im Boden. Hier ist aber eindeutig eine frische Spur zu sehen. Ein Wolf. Du kannst das gut an der Form der Zehen erkennen, siehst du?«
Er pfiff durch die Zähne und erklärte: »Und es war ein ziemlich großes Tier. Es scheint mehrfach um unser Lager gelaufen zu sein.«
Pereo stutzte, als er eine Stelle neben einem großen Stein betrachtet. »Und hier hat es sich hingelegt, sehr merkwürdig!«, er blickte Tyark ernst an, »Vielleicht ist an deinem Traum mehr dran, als du denkst! Allerdings habe ich noch nie gehört, dass Wölfe so etwas tun ... Vielleicht habe ich die Spuren gestern Abend auch übersehen.«
Tyark wurde mulmig in der Magengegend beim Gedanken daran, ein riesiger Wolf hätte heute Nacht unmittelbar vor seinem Gesicht gestanden. Ihm wurde schlecht.
Pereo lachte grollend. »Na, na! Keine Sorge! Wenn er dich hätte fressen wollen, wärst du jetzt Wolfsfutter! Scheinst aber nicht so gut zu riechen, mein Freund! Gut zu wissen!«, er feixte schadenfroh. »Aber wir sollten zukünftig wachsamer sein, denke ich. Die Grate sind immer für Überraschungen gut. Man meint, sie ein Leben lang zu kennen. Und dann überraschen sie einen, nicht immer geht das dann so glimpflich aus. Nein, wirklich nicht!«
Tyark schluckte und spürte langsam, wie das Blut zurück in seinen Kopf floss. Seine Knie fühlten sich weich an. »Ich mag keine Wölfe. In den ersten Wochen meiner Flucht aus dem Süden wurden wir von einem Rudel angegriffen. Es hat sogar einen Toten gegeben, bis wir endlich die meisten von ihnen erschlagen konnten.«
Pereo brummte nur etwas in seinen mittlerweile kräftig gewachsenen Bart. »Lass uns aufbrechen, Tyark. Wir wollen nicht noch eine Nacht im Freien verbringen.«
Sie brachen unverzüglich auf, begleitet von kühlen Regenschauern und einem schneidenden Wind, der den Geruch des Herbstes in sich trug.
***
Sie waren bereits den halben Tag unterwegs, als sie aus dem Wald vor sich plötzlich ein bösartiges Knurren vernahmen. Pereo hatte sofort sein Schwert in der Hand und bewies auch hier eine unheimliche Schnelligkeit, während Tyark noch unbeholfen nach dem Griff seines Kurzschwertes angelte. Pereo zischte: »Still jetzt! Die Wölfe scheinen etwas gefangen zu haben. Wir sollten sie nicht stören!«
Auch Tyark vernahm nun ein wütendes Geknurre und Gekläffe – diese Wölfe klangen ganz anders als die, welche die Flüchtlingstrecks immer und immer wieder überfallen hatten. Bösartiger. Und wilder.
Die Situation änderte sich schlagartig, als sie plötzlich ein lautes Schreien vernahmen, welches ebenfalls aus der Richtung der Wölfe kam. Es war eindeutig das Schreien einer Frau – einer Frau in Todesangst.
Sie verloren keine Zeit und liefen durch das dichte Unterholz in Richtung des Lärms. Pereo fiel sofort in einen monotonen, dunkel klingenden Singsang, während er mit gezücktem Schwert und Schild durch die Büsche brach.
Der Gesang des Krieges!, schoss es Tyark durch den Kopf.
Tyark strauchelte, als Pereo plötzlich stehenblieb.
Vor ihnen hatte eine kleine Lichtung aufgetan, auf der sich drei große Wölfe mit gesträubtem Fell befanden. Die Tiere hatten sich in einem Kreis um eine komplett in Schwarz gekleidete, vielleicht dreiundzwanzig Jahre alte Frau gestellt. Ihr Umhang war am linken Bein zerrissen und gab den Blick auf eine Wunde frei, die stark blutete. Ihr Kopf war kahlgeschoren, lediglich vom Hinterkopf baumelte ein dunkler Pferdeschwanz, der ihr fast bis an die Hüften reichte und mit roten Schnüren zu einem langen Zopf zusammengebunden war.
Tyark erkannte an ihrer Gewandung und ihrer eher befremdlich wirkenden Haartracht eine Schwester des Ordens. In der Hand hielt sie einen langen Stab, mit dem sie durchaus geschickt, wenn auch zunehmend weniger erfolgreich, die Wölfe auf Distanz hielt. Ihr Atem ging keuchend, wahrscheinlich hatte sie bereits eine Weile mit den Wölfen gekämpft.
Die Frau musste sie bemerkt haben, denn sie begann damit, rückwärts in ihre Richtung zu humpeln. Auch die Wölfe hatten die Eindringlinge bemerkt und schienen zunächst unschlüssig, was sie mit den nun veränderten Kräfteverhältnissen tun sollten.
Pereo schien dies instinktiv zu spüren, da er sofort damit begann, durch kräftiges Rufen und Schlagen auf sein Schild auf die Wölfe zuzugehen – offensichtlich in der Absicht, sie zu vertreiben.
Schon dachte Tyark, dass die Wölfe nun sicherlich die Flucht antreten würden – da griffen sie plötzlich an. Zwei stürzten Richtung Pereo und der zurückweichenden Frau. Einer kam direkt auf Tyark zu. Er hörte Pereo noch überrascht fluchen, da musste er bereits dem springenden Wolf ausweichen.
Er roch Erde und den durchdringenden Geruch von wildem Tier, als das Biest seinen Arm streifend an ihm vorbei sprang. Die Frau vor ihm schrie. Tyark drehte sich um, das Kurzschwert zum Stich bereit. Der Wolf hatte bereits umgedreht und kam mit gesträubtem Nackenhaar langsam auf ihn zu. Es gab ein durchdringendes, bösartiges Knurren von sich, das Tyark kalte Schauer den Rücken hinunter jagte. Hinter sich hörte er Pereo wieder fluchen, ein Schwert klirrte. Tyark blickte das Tier an. Ein prachtvoller, großer Wolf mit tiefgelben Augen. Scharfe Zähne blitzten in seinem Maul, schaumiger Speichel lief heraus.
Dann sprang das Tier erneut.
Tyark hatte auf seiner Flucht bereits gegen Wölfe gekämpft und nutzte auch diesmal eine Taktik aus, die ihm bereits zuvor das Leben gerettet hatte. Er wusste, dass der Wolf instinktiv hoch genug sprang, um ihm in die Kehle beißen zu können. In dem Moment, als der Wolf sprang, ließ sich Tyark fallen, das Schwert in Richtung des Bauches des Wolfes gerichtet.
Sein Plan hatte Erfolg. Der Wolf sprang mit voller Wucht in Tyarks Schwert. Es drang tief in den Unterleib ein und schnitt durch die Wucht des Sprunges den Wolf fast auf der gesamten Länge auf.
