Читать книгу Weltenfresser - Veikko Päivinen - Страница 5
ОглавлениеLiebe
Als Tyark die Augen öffnete, wusste er zunächst nicht wo er war.
Er drehte sich um und kniff mehrfach die Augen zusammen. Um ihn herum herrschte tiefe Stille, lediglich das leise Knacken des fast abgebrannten Feuers war zu hören. In seinem Kopf drehte es sich leicht.
Mühsam richtete er sich auf und blickte in der Hütte umher, welche vollständig von einem eigenartigen Zwielicht erfüllt war, das keine erkennbare Quelle hatte.
Was er dann sah, ließ seinen Magen zusammenkrampfen, ihm wurde schwindelig. Er sah sich selbst schemenhaft am Boden liegen, eingehüllt in seine abgenutzte graue Decke!
Tyark wich langsam zurück und blickte sich mit aufkommender Panik in der Hütte um. Dann sah er Zaja. Wie sein eigenes Abbild seltsam blass und fast durchscheinend.
Seine Finger krallten sich in die hölzerne Wand der Hütte hinter sich. Ihm war gleichzeitig heiß und kalt. War er tot? War das hier das Totenreich? Oder war er gar zu einem Draugr geworden, einem ruhelosen Totengeist, der von nun an in alle Ewigkeit zwischen den Sterblichen umherwandern würde?
»Zaja? Zaja!«
Tyark rief ihren Namen, der seltsam dumpf aus seinem Mund kam, fast, als spräche er durch ein Stück Stoff. Zaja zeigte keine Reaktion.
Er kniete sich neben sie nieder und versuchte, sie zu berühren. Er griff direkt durch sie durch, spürte aber den lehmigen Hüttenboden an seinen Fingerspitzen. Seine Hand wurde dabei seltsam kalt. Hastig zog er sie wieder zurück und starrte Zaja ungläubig an. Diese zeigte weiter keine Reaktion – dann sah Tyark, wie sich ihr Brustkorb regelmäßig hob und senkte. Sie war also nicht tot!
Er betrachtete seinen eigenen Körper, der neben Zaja lag. Erleichtert sah er, dass auch er selbst ruhig atmete. Was war hier los?
Er wandte sich zum Feuer um und bemerkte verstört, dass die Glut keine Wärme mehr gab, sondern, völlig verkehrt, Kälte. Je näher er an die Feuerstelle kam, desto mehr hatte er das Gefühl, ein winterlicher Hauch würde sich vom Feuer her ausbreiten.
Als er die Glut kurz berührte, hatte er das Gefühl, kältestes Eis zu berühren. Er zog die Finger schnell weg und setzte sich vollkommen perplex auf den Boden.
Seine Gedanken rasten. Also, er war wahrscheinlich kein Draugr, kein Totengeist.
Verwirrt schaute er sich um. Aber was war dann passiert? War dies vielleicht so eine Art Traum?
Er tastete umher und berührte auch seinen eigenen Körper. Er spürte auch an sich selbst eine seltsame, sich schnell ausbreitende Kälte, seine Hand durch den Körper glitt wie durch Luft.
Dann nahm er einen dünnen, silbernen Faden wahr. Dieser kam in Höhe seines Bauchs aus seinem Körper und schien direkt mit ihm verbunden zu sein. Neugierig griff Tyark nach dem Faden. Ein seltsames Gefühl durchzuckte seinen Körper, als er den Faden berührte. Obwohl er kaum Widerstand spürte, zweifelte Tyark nicht daran, dass dieser Faden kaum einfach zu zerreißen wäre. Und instinktiv spüre er, dass ein Zerreißen dieses Fadens wohl kaum Gutes zu bedeuten hätte!
Er richtete sich langsam auf und sah sich in der Hütte um, die nur schemenhaft und undeutlich zu erkennen war. Nun wurde ihm klar, warum ihm das Zwielicht bereits zu Beginn zu seltsam vorgekommen war: Es schien alles verkehrt: Da wo eigentlich Schatten sein sollte, war Licht. Dort wo Licht war, war Schatten!
Da das Feuer praktisch vollkommen heruntergebrannt war, wurden von den hin und wieder herauszüngelnden Flammen nur schwache Schatten in die Hütte geworfen.
Er blickte sich in der Hütte um. Nicht nur das merkwürdige Zwielicht bewirkte, dass alles um ihn herum seltsam unnatürlich aussah, auch die Farben wirkten verblasst und teilweise geradezu durchsichtig.
Vorsichtig versuchte er, die Tür zu öffnen, doch seine Hand glitt durch das Holz hindurch und hinterließ abermals ein seltsames Gefühl in seinen Fingern.
Tyark zögerte kurz und schritt dann entschlossen durch die Tür nach draußen.
Das Dorf um ihn herum schien wie aus Schatten gebaut und doch konnte er das ein oder andere wiedererkennen. Die benachbarten Häuser waren, wenn auch in dieses seltsame Licht getaucht, durchaus wiederzuerkennen.
Auch die angrenzenden Felder waren zu sehen, ebenso die dichten Wälder – allerdings seltsam farblos, in der Ferne stark verblasst, als versänken sie dort in Nebel.
Der Himmel schien sich allem zu widersetzen, was Tyark als normal betrachtet hatte. Wolken rasten über den Himmel, glichen vielmehr einem Fluss aus Schatten, die vor einem in helles Licht getauchten Himmel vorbeiströmten.
Zwei dunkle Scheiben – die eine etwas kleiner als die andere – schwebten dort oben und Tyark brauchte einen Moment, um die beiden Monde Daimon und Tana zu erkennen, denn statt mattem Licht schienen sie Dunkelheit auszustrahlen.
Eine eigenartige Erregung erfasst Tyark plötzlich. Er hatte das Gefühl, dass dieser Ort – dieser Traum, wenn es einer war – nichts war, was normalen Menschen je zu sehen bestimmt war. Etwas Besonderes ging hier vor!
Fasziniert betastete er die dunklen, nur zu erahnenden Hüttenwände, den Erdboden, einzelne Büsche und Pflanzen. Ihm fiel auf, dass auch die Pflanzen eine seltsame Kühle verbreiteten, wenn auch bei Weitem nicht so stark, wie er sie bei Zaja oder seinem eigenen schlafenden Körper verspürt hatte.
Steine und die Hüttenwände fühlten sich wiederum taub an und Tyark hatte Mühe mit Bestimmtheit zu sagen, wann er sie berührte und wann nicht. Dazu kam, dass seine Hand meist einfach hindurchglitt, lediglich bei Pflanzen gelang ihm dies nicht.
Aufgeregt lief er zwischen den Hütten hindurch, zum Zentrum des Dorfes – oder zumindest dahin, wo er es vermutete. Die Ränder des Dorfes zu den angrenzenden Wäldern hin mied er. Sie waren eine einzige, dunkle Ansammlung aus unheimlichen Schatten und unklaren Konturen. Aus irgendeinem Grund war er sich sicher, dass die verblassenden Farben eine Art Grenze markierten, die er nicht überschreiten sollte.
Während er staunend wie ein Kind durch die engen Gassen des Dorfes wanderte, bemerkte er die unscharfen Silhouetten kleiner Tiere, die auf den Bäumen, Dachfürsten und Balken saßen. Erst beim genauen Hinsehen erkannte er, dass es Vögel waren, Krähen wahrscheinlich.
Die Tiere schienen ihn auf eine Weise anzustarren, die Tyark kalte Schauer über den Rücken jagte.
Da bemerkte er an einer Hausecke schemenhaft einen der Dorfbewohner.
Er trat ganz nah an die fast durchsichtige Gestalt heran und erkannte zwar das Gesicht, aber der Name fiel ihm nicht mehr ein. In der Hand hielt er eine grobe Laterne, die unangenehme Dunkelheit verströmte.
Tyark berührte den Arm des Mannes und eine durchdringende Kälte erfasste ihn, schnell zog er seine Hand zurück. Der Mann schien nichts bemerkt zu haben, atmete tief ein und lehnte sich gegen die Hauswand hinter sich.
Plötzlich nahm Tyark wahr, dass aus dem Kopf des Mannes ein etwa fingerdicker, goldener Faden zu kommen schien, der direkt in Richtung des Himmels aufragte, als sei er irgendwo festgebunden. Fasziniert betrachtete er das filigrane und kaum sichtbare Gebilde, welches einige Meter über dem Mann einen Bogen machte unter irgendwo verschwand. Der Faden schien leicht zu vibrieren und wurde stellenweise immer wieder durchsichtig, nur um dann umso intensiver golden zu leuchten.
Tyark streckte seine Hand danach aus, doch unvermittelt stieß sich der Mann von der Mauer hinter sich ab und begann, den Weg herunterzulaufen. Der Faden zitterte leicht, zeigte aber sonst keine Veränderung.
Tyark wollte dem Mann folgen, doch dann stockte er plötzlich. Er vernahm ein seltsames Rauschen, dass er bereits vor seiner Hütte bemerkt hatte, allerdings war es da noch sehr leise und kaum zu bemerken gewesen. Nun schien es deutlich näher gekommen zu sein. Seinen Ursprung konnte Tyark aber nicht ausmachen, obwohl er sich den Hals verrenkte, um in diesem seltsamen Zwielicht etwas zu erkennen. Es wirkte nicht bedrohlich, aber Tyark spürte instinktiv, dass es eine Veränderung ankündigte.
Er schaute sich um und bemerkte noch einen weiteren Dorfbewohner, der mit einer Lampe unterwegs war und offensichtlich in Richtung des Dorfrandes lief. Die beiden Männer gehörten wohl der Nachtwache an, die Mandolf wegen der Wölfe hatte aufstellen lassen.
Tyark blickte dem Mann nach und zuckte unwillkürlich zusammen, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm: Ein Schatten glitt um eine Hausecke und war verschwunden, bevor Tyark etwas Genaues hatte erkennen können.
Unsicher ging Tyark hinterher, eine Mischung aus Angst und Neugier erfüllte sein Herz.
Vorsichtig schaute er um die Hausecke, die linke Hand zur Faust geballt, ein Herz klopfte, es fühlte sich seltsam weit entfernt an. Dann machte sein Herz einen Sprung und für einen kurzen Moment schien die Welt stillzustehen. Er sah eine Frau! Anmutig schritt sie über die angrenzenden Felder in Richtung des sanft leuchtenden Gebirges am Horizont.
Sie war etwa so groß wie Tyark und vollkommen unbekleidet. Ihr makelloser Körper war sehr schlank und wirkte geradezu zerbrechlich – und doch lag Bestimmtheit und Stärke in jedem ihrer sanften Schritte.
Eine seltsame Zeitlosigkeit schien sie zu umgeben. Langes schwarzes Haar reichte ihr über den Rücken bis zu den Knien herunter und obwohl Tyark keinen Wind verspürte, schien sich dieser darin zu verfangen.
Tyark stockte der Atem. Auch wenn die Frau ihm den Rücken zuwendete, so hatte er das Gefühl, dass dies die schönste Frau sein musste, die er jemals gesehen hatte. Nein, er hatte nicht nur das Gefühl, er wusste es mit Bestimmtheit! Sie war absolut vollkommen, jede Bewegung ihres nackten Körpers schien eine Verheißung zu sein.