Tyark wurde vom Aufprall umgerissen. Der schwere Körper des Wolfs begrub ihn unter sich. Das Tier hatte zwar zunächst laut aufgejault, gab aber weiterhin dieses grausame Knurren von sich.
Tyark roch und schmeckte das Blut des Wolfes, die Eingeweide des Tieres landeten warm und feucht auf seiner Brust. Schnappende Kiefer näherten sich seinem Gesicht. Tyark gelang es nicht, sein Schwert schnell genug aus dem Leib des Tieres herauszuziehen. Den nächsten Biss konnte er nur durch seinen Unterarm abwehren. Der Wolf biss hinein und Tyark setzte alles daran, die schüttelnden Bewegungen des Wolfkopfes so weit wie möglich zu verhindern.
Er spürte keinen Schmerz, als die Zähne tief in seinen Arm eindrangen. In seinem Gesicht vermischte sich nun das Blut des Wolfes mit seinem eigenen. Tyark konnte nur mühsam seine Panik niederringen. Das Tier war mehr tot als lebendig – und doch keuchte und knurrte es heißer, versuchte mit allen Mitteln nach seinem Arm und nach seinem Gesicht zu schnappen. Die Krallen des Wolfes kratzten auf Tyarks Brust. Die gelben Augen waren nun direkt vor Tyarks Gesicht. Es war nichts als wilde Raserei darin. Der Geruch von Blut breitete sich aus.
Langsam spürte er, wie seine Kräfte ihn verließen, das Gewicht des Wolfes machte ihm das Atmen schwer, doch er kam einfach nicht unter dem Tier heraus. Der Kopf des Wolfes näherte sich Tyarks Gesicht, verzweifelt versuchte er, das rasende Tier zurückzudrängen, vergeblich.
Der Wolf lockerte kurz seinen Biss, wahrscheinlich, um eine lohnendere Stelle zu finden. Die gelben Augen blickten starr in Tyarks, für einen Moment konnte er sein eigenes, blutbeflecktes Gesicht darin erkennen.
Ein plötzlicher Stockhieb traf den Kopf des Wolfes mit einer unglaublichen Wucht. Tyark hörte, wie der Schädel knackte. Das Tier wurde beiseite geschleudert und blieb zuckend neben ihm liegen.
Tyark blickte auf und sah die Frau neben sich stehend, schwer atmend; Blut lief ihr Bein hinunter, versickerte im Gras. Sie streckte ihm wortlos ihren Arm entgegen, er ergriff ihn und wurde überraschend kräftig nach oben gezogen. »Danke.«
Mehr konnte er nicht sagen und keuchend drehte er sich nach dem Wolf um. Dieser lag im Sterben, an seinem Kopf war eine große, offene Kopfwunde zu sehen, die den Blick auf Teile des Gehirns freigab. Und doch, selbst im Sterben versuchte er noch vergeblich, in Tyarks Fuß zu beißen. Wortlos riss Tyark sein Schwert aus den Eingeweiden und stieß es dem Wolf direkt in die Flanke. Erst jetzt hörte das Knurren endlich auf.
Er wischte sein Schwert an seiner Hose ab und blickte die Frau an. Sie schien etwas jünger als er zu sein. Das Gesicht war fein geschnitten und doch hatte sich ein harter Blick darin gefestigt, der fast völlig kahle Kopf unterstrich diesen Eindruck noch. Die Augen waren von einem tiefen Grün und er hatte den merkwürdigen Eindruck, dass sie direkt durch ihn hindurch blickten. Und doch war etwas in ihnen, das Tyark in seinen Bann schlug.
Erst jetzt nahm er wahr, dass ein Ohr der jungen Frau offensichtlich zur Hälfte abgeschnitten war. Er frage sich unwillkürlich, ob dies Folge eines Unfalles oder Kampfes gewesen war. Die Frau bemerkte seinen Blick zog hastig die Kapuze ihres Umhanges über den Kopf.
Sie sagte: »Danke, dass ihr mir geholfen habt.«
Sie drehte sich zu Pereo um, der ebenfalls schwer atmend über den zwei Kadavern der anderen beiden Wölfe stand. Auch sein Schwert war voll von dunklem Wolfsblut, er selbst schien aber nicht weiter verwundet zu sein.
»Wir hörten die Wölfe und dachten zunächst, sie würden sich um ihre Beute streiten ... aber anscheinend wart Ihr ihre ...«
Bevor Tyark seinen Satz beenden konnte, sah er aus dem Augenwinkel eine Bewegung am Waldrand. »Vorsicht! Mehr von ihnen!«
Alle hoben sofort ihre Waffen und blicken in die Richtung, in die Tyark mit seinem Schwert deutete. Aus dem Wald trat nun mit hängender Zunge ein riesiger, fast vollkommen schwarzer Wolf. Das Tier, ein Weibchen, blieb ruhig am Waldrand stehen und schien keine Anstalten zu machen, sie anzugreifen. Alle drei konnten sein durchdringendes, tiefes Knurren hören.
Pereo wich langsam zurück und stellte sich zu den anderen. Er zischte: »Ein unglaublich großes Tier. So was habe ich noch nie gesehen!«
Die Wölfin kam mit gesträubtem Fell ein Stück auf sie zu und Tyark rechnete damit, dass sie im nächsten Moment auf sie zustürmen würde. Doch es blieb gut zehn Meter vor ihnen stehen und starrte sie einfach nur an. Dann drehte sich das Tier unvermittelt um – einen kurzen Moment sah es fast so aus, als sträube sie sich dagegen – und trottete langsam in den Wald davon.
Pereo atmete hörbar auf und murmelte: »Eine schwarze Wölfin! Ich glaube fast, Jobdan, unser Jäger, erzählte mal von einer! Hat sie früher wohl gejagt, weil sie unsere Herden riss. Hat sie aber nie erwischt. Er hat dann düstere Geschichten von ihr erzählt – meinte, dass sie in Wirklichkeit ein Ingrimm sein muss. Hat dann aufgehört, ihr nachzustellen ...«
Tyark starrte noch eine Weile in Richtung der Stelle, wo das Tier im Wald verschwunden war. Schließlich zog er sich zusammen mit den anderen zurück.
Pereo hatte tatsächlich nur einen Kratzer an der Wange davongetragen, der aber nicht sonderlich tief war.
Der Biss an Tyarks Unterarm war dagegen tiefer und Pereo bestand darauf, dass Tyark die Wunde gründlich reinigte. »Eine Narbe wird bleiben, aber du wirst leben.«, mit Blick auf Tyark bleiches Gesicht lachte er grollend, »Ein Krieger ohne Narben ist kein Krieger!«
Er schlug mit seiner Hand Tyark so fest auf die Schulter, dass diesem kurz der Atem wegblieb.
Das Bein der Frau war ebenfalls in keinem guten Zustand, auch machte sie insgesamt einen vollkommen erschöpften Eindruck. Tyark nickte ihr schließlich zu: »Das ist Pereo, ich bin Tyark. Gut, dass wir Euch rechtzeitig angetroffen haben!«
Ein Lächeln huschte über das junge Gesicht der Frau. Mit sanfter Stimme sagte sie: »Ich heiße Zaja. Es freut mich auch, euch getroffen zu haben! Ihr ahnt vielleicht, wie sehr ...«
Pereo nickte nur stumm und fuhr fort, seine Waffe zu reinigen. Zaja sagte: »Ich bin auf dem Weg nach Schwarzbach und dachte eigentlich, dass es ganz in der Nähe sein müsse. Ich habe ein paar Stunden südlich von hier in einer Hütte gelagert und mich dann aber entschlossen, noch am Abend weiterzuziehen. Die Wölfe verfolgen mich bereits seit Tagen. Ich konnte kaum schlafen aus Angst, nicht mehr aufzuwachen.«
Pereo horchte auf und sagte brummend: »Ihr seid alleine aufgebrochen? Durch die Grate? Ihr könnt von Glück reden, überhaupt so weit gekommen zu sein!«
Zaja schüttelte traurig den Kopf und sie erfuhren, dass sie anfangs von einem Waldläufer begleitet worden war. »Doch dann haben sie uns mitten in der Nacht überfallen! Es war ein einziger Alptraum. Plötzlich waren sie da, wir konnten uns gerade noch wehren. Doch sie ließen nicht von uns ab! Den ganzen Tag lang haben sie uns gehetzt und gestern ...«, sie stockte, »... gestern, ich weiß, wie das klingen muss, aber sie haben uns eine Falle gestellt! Wir wurden gezielt in eine Felskluft getrieben und dort haben sie uns gestellt. Dort haben sie Mornitz getötet! Er hat sie zu sich gelockt – sonst wäre ich jetzt schon tot.«
Zaja rieb sich einzelne Tränen aus dem Gesicht.
Unbehaglich murmelte Pereo: »Merkwürdig. Ein Waldläufer lässt sich nicht so leicht von Wölfen überraschen ...«
Zaja zuckte hilflos mit den Schultern und fuhr nach einer Weile fort: »Ich glaube, ich habe diese große Wölfin schon gestern gesehen. Sie stand auf einem großen Felsen und ... und sie schien zu beobachten, wie uns ihr Rudel angriff!«
Zaja atmete tief ein und blickte ängstlich in den Wald.
Tyark verspürte großes Mitleid mit ihr – er konnte nachempfinden, welchen Horror Zaja erlebt hatte. Auch jagte es ihm Schauer über den Rücken als er hörte, wie merkwürdig sich diese Wölfe offensichtlich verhalten hatten.
Beruhigend sagte er: »Das mit eurem Gefährten tut uns leid, ich hoffe, seine Seele ist nun bei den Großen Alten ...«
Er schwieg und blickte Zaja an. Ihr schmächtig wirkender Körper wurde von einem lautlosen Schluchzen geschüttelt und es dauerte lange, bis sie sich wieder beruhigt hatte.
Schließlich sagte Tyark vorsichtig: »Wir sind ebenfalls auf dem Weg nach Schwarzbach – sagt, was verschlägt Euch in diese Gegend?«
Die Frau lächelte traurig: »Gut, dass euch die Großen Alten hierher geschickt haben und ihr mir das Leben retten konntet! Die Pläne der Alten sind wahrhaftig für uns nur nicht immer klar zu erkennen. Und dass diese Pläne meinen Tod heute nicht im Sinne haben, erfüllt mich mit Erleichterung. Danke nochmals für eure Hilfe! So bleibt das Opfer Morniz‘ vielleicht nicht umsonst.«
Sie schluckte erneut und blickte mit verschränkten Armen in die Ferne.
Mit Blick auf Pereo fuhr sie fort: »Leider ist der Grund meiner Reise ähnlich ungewöhnlich ... und besorgniserregend.«
Pereo trat mit fragendem Gesichtsausdruck näher.
»Es scheint etwas vorgefallen zu sein in Schwarzbach. Der Orden in Lindburg hat mich daher mit Morniz hier herauf geschickt. Ich soll mir ein Bild der Lage machen und dem Orden anschließend berichten, was hier vorgefallen ist.«
Schnell fügte sie hinzu: »Falls überhaupt etwas vorgefallen ist.«
Pereo sah sie fragend an: »Was soll denn vorgefallen sein? Was veranlasst den Orden, eine Schwester hier herauf zu schicken?«
Zajas Blick wich dem seinen aus. »Ich weiß es ehrlich gesagt nicht genau. Mir wurde es so dargestellt, als ginge es um ungeheuerliche Behauptungen, die keinesfalls einer tatsächlichen Grundlage entsprechen könnten. Denen ich aber dennoch nachgehen sollte.«
Bevor sie weiterreden konnte, hörten sie Wolfsgeheul, das bedrohlich nah zu sein schien.
Hastig sagte Tyark: »Wir sollten aufbrechen. Zum Dorf ist es nicht mehr weit, aber es wird bald dunkel. Ich will nicht noch mehr Wolfsblut auf meiner Kleidung. Und auf weitere Bisse bin ich auch nicht erpicht ...«
Pereo und Zaja schauten sich um. Pereo sagte: »Du hast recht. Lass uns aufbrechen. Wir werden sowieso heute Abend selbst erfahren, was in Schwarzbach vorgefallen ist oder auch nicht.«
Er warf noch einen letzten Blick auf die Schwester und machte sich dann daran, die verstreut liegende Ausrüstung aufzusammeln.
Tyark berührte Zaja an der Schulter, worauf diese sofort zurückzuckte. »Alles in Ordnung mit Euch? Ich meine, bis auf den Biss und dieses Biest im Wald ...«
Er versuchte, zu lächeln, was ihm aber mehr schlecht als recht gelang. Zaja lächelte angestrengt zurück. »Ja, mir geht es soweit gut, danke. Es waren harte Tage für mich. Ich kannte Morniz gut. Es war schrecklich, ihn im Todeskampf schreien zu hören.«
Sie schluckte. »Viele der Prüfungen der Großen Alten sind für uns fürwahr nicht begreifbar. Und vieles, was uns sinnlos erscheint, erfüllt doch einen tieferen Zweck ...«
Sie blickte gedankenverloren in den grauen Himmel. Es hatte wieder begonnen zu regnen. Der Regen wusch das Blut der erschlagenen Wölfe ins Erdreich und färbte den Waldboden rot.
Viel später löste sich ein Schatten aus dem dichten Unterholz und schlich winselnd um die erstarrten Körper herum. Nach einer Weile verschwand er so lautlos im Wald wie er herausgekommen war.