Plötzliches Verlangen kochte in ihm auf und war so stark, dass sich sein Magen zusammenkrampfte. Er vergaß vollkommen sich darüber zu wundern, woher diese Frau überhaupt gekommen war.
Sie schien keine Eile zu haben – langsam schritt sie in Richtung der schroffen Hänge des Gebirges, allerdings war sie schon deutlich weiter von ihm entfernt, als sie es durch die wenigen Schritte hätte sein dürfen. Tyark hatte plötzlich die vollkommen widersinnige Angst, dass er sie verlieren könnte.
Unwillkürlich streckte er seine Hand aus. Der Wunsch, ihr wunderschönes, samtenes Haar zu berühren und zwischen seine Finger gleiten zu lassen, war überwältigend groß. Die Frau blieb stehen.
Tyark Herz machte einen Sprung – aus Freude, aber auch aus einer unbestimmten Angst, die plötzlich da war und seinen Rücken heraufkroch.
Er machte dennoch einen weiteren Schritt in ihre Richtung. Jetzt spürte er eine wundervolle Wärme, welche von der Frau auszugehen schien.
Die Frau stand immer noch bewegungslos auf dem Feld. Wartete sie auf etwas? Hatte sie ihn etwa bemerkt? Wartete sie auf ihn? Wollte sie, dass er sie berührte?
Ein Teil von Tyark wurde unglaublich stark von der Frau angezogen. Er spürte deutlich die von ihr ausgehende, wunderbare Wärme. Doch es war so viel mehr als nur das: Es waren wunderbare Gefühle, liebliche Bilder – ein ganzer Fluss aus Liebe. Tyarks Herz wollte in diesen Strom hineinspringen, darin tauchen, darin vergehen. Für immer.
Er machte einen dritten Schritt auf die Frau zu – sie war näher, als er gedacht hatte. Tyark wusste plötzlich, dass die Frau lächelte. Er verspürte eine intensive Liebe, wie er sie noch nie vorher gespürt hatte. Er fing an, vor Glück zu weinen.
Es war die reinste, roheste Form von Liebe, die er sich vorstellen konnte. Eine Liebe, die vollkommen bedingungslos war, wild und gnadenlos. Es war die Liebe, wie er sie als Kleinkind in den Augen seiner Mutter gesehen hatte. Es war die Liebe seines Vaters, der voller Stolz seinem Sohn beim Klettern zugesehen hatte. Es war die raue Liebe unsterblicher Götter zu ihren Geschöpfen. Dort in dieser Frau war alle Liebe, die sich ein Mensch im Leben wünschen konnte! Und Tyark sollte sie bekommen, ein Flüstern in seinem Kopf verriet es ihm. Für immer würde er in diesem warmen, goldenen Gefühl schweben, er würde nie wieder etwas anderes haben wollen, nie wieder ...
Die Frau streckte ihren Arm aus, ohne sich zu Tyark umzudrehen. Als warte sie darauf, dass er sie ergriff und mit ihr ging. Diese wunderschöne, zarte Hand, er musste sie ergreifen. Sie würde warm sein, tröstlich ...
Wie sehr hatte er sich seit seiner Flucht und dem grausamen Tode seiner geliebten Frau und seiner Familie wieder danach gesehnt, eine warme Hand in seiner zu spüren!
Er stand nun plötzlich dicht hinter der Frau. Ihre intensive Hitze strahlte ihm entgegen wie von einem unsichtbaren Feuer. Er konnte sich gar nicht daran erinnern, weitere Schritte gegangen zu sein ... oder hatte er es nur nicht bemerkt?
Jetzt bemerkte er den wunderbaren, weiblichen Duft, der von ihr ausging.
Seine Augen streiften ihren perfekten Rücken, ihre marmorne, zarte Haut. Ihr Seufzen flüsterte in seinem Kopf. Sexuelle Erregung waberte durch die Luft wie schwerer Blumenduft, die Frau schien sich darin geradezu zu räkeln.
Tyark streckte seine Hand aus. Es war bereit, für immer mit ihr zu gehen ...
Da bemerkte er in ihrem Duft plötzlich eine störende, fremdartige Nuance. Zunächst nicht viel mehr als eine sanfte Brise, dann schnell stärker werdend. Er konnte nicht sagen, was es war. Ein süßlicher, fremder Blumenduft schlängelte sich in seinen Verstand, verstörend real.
Die Welt um ihn herum schien plötzlich dunkler zu werden, das Rauschen erfüllte alles. Die Frau lächelte nicht mehr. Obwohl Tyark ihr Gesicht nicht sehen konnte, ahnte er plötzlich, dass in diesem Gesicht nun ein anderer Ausdruck zu sehen war. Ein ganz anderer. Und Alter. Unendliches Alter und etwas anderes. Etwas, das seinen Geist vielleicht innerhalb weniger Augenblicke an einen Ort zerren würde, von dem es kein Entrinnen mehr gab ...
Der seltsame Duft wurde stärker, zerrte an ihm, begann, ihn von diesem wunderbaren Ort, diesem unbeschreiblichen Gefühlen hinwegzutreiben.
Ein Teil von ihm wollte dennoch für immer mit dieser Frau vereint sein und war bereit, alles dafür zu geben. Kein Preis erschien zu hoch. Der andere Teil von ihm begann, sich vor ihr zu fürchten. Panik kroch wie Frost an ihm herauf. Er spürte betäubt, wie ihr Geist begann, in ihn einzudringen.
Er spürte forschende, kratzende Krallen an seinem Verstand. Unerbittlich nach einer Schwachstelle suchend. Nach einer Pforte zu seinem Herzen.
Das Rauschen war mittlerweile zum Brüllen geworden, Tyark schrie, ohne dass etwas zu hören war. Die Welt um ihn versank in Dunkelheit – nur die weiße Haut der Frau loderte wie von einem inneren Feuer gespeist. Die Finger ihrer Hand bewegten sich leise, fordernd. Sie waren irgendwie länger geworden und glichen nun mehr Krallen als Fingern.