***
Als sie die Lichter des Dorfes vor sich sahen, war die Dämmerung bereits weit fortgeschritten. Der Regen hatte aufgehört, dafür bildeten sich dichte Nebelschwaden, die sich unheimlichen Geschöpfen gleich zwischen den Baumwipfel hindurchschlängelten.
Tyarks Arm schmerzte etwas und er hatte Mühe, den beiden anderen zu folgen. Trotz ihrer schlimmen Verletzung am Fuß konnte Zaja gut mithalten. Sie schien ihre Schmerzen nicht zu spüren, oder klagte zumindest nicht. Bei Sonnenuntergang fing sie sogar leise damit an, eine Melodie zu summen, die einsam zwischen den im Wind leise rauschenden Baumwipfeln verklang.
Schwarzbach bestand aus zehn einfachen Hütten, die sich vor der angrenzenden Natur zwischen Bäumen und Felsen zu ducken schienen.
Direkt hinter den Häusern führten steile Hänge hoch zu den Gipfeln, von denen manche so hoch waren, dass ihre Spitzen fast immer von Wolken verdeckt waren. Wolkenfetzen trieben um die karstigen Felsen, steile Felsvorhänge und ewiges Eis schienen nur darauf zu warten, auf das Dorf darunter zu stürzen und alles unter sich zu begraben. Tiefe Schatten lagen zwischen den zerklüfteten Hängen. »Tyark, was ist? Komm schon! Trödel nicht so!«
Ungeduldig winkte Pereo mit seinem Arm, drehte sich dann wieder um und beschleunigte seinen Schritt. Unsicher folgte ihm Tyark, ungewiss dessen, was sie im Dorf erwarten würde.
Seltsamerweise empfing sie niemand, obwohl sie schon eine gute Weile vom Dorf aus zu sehen gewesen sein mussten.
Sie kamen am kleinen Anger des Dorfes vorbei, den Tyark an den zahlreichen, reich verzierten Grabpfählen erkannte. Zu seinem Erstaunen konnte er im hinteren Teil des Angers auch zwei schlichte Kreuze ausmachen – Kennzeichen einer alten, fast vergessenen Religion, der anscheinend jemand aus diesem Dorf angehört hatte.
Er zuckte zusammen, als er sanft von Zaja angestoßen wurde, die ihn darauf aufmerksam machte, dass vier frische Gräber ausgehoben worden waren. An einem dieser Gräber saß eine zusammengesunkene Gestalt. »Was ist hier los? Warum sind hier so viele Gräber? Was ist hier passiert?«
Pereo hatte die Fragen mehr an sich selbst denn an Zaja gerichtet, die nur ein hilfloses Schulterzucken als Antwort geben konnte. Leise antwortete sie: »Von Todesfällen weiß ich nichts, es soll etwas anderes passiert sein. Ich weiß aber keine Einzelheiten.«
Alle drei liefen nun im Eilschritt in das Dorf hinein, welches seltsam unbelebt schien. Pereos schwere Schritte stampften durch den Schlamm zwischen den Häusern, er lief direkt auf das größte Haus des Dorfes zu, um welches sich die anderen sammelten.
Gerade als Pereo ansetzte zu klopfen, öffnete sich die Tür. Ein bleicher, vielleicht vierzig Jahre alter Mann trat heraus. Auf seinem mit tiefen Sorgenfalten gezeichneten Gesicht erschien ein überraschtes Lächeln.
»Pereo! Was machst du denn hier! Woher ...«
Der Mann fuhr nicht fort, sondern begann zunächst erstaunt, dann aber mit immer deutlicher werdenden Zorn Zaja zu fixieren. »Was machst DU hier? Hat dich der verdammte Orden geschickt, um die Verbrechen deines Bruders zu vertuschen?!«
Der Mann kam drohend auf Zaja zu, welche überrascht einen Schritt zurückwich. Tyark bemerkte, wie nun auch andere Dorfbewohner aus ihren Hüten kamen und sich in einem flüsternden und raunenden Kreis um sie versammelten.
Pereo hielt den Mann mit ausgestrecktem Arm auf und sagte: »Mandolf, bleib stehen! Wir haben sie im Wald aufgelesen. Wölfe wollten sie gerade zerreißen. Erkläre mir, wessen du sie beschuldigst.«
»Wäre sie doch von den Wölfen zerrissen worden! Verbrechen wie die ihres Ordens würde man doch sonst nur einem Dämon zutrauen!«
Dann sah Tyark, wie Trauer den Mann übermannte und leise begann Mandolf zu weinen.
Zaja schien ebenfalls erblasst, sie hatte ihre Stimme aber unter Kontrolle, als sie ruhig fragte: »Welches Verbrechen? Ich wurde hierher geschickt, da dem Fürsten Beschwerden über den hier lebenden Bruder Rynn zu Ohren gekommen sind! Er soll ... eines schweren Verbrechens beschuldigt worden sein?«
Die um sie herum stehenden Dorfbewohner wurden langsam lauter, einzelne ärgerliche Stimmen waren zu hören, der Kreis wurde enger. Tyark begann zu schwitzen und seine Hand suchte heimlich den Griff seines Schwerts.
Mandolf beruhigte sich langsam. Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und atmete tief durch. »Ja, verzeiht. Es ist vielleicht nicht richtig, Euch für das abscheuliche Verbrechen eines Glaubensbruders verantwortlich zu machen.
Ich möchte euch hinein bitten. Ich ... ich vergaß einen Moment unsere Traditionen und die Gebote der Berge.«
Sie ließen die wütend murmelnde Menge hinter sich zurück, nur wenige der Dorfbewohner gingen in ihre Häuser zurück. Tyark war die ganze Stimmung unheimlich. Etwas ging hier vor, auch die Menschen waren seltsam, ihre verärgerten Reaktionen auf Zaja kamen ihm recht unnatürlich vor.
Etwas Schlimmes musste passiert sein, Trauer schien zwischen den Dächern der armseligen Hütten wie ein Gespinst zu hängen.
***
Mandolf schenkte ihnen allen einen würzig schmeckenden Kräutersud ein, nur ein leises Zittern seiner Hand verriet die innere Anspannung. Tyark bemerkte, dass Zaja auch innerhalb des Hauses ihre Kapuze aufbehielt, wenn auch leicht zurückgeschoben.
Mandolf setzte gerade zu einer Frage an, als die Tür krachend aufgestoßen wurde. Tyark und Pereo erhoben sich hastig, Tyark entging nicht, dass auch Pereo sein Schwert griffbereit getragen hatte.
»Wo ist die verdammte Windbraut, die all die Kinder auf dem Gewissen hat? Wo ist diese Ausgeburt der Neunundneunzig Höllen, dieses verdammten Ordens, der seine Meuchler zu friedliebenden Leuten schickt? Wo!«
In der Tür stand ein sehr alter Mann, dessen spärliches weißes Haar wirr und filzig den Kopf herunterfiel. In der Hand trug er einen Stock und nach seinen wüsten Beschimpfungen kam er drohend und keuchend auf Zaja zu. Diese hielt sich bleich am Tisch fest und trotz der gefährlichen Beleidigung ihres Ordens entgegnete sie nichts.
Mandolf sprang hinter dem Tisch hervor und stellte sich dem tobenden alten Mann in den Weg. Die blassen blauen Augen des Alten sprühten Zorn und einen Hass, wie ihn Tyark selten gesehen hatte. Irgendwie erinnerte ihn der alte Mann an den tobenden Wolf, den er im Wald erschlagen hatte.
»Vater! Sie ist von ihrem Orden hierher geschickt worden, um Rynns Verschwinden und das der Kinder zu untersuchen! Die Gebote der Berge schreiben uns Höflichkeit und vor allem Friedlichkeit gegenüber unseren Gästen vor! Sie hat sich keines Verbrechens schuldig gemacht! Bitte, Vater!«
Der Alte ließ sich nur schwer beruhigen, in seine gezischten Anschuldigungen mischen sich nun auch dunkle Drohungen. Nur mühsam gelang es Mandolf schließlich, seinen geifernden Vater zu zähmen.
Der alte Mann brach plötzlich in Tränen aus, spuckte dann aber bösartig auf den Boden vor ihnen und zog sich lärmend ins Obergeschoss zurück.
Zaja hatte die Augen geschlossen, ihre Lippen waren zu einer schmalen Linie gepresst. Es fiel ihr offensichtlich schwer, die Fassung zu wahren und es dauerte eine Weile, bis sie bereit war, sich wieder zu setzen – ihren Kampfstab in Reichweite.
»Verzeiht meinem Vater, er ... nun, er ist alt. Und das was vorgefallen ist – nun, kein Alter der Welt kann den Geist vor dem Entsetzen schützen. Auch mir fällt es schwer.«
Ein schwerer Hustenanfall erschütterte Mandolf. Zaja nickte kurz. »Ich verzeihe euch. Und ich verzeihe eurem Vater. Bitte – schildert mir, was passiert ist. Was ist mit den Kindern? Was ist mit meinem Bruder? Mit Rynn?«
Mandolf blickte mit wässrigen, müden Augen in das kleine Kaminfeuer und erzählte es ihnen schließlich.
Die Nacht war längst eingebrochen, als Mandolf seine Schilderung beendet hatte. Bleich lehnte er sich zurück und beobachtete Zaja mit müden und geröteten Augen.
Tyark war entsetzt über das gerade Gehörte, er spürte leichten Schwindel in sich aufsteigen. Pereo saß wie versteinert am großen Eichentisch und schien auf etwas in weiter Ferne zu blicken. Offensichtlich war es vor einem Monat passiert: Der Ordensbruder, Rynn, hatte sich wohl schon die Wochen davor recht merkwürdig gezeigt, war häufig allein in die Riesengrate gestiegen und oft erst nach Tagen wieder heimgekehrt.
Auch schien er zunehmend abwesend zu sein und auf Fragen gab er, wenn überhaupt, nur merkwürdige, verworrene Antworten. Da er erst seit zwei Jahren hier wohnte, hatten es die Dorfbewohner zunächst nicht weiter ernst genommen.
Vielen machte das entbehrungsreiche Leben in den Graten große Mühe und so mancher wurde über die Zeit etwas wunderlich. Daimon war in ihrem vollen Lauf, als es passiert sein musste – und niemand hatte etwas bemerkt, als sei dunkle Magie im Spiel gewesen: Alle Kinder des Dorfes waren auf einmal verschwunden – erst später fiel auf, dass auch Rynn fehlte.
Der Jäger Jobdan fand die Spur der Kinder schließlich unweit des Dorfes, sie führen direkt ins Hochgebirge. Mit einigen Männern war er den Kindern nachgestiegen, doch nach einigen Tagen mussten sie die Suche abbrechen, schlechtes Wetter war aufgekommen und außerdem wurden sie mehrfach von einem Rudel Wölfe attackiert. Ein Mann hatte die Suche so fast mit seinem Leben bezahlen müssen. Jobdan war später auch mit einem Freund ins Hochgebirge gestiegen, zunehmend verzweifelt. Doch von den Kindern fehlte jede Spur und eines Tages war Jobdan alleine zurückgekommen, sein Freund hatte in einer tiefen Felskluft den Tod gefunden. Jobdan war danach nicht mehr derselbe gewesen und alle im Dorf ahnten, dass dort oben mehr passiert war also nur ein tragischer Unfall. Doch Jobdan schwieg und war seit diesem Tage nicht mehr ins Hochgebirge aufgebrochen.
Leise fragte Zaja: »Und danach begann auch noch diese ... rätselhafte Krankheit? Wie viele Opfer hat sie gefordert?«
Mandolf atmete tief ein und ein erneuter Hustenanfall erschütterte seinen Leib. Er antwortete: »Nur wenige Tage nach dem Verschwinden der Kinder begann es. Fast, als ob das Verschwinden der Kinder die Lebenskraft mit sich genommen hätte!
Malik war der Erste, Peta die Zweite. Ihr Sohn ist mit den anderen Kindern verschwunden. Zunächst dachten wir, die Trauer hätte die beiden den Lebensmut verlieren lassen. Doch dann wurde auch Morik krank und mit ihm Fassbert. Nach zwei Wochen starben sie elendig, nur noch schwache Schatten ihrer selbst.«
Sie erfuhren, dass diese rätselhafte Krankheit auf unbekannte Weise übertragen wurde. Bislang waren drei Männer und eine Frau, allesamt jung und gesund, befallen worden. Alle vier waren gestorben, auch jetzt lagen zwei Männer im Sterben. »Noch merkwürdiger ist allerdings, dass die Kranken nicht übermäßig zu leiden scheinen ... sie werden einfacher immer schwächer, sie verblassen regelrecht. Und verlöschen dann einfach – wie Kerzen.«
Mandolfs Hände rieben nervös einander. »Und dabei haben die meisten ein Lächeln im Gesicht, selbst im Augenblick ihres Todes.«
Hilflos schaut er seine Besucher an.
Zaja bestand darauf, sofort an das Bett eines der Kranken gelassen zu werden und nach anfänglichem Zögern willigte Mandolf ein.
Der Gang durchs Dorf glich einem Spießrutenlauf. Gemurmelte und auch laute Drohungen waren manchmal zu hören, einige spuckten vor Zaja aus. Tyark konnte zwar verstehen, dass diese Menschen Zaja für das Geschehene mitverantwortlich machten, aber dieser blinde Hass erstaunte und erschreckte ihn.
Mandolf führte sie in eine ärmliche Hütte am Rand des Dorfes. Innen sahen sie eine bleiche Frau, die mit nervösen Bewegungen ein Feuer unterhielt. In der Ecke, auf einem strohbedeckten Lager, sahen sie eine dürre, menschliche Gestalt liegen.