Tyark schloss die Augen, spürte, wie sie langsam ihren Kopf drehte. Gleich würde sich ihr Blick auf ihn richten. Er ahnte, nein, er wusste, dass dort, in diesem perfekten Gesicht keine Augen sein würden. Dort würde nur eine entsetzliche, den Verstand fressende Dunkelheit sein. Uralt. Wartend, voll loderndem Zorn.
Mit letzter Kraft wehrte er sich, klammerte sich an den seltsamen Duft, der wie ein stetig wachsender Strom von irgendwoher zu kommen schien. Er griff nach diesem Duft wie der Ertrinkende nach einem Stück Holz.
Dann ließ er sich von diesem Ort davontragen. Der Blick der Frau kam näher, wie eine gewaltige Flutwelle. Grell und vernichtend richtete sich diese Welle vor ihm auf. Bereit, über ihn hineinzubrechen und ihn zu verschlingen.
Tyark meinte zu schreien, doch kein Laut war zu hören. Das Rauschen brach ab und auf einmal wurde er brutal zurückgezogen, verließ diese seltsame Welt, bevor der Blick der Frau sich in seinen Geist bohren konnte.
Mit einem Ruck wachte Tyark auf, er fühlte kalten Schweiß auf seiner Stirn, sein Hemd war völlig durchnässt und doch war ihm eiskalt. Sein Atem ging schnell und sein Herz raste.
Die beginnende Morgendämmerung stahl sich durch Ritzen ins Innere der Hütte, draußen zwitscherten friedlich einige wenige Vögel.
Panisch blickte er sich um – Zaja lag unweit von ihm entfernt auf dem Boden, atmete unruhig. Ihre Gestalt war nun fest, nicht mehr durchscheinend. Dennoch griff er nach ihrer Decke und war erleichtert, als seine Hand nicht einfach hindurchglitt.
In seinem Kopf herrschte vollkommenes Durcheinander. Er musste an die Frau denken, an die Versprechungen, die er bei ihr gespürt hatte. Nein, nicht nur Versprechen – Gewissheit. Ein Teil von ihm wollte zu ihr zurück, wollte ihren Duft atmen, sie spüren, sich mit ihr vereinigen, zu einem Teil von ihr werden. Doch gleichzeitig wusste er, dass dies sein Ende sein würde. Ihre Umarmung würde so wundervoll wie tödlich sein.
Er rieb sich seine Schläfen und nahm wieder diesen anderen, schweren Duft aus seinem Traum wahr. Süßlich hing er in der Luft. Verstört sah er sich um. Nach kurzem Suchen sah er im Dunkel des lehmigen Hüttenbodens die kleine weiße Blüte eines unscheinbaren Pflänzchens, welches direkt neben seinem Kopfende aus dem Boden gesprossen war.
Verwirrt starrte er die Pflanze an. Weiße Blütenblätter formten einen glockenförmigen Kelch. Feiner, glitzernder Staub schien darin zu liegen.
Tyark war sich sicher, dass diese gestern Abend noch nicht hier gewesen war. Gedankenverloren zupfte er den dünnen Stiel ab und riss die Pflanze mitsamt einem kleinen Wurzelkern aus dem Boden.
Diese Blüte war es, von welcher der Duft ausging. Auf seltsame Weise sehr angenehm und doch unangenehm zugleich. Es musste diese Pflanze gewesen sein, die er gerochen hatte. An deren Geruch er sich aus seinem Traum, wenn es einer gewesen war, förmlich herausgezogen hatte – gerade noch rechtzeitig, wie es ihm schien.
Erneut kreisten seine Gedanken um die Frau. Er fühlte sich immer noch auf unglaublich starke Weise zu ihr hingezogen. Und doch spürte er gleichzeitig, dass diese Frau etwas anderes war, etwas vollkommen Unmenschliches. Etwas in ihr war so fremdartig, dass sein Geist es kaum begreifen konnte. Gedankenverloren starrte er das Pflänzchen an, das er in seinen Fingern drehte.
Er schreckte auf, als Zaja anfing zu gähnen. Hastig steckte er das Pflänzchen in seine Hemdtasche und blinzelte in die ersten warmen Sonnenstrahlen. Verschlafen blickte Zaja ihn an: »Guten Morgen! Hm ... ich habe seltsame Träume gehabt, ich kann mich nicht mehr richtig erinnern, aber du warst dort und ...«
Sie brach ab, und blinzelte verwirrt. »Vielleicht doch eher ein Alptraum, ich weiß nicht mehr ... gut, dass ich aufgewacht bin.«
Mit Blick auf Tyark fragte sie besorgt: »Alles in Ordnung? Du siehst grauenhaft aus! Entschuldige!«
Beschämt lächelnd blickte sie ihn mit ihren tiefgrünen Augen an. »Es war nicht so gemeint, aber du siehst tatsächlich aus, als ob du auch nicht so gut geschlafen hättest.«
Tyark brauchte eine Weile, dann lächelte er gequält. »Ja, ich habe auch komisches Zeug geträumt. Aber ich erinnere mich nicht mehr daran.«
»Etwas ist anders an dir ... seltsam, du hast einen anderen Ausdruck in den Augen als die Tage zuvor. Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«
Tyark stand schnell auf: »Ich sehe anders aus? Müder wahrscheinlich! Ist ja aber auch kein Wunder, bei dem was passiert ist.«
»Du hast Recht. Es ist eigentlich ein Wunder, dass wir überhaupt schlafen können.«
Sie lächelte gezwungen und stand rasch auf.