Als sie eintraten, begann die Frau aufgeregt mit Mandolf zu flüstern, doch dieser wies sie schnell zurecht. Zaja kniete sich neben das Bett und legte dem Kranken ihre Hand auf die Stirn. Überrascht zog sie ihre Hände rasch wieder zurück und sagte unsicher: »Kalt! Er ist so kalt ... kein Fieber?«
Mit unverhohlenem Misstrauen in der Stimme antwortete die Frau, ohne vom Hocker aufzustehen. »Nein, keiner der Kranken hat Fieber. Im Gegenteil! Sie werden immer kälter. Nur selten wachen sie auf, berichten von wirren Träumen. Zuletzt ist Jonas gestern aufgewacht ... ich konnte ihm wenigstens etwas Suppe einflößen. Aber seitdem hat er nichts mehr gegessen, er ...«
Die Frau stockte und begann kraftlos zu schluchzen. Sanft wurde sie schließlich von Pereo aus der Hütte geführt.
Betrübt sprach Mandolf weiter: »Fast könnte man sagen, die Kranken verhungern und verdursten. Allerdings scheint es eher so, als ob auch etwas ihnen ihre Lebenskraft ... stiehlt. Sie welken dahin, bis nur noch die sterbliche Hülle übrigbleibt.«
Zaja war sichtlich berührt. »Ich kann mir das nicht erklären! Solch schwere Krankheiten gehen immer mit Fieber einher. Das Fieber hilft dem Körper, die Krankheit zu bekämpfen. Aber hier ...«
Sie blickte den Kranken ratlos an. Lange saß sie neben dem Kranken, leise Gebete flüsternd.
Schließlich stand sie auf, ihre Stimme klang spröde: »Es tut mir leid, ich kann nichts für ihn tun. Ich verstehe die Ursache nicht. Ich sehe keine Wunden, keine Insektenbisse, nichts! Ich habe so etwas noch nie gesehen. Und ...«, sie blickte den Kranken lange an, »er sieht tatsächlich glücklich aus! Obwohl er dem Tode näher ist als dem Leben.«
Mandolf nickte nur knapp und sagte leise: »Merian hat diese Krankheit auch. Ihm geht es aber noch nicht so schlecht.«
Er presste die Lippen zusammen und trat zu den anderen vor die Hütte. Tyark und Zaja blieben allein zurück.
Zajas hartes Gesicht schien zunächst keine Regung zu zeigen, dann begann sie plötzlich leise zu schluchzten und sank auf einen Hocker, das Gesicht in den Händen begraben. Instinktiv ging Tyark zu ihr hin und legte ihr die Hand auf die Schulter. Zunächst wich sie zurück doch schließlich klammerte ihre drahtige Hand fest die seine und so blieben sie lange Zeit schweigend zurück, nur der schwache Atem des Sterbenden begleitete sie.
Pereo war zu seiner Halbschwester gegangen, die ebenfalls den Verlust ihrer Tochter zu beklagen hatte, auch sie war mit den anderen Kindern verschwunden.
Tyark und Zaja hatten eine leer stehende Hütte am Rande des Dorfes bezogen. Zaja hatte schnell eine Handvoll kleiner Gebetskerzen aufgestellt und hielt mit Tyark schließlich flüsternd eine kleine Messe zu Ehren der Großen Alten und zum Gedenken an die Toten.
Am Ende der Messe sagte Tyark leise und mehr zu sich selbst: »Manchmal habe ich Angst, dass die Großen Alten meine Gebete nicht erhören. Auf meiner Flucht habe ich viele schreckliche Dinge gesehen – einmal habe ich sogar einen erschlagenen Bruder des Ordens gesehen! Ich meine ... warum schützen die Großen Alten nicht einmal einen, der Ihr Wort in Teanna verbreitet?«
Zaja lächelte schwach und antwortete: »Es war der Mensch, der den Funken der Magie den Großen Alten stahl und zurück auf die Erde brachte. Und der damit unendliches Leid und wahllosen Tod über sich selbst hereinstürzen ließ.
Die Großen Alten mögen uns geschaffen haben, doch sie ließen uns immer eines: Die Wahl der Entscheidung. Und die Menschen haben sich vor langer, langer Zeit dafür entschieden, gegen Ihren Willen zu leben. Gegen Ihre Liebe.«
Zaja legte ihre Hand auf Tyarks Schulter und drückte sie leicht. Sie fuhr lächelnd fort: »Ach Tyark, diese Frage stellen sich wohl Tausende jeden Tag. Doch sie vergessen dabei eines: Der Mensch hat sich gegen die Großen Alten entschieden, nicht umgekehrt! Wenn die Menschen eines Tages wieder bereit sind, Ihre Worte zu befolgen, so werden sie zurückkehren.
Doch bis dahin werden weiterhin Leid, Angst und Tod diese Welt bestimmen. So traurig und tragisch dies auch sein mag.«
Tyark nickte stumm, dankbar für ihre Worte.
Nachdem sie das Feuer für die Nacht geschürt hatten, wickelten sie sich beide in ihre Wolldecken und schliefen schnell ein. Tyarks Bitte nach einem traumlosen Schlaf sollte diese Nacht erfüllt werden.
Langsam erloschen die Lichter im Dorf. Wind kam auf und trieb vertrocknete Blätter in einem leise raschelnden Tanz um die Ecken.
Später begann es zu regnen und in den frühen Morgenstunden starb Jonas, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Er lächelte dabei.
***
Jonas‘ Begräbnis fand gegen Mittag statt.
Pereo und seine Halbschwester standen bei den anderen Trauernden, während Tyark und Zaja etwas abseits in der Nähe des Angers standen.
Tyark hatte sich direkt nach dem Aufstehen seltsam gefühlt und das nicht nur wegen der Tatsache, dass er auf einer Pfütze tatsächlich eine zarte Eiskruste entdeckt hatte, die aber bei den ersten Sonnenstrahlen rasch davongeschmolzen war.
Deutlich hatte er gespürt, dass etwas begonnen hatte – wie ein kleiner Kiesel eine alles begrabende Lawine auslösen konnte, so sagte ihm sein Herz, dass etwas geschehen sei. Etwas, dessen Ausmaß er erst später begreifen würde.
Er wusste nicht was und er konnte auch nicht sagen, woran er dieses Gefühl festmachte.
Die Nachricht vom Tode Jonas‘ überraschte ihn schließlich fast nicht, auch wenn er tiefes Mitleid für die noch junge Witwe verspürte. Er hörte Zaja Gebete murmeln, trotz ihrer tief ins Gesicht gezogenen Kapuze rann ihr der Regen durchs Gesicht.
Am nächsten Tag, der Himmel zeigte wieder dichtes Grau, saßen sie zusammen bei Mandolf an dessen schwerem Eichentisch. Sein Vater hatte nach eigenem Bekunden schlecht geschlafen, wobei er diesen Umstand ebenfalls dem Auftauchen Zajas anrechnete. Pereo redete schließlich als erster: »Meiner Halbschwester geht es auch nicht gut. Über dem ganzen Dorf hängen schwere Wolken. Und dann diese seltsame Kälte! Mitten im Sommer.«
Plötzlich schlug er mit seiner schweren Faust auf den Tisch und sagte dunkel: »Ich kann nicht einfach so hier herumsitzen! Wir müssen ins Hochgebirge, die Kinder suchen. Vielleicht ...«, er stockte, »vielleicht besteht noch ein Funken Hoffnung.«
Mit gesenktem Blick sagte Zaja: »Ich kann nicht in Worte fassen, wie leid mir das Fehlverhalten ... wie leid mir die Tat meines Ordensbruders tut. Etwas muss mit ihm vorgefallen sein. Nie ist mir etwas Ähnliches zu Ohren gekommen, niemals!«
Mandolf murmelte darauf nur Unverständliches.
Tyark erinnerte sich vage daran, dass der Orden häufig der übertriebenen Verschwiegenheit bezichtigt wurde und dass er unter vorgehaltener Hand auch manchmal Gegenstand dunkler Anschuldigungen gewesen war. Meist mit keinem guten Ausgang für den Anschuldigenden.
Unbeirrt fuhr Zaja fort: »Diese Tat ist nicht nur ein Verbrechen gegen alle Werte unserer Gesellschaft, sie stellt auch einen Bruch im Kodex des Ordens dar, wie er gravierender nicht sein könnte! Solche Taten sind nicht nur einfache Verbrechen, dessen müssen wir uns bewusst sein.«
Ihre Stimme nahm einen Ton an, der alle am Tisch Sitzenden aufhorchen ließ, selbst der alte Hund Mandolfs, der sich vor dem Kaminfeuer hingelegt hatte, zuckte mit den struppigen Ohren.
»Sofern ein Verbrechen vorliegt –«, sie sah kurz Mandolf an, dessen Miene aber unbewegt blieb, »können solche Taten mehr bewirken als nur das Leid der Angehörigen. Es ist schon oft vorgekommen, dass solche Taten gewisse ... Risse erzeugten. Es besteht dann, wenn auch hoffentlich nur kurz, ein Zugang zu einer der anderen Sphären. Das Böse erhält Eintritt in unsere Welt – und in unsere Herzen.«
Mit einer rauen Stimme frage Pereo nur: »Dämonen?«
Zaja runzelte die Stirn. »Ich ... weiß es nicht so genau, ich habe noch nicht so viel Zeit gehabt, auch in dieses Wissen eingeweiht zu werden. Ich habe nur den Rang einer Schülerin.«
Sie fuhr nach kurzem Überlegen fort: »Solche Zusammenhänge sind mir daher nicht im Detail bekannt. Ich weiß nur, dass solche Risse meist zu klein für Dämonen oder andere Manifestationen sind ... aber es reicht meist, um dämonisches Miasma in unsere Welt zu lassen, das sich wie eine Schlange um den Geist der Menschen schlingt.«
Sie schwieg eine Weile und fuhr dann leise fort: »Allerdings ist bekannt, dass manche wahrhaft abscheuliche Verbrechen tatsächlich nur einen Zweck hatten: Große Risse zu erzeugen, durch die ein Dämon unsere Welt betreten kann.«
Sie stockte und sprach zunächst nicht weiter, betretenes Schweigen breitete sich aus. Hastig sagte sie: »Aber ich glaube nicht, dass wir es hier mit einer solch schändlichen Tat zu tun haben! Nicht zuletzt muss ein menschlicher Geist vorhanden sein, der auf eine Art offen für derlei Dinge ist. Ich glaube nicht, dass Rynn etwas Dergleichen vorhatte. Er war schließlich ein Mann des Ordens!«
Sie blickte auf den Boden und fügte leise hinzu: »Wir sollten alle darum beten, dass ich Recht behalte.«
Pereo blickte finster ins Feuer des Kamins und brummte dann: »Wir sollten uns das Haus von Rynn anschauen. Vielleicht finden wir dort Hinweise.«
Wie sich herausstellte, hatten die Dorfbewohner bereits vor Wochen die gleiche Idee gehabt.
Die schlichte Hütte war mittlerweile von Mandolf vernagelt worden, nachdem zahlreiche aufgebrachte Bewohner die Inneneinrichtung auf ihre Art durchsucht hatten – von ihr war nur noch wenig erhalten. Das Dach schien an einer Stelle gebrannt zu haben, in der Folge war Regenwasser eingedrungen und hatte vieles endgültig verdorben.
Pereo wartete mit Mandolf draußen, in der Hütte war kaum Platz für vier Menschen. Tyark und Zaja standen in der düsteren Bleibe und schauten sich unschlüssig um.
Zaja begann schließlich, den Inhalt eines umgestürzten Regals zu durchsuchen. Viele Schälchen, Tiegelchen und andere für Tyark recht nutzlos aussehende Gegenstände kamen zutage. Schließlich rief Zaja ihn zu sich: »Schau, hier sind die Steine, welche Rynn gesammelt hat.«
Tyark sah eine vielfältige Sammlung an Steinen, die meisten davon schwarz, andere in verschiedenen Farben. »Er muss wirklich unzählige Male in den Graten gewesen sein, um diese Sammlung anzulegen.«, sagte Tyark. »Sind diese Steine irgendwie ... wertvoll? Oder geben sie uns Hinweise auf seine Pläne?«
Zaja wog den Kopf und antwortete unsicher: »Ich weiß nicht ... einige Steine kenne ich. Es scheint viel Riesenerz dabei zu sein. Geschliffen sogar, ich frage mich, wo er das hat machen lassen.«
Sie zeigte ihm einen etwa hühnereigroßen Stein, der offensichtlich in der Mitte durchgeschnitten worden war und dessen Innerstes aufwendig poliert worden war und nun in dunklen Farben schillerte.
Unsicher fuhr Zaja fort: »Aber soweit ich sehe, ist nichts Besonderes dabei. Also nichts, was meines Wissens in Ritualen oder dergleichen gebraucht werden könnte.«
Ihre grünen Augen blickten Tyark forschend an. Tyark blickte hastig zur Seite: »Gut, dann sollten wir weiter Ausschau halten.«
Während Zaja weiter den Inhalt des Regals durchstöberte, begann Tyark, den Rest der armseligen Hütte zu inspizieren.
Draußen begann es derweil schwach zu regnen, ein leichter Wind wehte durch zahlreiche Spalten in den Brettern der Außenwände. Tyark bemerkte ein leises Rascheln in der offenen Feuerstelle und trat näher. Dann sagte er: »Zaja, ich glaube, hier ist etwas.«
Geschickt sprang Zaja über die verstreuten Habseligkeiten Rynns und trat näher. Auch Pereo und Mandolf lugten durch den Eingang herein.