Tyark blickte sie an und konnte sich nicht der störenden Gedanken erwehren, dass ihr Gesicht, welches ihm bislang so schön vorgekommen war, nun voller Fehler war.
Er sah ihre Falten, ihre dünnen Lippen, Hautunreinheiten. Ihre misstrauische Stirnfalte. Selbst ohne Narben wäre Zaja nur ein Splitter der Schönheit gewesen, die Tyark heute Nacht in der fremden Frau gesehen hatte! Jede Frau war nur ein müder, verblichener Schatten verglichen mit der atemberaubenden Vollkommenheit, die Tyark heute Nacht gespürt hatte.
In das Gefühl der Enttäuschung mischte sich der nagende Wunsch, noch einmal die Vollkommenheit zu sehen, nur einmal noch. Fast schossen ihm Tränen in die Augen. Er biss die Zähne aufeinander und kämpfte die aufwallenden Gefühle nieder. Das schreckliche Gefühl nagte an ihm, dass er die Gelegenheit verpasst hatte, die vollkommene Liebe zu erfahren – auch wenn ihm sein Verstand sagte, dass diese Gelegenheit ihn wohl das Leben gekostet hätte. Mindestens.
***
»Oh, Orechalkum?«
Erstaunt blickte Mandolf auf das Pflänzchen in seiner Hand. »Und Ihr habt es am Boden eurer Hütte gefunden?«
Tyark war gegen Mittag zu Mandolf gegangen, welcher etwas bleich an der Feuerstelle des Haupthauses saß. Er hatte noch Schmerzen im Arm, aber glücklicherweise war kein Anzeichen für eine Entzündung zu sehen – erstaunlich, da Bisse von Wildtieren selten einfach so abheilten.
Tyark betrachtete Mandolf und konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Mandolf entweder bereits krank war oder dabei war, eine ernsthafte Erkrankung auszubilden. Er war sehr bleich im Gesicht und machte auch sonst einen eher schwächlichen Eindruck.
Unsicher antwortete Tyark: »Ja, über Nacht! Ist das nicht sonderbar?«
Mandolf grinste: »Ja und nein. Also, es ist bereits oft überliefert worden, dass Orechalkum über Nacht aus dem Boden sprießt – man nennt es, glaube ich, auch Schicksalsbote.«
Er grinste.
»Klingt geheimnisvoll, oder? Im Alten Glauben natürlich nur. Der Orden misst dieser Pflanze meines Wissens keine besondere Bedeutung bei.«
Mit der Hand am Kinn fuhr er nachdenklich fort: »Orechalkum ist eine kuriose Pflanze. Die Samen können jahre–, vielleicht sogar jahrzehntelang in der Erde liegen. Und dann, aus welchen Gründen auch immer, entsteht eine Pflanze. Immer über Nacht, übrigens. Ich selbst habe hier noch keine gefunden, angeblich findet man im Hochgebirge manchmal welche. Oft wohl bei den alten Festungen der Nihilim oder anderen, hm, besonderen Orten.«
»Was könnte denn an der Hütte so besonderes sein, in der Zaja und ich heute Nacht geschlafen haben?«
Mandolf lachte herzlich und schüttelte den Kopf. »Nichts. Zumindest nicht, dass ich wüsste.«
Er zwinkerte Tyark zu.
»Wie auch immer. Ich glaube nicht an die Geschichten der Alten. Es werden einfach nur seltene Pflanzen sein.«
Nachdenklich schwieg er eine Weile, während er das Pflänzchen in seiner Hand betrachtete. »Aber vielleicht kann Euch die alte Marda mehr sagen! Falls sie zuhause ist. Und falls sie heute bei klarem Verstand ist.«
Tyark erfuhr, dass Marda die älteste Frau im Dorf war und schon alt gewesen war, als Mandolf noch ein Kind war.
»Seit der schrecklichen Nacht, in der die Kinder verschwanden, ist auch Mara nicht mehr die alte. Etwas verrückt war sie ja schon immer. Sie war schließlich schon alt, als mein Vater noch ein junger Mann war ...«
Schulterzuckend ließ er den Satz unvollendet und reichte Tyark das Pflänzchen zurück, das Tyark sofort sorgsam in ein Tuch wickelte und einsteckte.
Beide zuckten zusammen, als laut an die Tür geschlagen wurde und einer der Bauern laut nach Mandolf rief, Tyark bemerkte Panik in der Stimme. Mandolf öffnete die Tür und trat nach draußen: »Harian, was gibt es?«
Der angesprochene stotterte einen kurzen Gruß und sagte dann: »Die Wölfe! Sie haben wieder zwei Rinder gerissen!«
Mandolf fluchte und eilte mit Tyark zusammen zur nahegelegenen Weide. Tyark verspürte ein mulmiges Gefühl, als er bemerkte, dass sie genau zu der Weide liefen, auf der er die Frau getroffen hatte. Krähen flogen auf, als sie sich der Weide näherten. Tyark bemerkte sofort den Geruch nach Blut, der überall in der Luft lag.
Dann kamen sie an den Ort des Angriffs. Die beiden Kühe waren übel zugerichtet. Zahlreiche Bisswunden zeugten von einem wahren Gemetzel. Ihre Kehlen waren nur noch blutige Löcher im Hals. Tyark wusste, dass der Verlust dieser zwei Kühe fatal für ihren Besitzer sein würden – nicht nur standen die Steuerzahlungen an den Fürsten noch bevor, schließlich schien auch der Winter bereits an die Tür zu klopfen!