Tyark betrachtete den Inhalt der Feuerstelle. »Papier ... es ist Papier verbrannt worden.« Er blickte Mandolf fragend an, doch der schüttelte den Kopf.
Zaja hatte sich niedergekniet und stocherte vorsichtig in der Asche herum. »Warum sollte er so etwas tun? Papier ist zu wertvoll, um einfach verbrannt zu werden.«
Fragend blickte sie Tyark an und dieser schien kurz im tiefen Grün ihrer Augen zu versinken. Hastig fuhr sie fort, die Asche zu untersuchen. Aber schon bald stand sie mit einem Seufzen auf. »Leider ist alles verbrannt, die Asche ist gerade noch als Papier zu erkennen, aber ich habe kein Stück gefunden, auf dem etwas zu erkennen gewesen wäre. Vielleicht finden wir an anderer Stelle etwas?«
Sie begannen, nochmals intensiv die Hütte nach jeglicher Form von Papier zu durchsuchen, fanden aber nichts.
Während Zaja die Bettstatt umdrehte und untersuchte, richtete Tyark den umgestürzten Tisch auf und setzte sich auf einen halb angebrannten Schemel. Während er dort mit aufgestützten Ellenbogen saß, Pereo und Mandolf bei ihrem leisen Gespräch beobachtete, fuhr er geistesabwesend mit der Hand über die Bohlen des Tisches. Er spürte das raue Holz, den Schmutz, die verbrannten Stellen. Und dann noch etwas: Kurven, Schnörkel, gerade Linien.
Mit gerunzelter Stirn schaute er sich das Holz des Tisches genauer an. Schließlich raunte er: »Zaja – schau dir das mal an.«
Mit neugierigem Blick trat Zaja an den Tisch und untersuchte mit Tyark zusammen die Schriftzeichen. »Es sind Kaiserliche Schriftzeichen.«, konstatierte sie abwesend. Mit einem seltsamen Gefühl fuhr Tyark mit dem Zeigefinger über die eingeritzten Buchstaben. Einige waren sehr sorgsam in das Holz geschnitzt worden, andere wirkten so, als wären sie hastig und mit viel zu viel Kraft regelrecht ins Holz hineingeschlagen worden.
Tyark spürte eine Benommenheit in sich aufsteigen, als er bemerkte, dass es ein und dasselbe Wort war, das in den Tisch geritzt worden war – immer und immer wieder.
»Liebe«, murmelte Tyark.
Überrascht blickte Zaja ihn an: »Du kannst die Kaiserliche Schrift lesen? Woher ...«
Sie besann sich plötzlich eines Besseren und schien sich ihre Frage für später aufzuheben. Mit einem Stirnrunzeln blickte sie auf die eingeritzten Worte und bestätigte leise: »Liebe. Überall steht es, kreuz und quer in den Tisch geritzt. Was ...«
Ratlos blickte sie auf, auch Pereo und Mandolf waren nun wieder nähergetreten.
Tyark frage Mandolf: »Hatte Rynn eine Gefährtin? Ich weiß, er war ein Bruder des Ordens ... aber wie sollte er sonst darauf kommen, dieses Wort in den Tisch einzuritzen?«
Mandolf antwortete mit einem Schulterzucken: »Nein, Rynn lebte stets nach den Gesetzen des Ordens. Mir ist nichts bekannt von einer, äh, Verbindung mit einer von uns. Mir sind nur Geschichten aus der Zeit vor seinem Eintritt in den Orden bekannt, er erzählte manchmal davon.«
Mandolf kratzte sich unbehaglich am Kopf, da er wohl den durchdringenden Blick Zajas spürte. Dann fügte er hinzu: »Allerdings hatte er sich in den letzten Wochen mehr und mehr in sich selbst zurückgezogen. Ich habe schon lange nicht mehr mit ihm reden können, Gesprächen ging er oft aus dem Weg. Hätte ich geahnt, dass etwas mit ihm nicht stimmte ...«
Später am Abend hatte sich Pereo wieder zu seiner Halbschwester zurückgezogen, die sehr unter dem Verlust ihres Kindes litt. Ihr Mann war erst im letzten Winter bei einem Schneesturz im Gebirge umgekommen, sie war nun vollkommen allein.
Starker Regen hatte eingesetzt, einige Meilen entfernt tobte sich ein schweres Unwetter aus.
Tyark hatte von den Bauern gehört, wie sehr sie an diesem nassen und kalten Sommer litten. Keiner von ihnen konnte sich daran erinnern, jemals ein solches Wetter erlebt zu haben. Auch das Vieh schien sehr unruhig – vielleicht aufgrund des Wolfsrudels, dessen unangenehme Bekanntschaft ja auch Tyark, Pereo und Zaja gemacht hatten.
Als Tyark die große Wölfin erwähnte, schauten ihn einige Bauern erschrocken an, drehten sich schnell weg und vollzogen eine Tyark unbekannte Geste, indem sie mit gespreizten Fingern in Richtung des Erdbodens zeigten.
Zaja hatte sich in ihre Hütte zurückgezogen und Tyark traf sie meditierend an, wie er schon oft Angehörige des Ordens gesehen hatte. Zaja hatte sich mit gekreuzten Beinen vor den Kamin gesetzt, beide Hände auf ihr Herz gelegt, die Augen geschlossen.
Tyark setzte sich leise neben sie und begann müde, seine Habseligkeiten zu ordnen – die wochenlange Reise durch unwegsame Natur hatte ihre Spuren hinterlassen und vieles würde nur noch schwer zu reparieren sein.
Er beobachtete Zaja dabei heimlich. Auf ihrem kahlen Kopf waren deutlich kurze Stoppeln der nachwachsenden Haare zu sehen. Das flackernde Licht des Feuers tanzte auf ihrem weichen und zugleich hart wirkenden Gesicht.
Sie hatte die Kapuze abgelegt, das lange Haar ihres Pferdeschwanzes offensichtlich sorgsam gekämmt. Aufmerksam betrachtete Tyark die Form ihres Kopfes, die sich bereits abzeichnenden Falten und die kleineren Narben, die von früheren Verletzungen zeugten. Sie hatte dadurch einen irgendwie zu ihr nicht passenden, harten Gesichtsausdruck, der durch ihre dünnen Lippen noch verstärkt wurde.
Aber um ihre Augen herum lag eine milde, fast schon eine heimliche Traurigkeit – und auch Schönheit.
Eine Regung ging durch ihr Gesicht, ein schmales Lächeln zuckte um die Mundwinkel. Mit geschlossenen Augen und ohne den Kopf zu drehen, sagte sie sanft: »Du solltest jetzt schlafen, es ist spät.«
Tyark wandte sich hastig ab, er spürte, wie seine Wangen zu glühen schienen.