Mandolf schüttelte ratlos den Kopf: »Wie haben wir den Zorn der Riesen heraufbeschwört? Wölfe greifen doch keine gesunden Tiere an, höchstens in strengen Wintern! Nicht einmal verirrte Wanderer wurden hier in den letzten Jahren angegriffen. Und nun, in wenigen Wochen – unsere Kinder verschwinden, die Tiere der Berge scheinen vollkommen übergeschnappt ...«
Er schaute Tyark fast flehend an. »Es muss etwas geschehen, der Fürst muss seine Männer herschicken! Etwas stimmt nicht!«
Gedankenverloren betrachtete Tyark das Schlachtfeld, welches noch gestern eine saftige Weide gewesen war. Er erwischte sich selbst dabei, dass er auf der sumpfigen Wiese nach Fußspuren suchte – Fußspuren nackter Füße, welche im Zwielicht an dieser Stelle gestanden hatten. Doch natürlich sah er keine.
Sein Blick fiel auf drei Krähen, welche am Rande der Weide auf dem groben Holzzaun saßen. Sie hockten dort und flogen auch nicht weg, als vereinzelte Bauern in ihre Nähe kamen. Ihre dunklen Augen schienen direkt in Tyarks Seele blicken zu wollen. Kopfschüttelnd wandte er sich ab.
Am Abend saßen Pereo, Tyark und Zaja zusammen mit Mandolf am Tisch. Zaja rieb ihr schmerzendes Bein, nachdem Mandolf es mit einer Kräuterpaste behandelt hatte. Ihre Stimmung war getrübt, da Mandolfs Vater einige Stunden zuvor erneut in Raserei verfallen war und Zaja wiederholt bezichtigt hatte, am Tod der Rinder schuldig zu sein. Auch der ernste Vorwurf der Hexerei war gefallen und nicht wenige Dorfbewohner hatten zumindest zustimmend gemurmelt.
Tyark blickte Zaja fragend an: »Meinst du, er hat recht? Ist hier Hexerei am Werk?«
Zaja schien kurz zusammenzuzucken. Dann antwortete sie zögerlich: »Nun, ich weiß es nicht. In der Tat scheinen hier Dinge am Werk zu sein, die vielleicht sogar dämonischen Ursprungs sind. Der Schluss läge nahe, dass dunkle Zauberei im Spiel ist ...«
Unschlüssig blieb ihr Blick am verzierten Sims des steinernen Kamins hängen. Pereo runzelte die Stirn. »Ich verstehe nichts von Zauberei. Ich habe zwar schon mit einigen Zauberern in der Schlacht gekämpft. Warum hängt das eine mit dem anderen zusammen?«
Zajas Blick verdunkelte sich und mit strenger Stimme erklärte sie: »Zauberei ist etwas, das die Großen Alten in Ihrer Göttlichkeit nicht den Menschen überlassen wollten. Doch die Menschen haben den Funken der Magie gestohlen, daher wurden sie von Ihnen verlassen.
Aber deshalb gibt es überhaupt den Orden, viele vergessen das! Die Aufgabe des Ordens ist, das Magische in der Welt in geordnete Bahnen zu lenken. Magie ist viel zu gefährlich, als dass sie frei gewirkt werden dürfte! Die Vergangenheit hat das deutlich gezeigt.«
Sie war von ihrem Stuhl aufgestanden und schritt langsam im Raum umher. »Wenn festgestellt wird, dass ein Kind magisch begabt ist, geben es seine Eltern in die Obhut des Ordens, welcher es wiederum in einem der Magierzirkel unterbringen wird, die es in Teanna gibt. Und dort unterläuft es einer umfangreichen Ausbildung, die nicht nur aus Schulbildung besteht. Gerade die Kräfte des Geistes sollen geschult werden, damit die Seele stark wird.«
Tyark fragte dazwischen: »Der Orden nimmt den Eltern die Kinder weg? Was ist, wenn diese damit nicht einverstanden sind?«
Zaja schaute ihn erstaunt an: »Warum sollten sie nicht einverstanden sein? Den Kindern wird es an nichts mangeln, im Gegenteil: Sie lernen lesen, schreiben und ihre Kräfte zu kontrollieren. Sie lernen vor allem, ihre Hybris zu zügeln, der jeder Magier unterliegen kann! Es wäre doch viel zu gefährlich, diese Kinder unter uns normalen Menschen weilen zu lassen! Das Elend vergangener Epochen ist doch der Beweis dafür. Es ist nur der Gnade der Großen Alten zu verdanken, dass überhaupt noch Menschen in Teanna leben!«
Mit Blick auf Tyark fuhr Zaja fort: »Ich kann euch natürlich nicht erklären, wie man zaubert, da ich selbst keine Zauberin bin, den Alten sei Dank! Aber was ich weiß ist: Jede magische Handlung birgt die Gefahr eines Risses im Limbus, jener Membran, welche unsere Sphäre von den anderen, den Sphären der Dämonen, trennt. Gerade, wenn ein Magier unkonzentriert oder erschöpft ist, kann es passieren, dass der Limbus eingerissen wird.
Aber auch durch besonders grausame oder furchtbare Taten, die ja auch von Schwarzmagiern für diesen einen Zweck vollbracht werden. Und mit diesem Riss besteht die Gefahr, dass dämonische Finsternis in unsere Welt einsickert, etwa in Gestalt eines rachsüchtigen Geistes oder sogar eines Dämons. Und es kommt oft genug vor, dass dieser Dämon dann von dem Magier selbst Besitz ergreift. Der Dämon verfügt dann nicht nur über seine dämonischen Kräfte, sondern auch noch über die des Magiers.«
Pereo stimmte ihr brummend zu: »Ja, ich erinnere mich. Die Schlacht an der Kristallküste. Galt Sie nicht einem, hm, verdorbenen Zauberer? Oder dergleichen?«
Zaja lächelte grimmig: »Ja, eine der größten Verluste an Blut der letzten dreihundert Jahre. Der große König Leon der III. kämpfte gegen den Häretiker Thorxes, der – wie man sich heute erzählt – aus den Weiten Steppen im Norden gekommen war und selbst zuvor ein mächtiger König gewesen sein muss.
Sein Geist soll nicht nur das Gefäß eines einzelnen Dämons gewesen sein, sondern sogar mehrerer! Unvorstellbares Grauen soll er zu verantworten haben. Es konnte nur unter Einsatz Hunderter Männer des Königs abgewendet werden, dass Thorxes in der Girdal–Ödnis im Nordosten ein Portal öffnen konnte!«
Sie seufzte. »Magie ist ein sehr schwer zu führendes, zweischneidiges Schwert. Einerseits kann sie Leben retten und zweifellos auch viel Gutes bewirken – andererseits verdirbt und vernichtet sie das Leben zahlloser Menschen. Der Orden kämpft seit seiner Gründung dafür, den durch Magie angerichteten Schaden rückgängig zu machen oder zumindest ein weiteres Verschlimmern zu verhindern.«
Leise fügte sie hinzu: »Ich persönlich misstraue Magie zutiefst. Für mich überwiegt das Übel, das durch sie angerichtet wird. Und jeder Magier in den Zirkeln lernt dies, jeden Tag.«
Pereo stand vom Tisch auf. Er war so groß, dass sein Kopf fast an die groben Deckenbalken stieß. Mit dunkler Stimme sagte er: »Ob Magie oder nicht – ich muss etwas tun. Ich kann hier nicht rumsitzen. Etwas stimmt hier nicht. Es bricht mir das Herz, meine Leute so zu sehen. Das Herz meiner Halbschwester und der anderen Eltern ist gebrochen ... ich werde daher nach den Kindern suchen gehen. Es ist meine Pflicht. Und vielleicht besteht noch Hoffnung.«
Mandolf nickte schweigend und sagte dann: »Ich verstehe dich Pereo und es ehrt dich, dass du uns so helfen willst. Aber vielleicht wäre es ratsamer, den Fürsten in Lindburg um Hilfe zu bitten? Wir sind doch seine Untertanen! Hat er nicht die Pflicht, sich um uns zu kümmern?«
Zaja atmete tief ein und sagte leise: »Es tut mir leid – aber diese Hilfe wird so schnell nicht kommen.«
Fragend blickten die anderen sie an und etwas unsicher fuhr sie fort: »Der Fürst D‘Armais zu Lindburg und die Markgräfin zu Grimfeld stehen seit Wochen in Konflikt miteinander. Und es wird immer schlimmer.«
Ihre Stimme wurde dunkler: »Als ich ging, hieß es, dass es vielleicht sogar Krieg geben könnte. Beide Häuser werfen sich versuchte Meuchelmorde vor. Die Lage ist ziemlich unübersichtlich.«
Fast flüsternd ergänzte sie: »Ich glaube daher nicht, dass der Fürst sich für diese Art von Problemen interessieren wird ...«
Schnell fügte sie hinzu: »Zumindest nicht jetzt.«
Später kam kräftiger Wind auf, der den tiefen Wald um sie herum zum Rauschen brachte. Zaja und Tyark hatten sich in ihre Hütte zurückgezogen und bereiteten sich darauf vor, bald schlafen zu gehen.
Tyark hatte die letzte Nacht noch in lebhafter Erinnerung und versuchte, das Einschlafen noch vor sich her zu schieben, auch wenn ein Teil von ihm Sehnsucht danach hatte, sie wiederzusehen.
Hastig wandte er sich Zaja zu, welche soeben ihr Gebet beendet hatte.
»Zaja – bitte entschuldige, wenn ich dich das frage ...«
Zaja blickte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an und lächelte dabei nachsichtig. Tyark fuhr fort: »Mir, äh, nun, mir ist dein rechtes Ohr nicht entgangen, auch wenn du dir reichlich Mühe machst, es zu verstecken. War es ein, äh, Unfall?«
Zajas grüne Augen schauten ihn durchdringend an und schienen kurz zu flackern.
»Was denkst denn du, warum mir die Hälfte des Ohres fehlt?«
Tyark spürte, wie er rot wurde. Hastig sagte er: »Tut mir leid, ich bin zu weit gegangen. Ich hätte dich das nicht fragen dürfen.«
Ihre Augen wurden milder, Trauer huschte wie ein Schatten über ihr Gesicht. »Nein – schon gut. Du willst natürlich wissen, mit wem du hier lebst. Und ob du mir trauen kannst.«
Tyark war unangenehm berührt, dass sie seine Gedanken offensichtlich besser kannte als er selbst. Er wehrte hastig ab: »Nein, Zaja, ich ...«
Sie unterbrach ihn jäh: »Doch, das willst du.«
Mit milderer Stimme fuhr sie fort: »Und ich kann es dir nicht verübeln. Nicht in Zeiten wie diesen!
Nun, wie du dir schon gedacht hast, war es natürlich kein Unfall. Mir wurde das Ohr abgeschnitten. Um mir damit ein Stigma zu verpassen. Das Stigma eines Diebes. Denn nichts anderes war ich vor einigen Jahren.«
Überrascht blickte Tyark Zaja an, die sich mittlerweile dem Feuer zugewandt hatte und gedankenverloren mit einem Stock in den Flammen herumstocherte. »Ich bin noch nicht allzu lange Schwester des Ordens, musst du wissen. Ich bin jetzt 24 Jahre alt und erst seit meinem zwanzig. Lebensjahr im Orden.«
Sie fasste seine Hand und Tyark spürte, wie sein Herz schneller schlug.
»Bitte teile den anderen nicht mit, was ich dir jetzt erzähle. Ich will es selbst erzählen, wenn ich denke, dass die Zeit dafür reif ist.«
Tyark nickte stumm.
Zaja fuhr fort: »Meine Eltern und meine ältere Schwester wurden getötet, da war ich vielleicht vier oder fünf Jahre alt. Ich komme aus der Alten Kaiserstadt, der Hauptstadt des Westreichs.
Kaiser Thrakan war seit Jahren im Feldzug gegen König Dragornis aus dem Süden verwickelt. Sein Stellvertreter, der Truxis, sollte den Stadtfrieden bewahren, nutzte die Abwesenheit des Kaisers aber aus, seine eigene Macht auszuweiten.
Er denunzierte seine Gegner und ließ sie dann mitsamt ihren Familien verhaften ... Meine Eltern waren leider auch dabei, da sie in engem Kontakt zu einem Fürsten gestanden hatte, der angeblich gegen den Truxis und sogar den Orden intrigiert haben soll. Aber eigentlich weiß ich bis heute nicht, was genau ihnen vorgeworfen wurde. Eines Nachts drang jedenfalls die Stadtwache in unser Haus ein – mein Vater wurde noch im Bett erstochen. Ich konnte entkommen, aber die Schreie meiner Mutter und meiner Schwester konnte ich noch lange hören.«
Sie brach ab und blickte gedankenverloren ins Feuer.
Wind blies durch die lückenhaften Bretter in die Hütte und ließ das Feuer leise knistern. Stockend erzählte Zaja weiter: »Meine Mutter hat sich wenige Wochen später selbst getötet. Sie hat sich angeblich im Kerker des Fürsten erhängt. Was aus meiner Schwester geworden ist, habe ich nie erfahren. Ich glaube aber, dass auch sie tot ist.«
Tyark schwieg betroffen. Er ahnte, was Zaja durchgemacht haben musste. Er kannte viele dieser Geschichten – und im Grund ähnelten sie sich alle.
Zaja sagte: »Der Orden verurteilt die Selbsttötung, wie du weißt. Sie wurde in ungeweihter Erde verscharrt. Ich weiß nicht, wo.«
Sie verfiel in längeres Schweigen und fuhr dann leise fort: »Ich wurde von einem Kaufmann nach Lindburg mitgenommen – doch offensichtlich war ich ihm eine Last, denn er ließ mich eines Morgens einfach zurück. Ich wäre verhungert, wenn mich nicht Paolo, ein Mitglied der Fenix, gefunden hätte.
Ich weiß nicht, warum er mich mitnahm, aber es war meine Rettung. Ich habe nicht lange gebraucht herauszufinden, dass die Fenixe im Grunde nichts anderes als eine Diebesbande waren.«
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie fügte hinzu: »Eine Bande, die eigentlich nur aus hungernden Kindern und Jugendlichen bestand. Aber wir hatten mehr Ehre, als so mancher Fürst oder Magier! Wir halfen einander und kümmerten uns. Ein Fenix lässt den anderen nie allein!, verstehst du?«
Sie blickte Tyark an, ihr Blick schien aber durch ihn hindurch zu gehen. Tyark nickte stumm.
»Mit elf Jahren hatte ich schließlich meine Aufnahmeprüfung, ich habe sie so gut bestanden, wie kaum einer nach mir oder vor mir! Aber je älter ich wurde, desto mehr habe ich begriffen, dass gerade die älteren Fenixe sich nicht nur auf das Stehlen beschränken. Wir haben ... ich habe Dinge getan, für die es keine Entschuldigung gibt und für die ich mich nach meinem Tode werde verantworten müssen.«
Sie war aufgestanden und stand mit verschränkten Armen in einer Ecke des Zimmers. »Ich wurde einmal beim Stehlen von Fleisch erwischt – mein Ohr zeugt noch heute davon. Ich wurde verurteilt und musste monatelang in den Kerkern des Fürsten dahinvegetieren. Ich habe in dieser Zeit sogar oft daran gedacht, mir auch das Leben zu nehmen, weißt du. Ich ertrage einfach das Gefühl nicht, eingesperrt zu sein. Aber noch schlimmer ist für mich das Gefühl der Hilflosigkeit – und im Kerker fand ich beides zugleich.«
Ihr Blick huschte unruhig durch den kleinen Raum. »Ich war an Körper und Seele halbtot, als ich endlich auf die Straße geworfen wurde und wäre wahrscheinlich noch in dieser Nacht erfroren, wenn ich nicht auf Bruder Goswin getroffen hätte. Ich war erst voller Zorn und Hass auf ihn, denn er war nicht nur ein Mann, sondern auch noch ein Bruder des Ordens! Aber ich war zu schwach. Er pflegte mich viele Wochen und langsam wurde ich gesund. Er hat viel mit mir geredet und sich nicht nur um die körperlichen Wunden bemüht, die schon recht bald abgeheilt waren.«
Ihr Blick wurde wieder fester. »Heute ist er wie ein Vater für mich. Langsam verstand ich den tieferen Sinn hinter dem Glauben des Ordens und ich merkte, wie viel Kraft dieser Glauben geben kann! Ich fühlte mich plötzlich nicht mehr so allein, verstehst du?
Nachdem ich ein Jahr bei Goswin gelebt hatte, hat er sich dafür eingesetzt, dass ich als seine Schülerin aufgenommen wurde, trotz meiner Vergangenheit.
Das war vor fast sieben Jahren. Der Orden war schließlich überzeugt davon, dass die Essenz im Gefäß der Seele im Grund gut war und darauf kommt es dem Orden an. Meine weltliche Schuld wurde mir vergeben, und ich durfte ein neues Leben beginnen. Ich bin frei. Soweit das möglich ist.«
Sie unterhielten sich noch eine Weile über Zajas bewegtes Leben und auch Tyark berichtete einiges aus seiner Vergangenheit. Er erzählte ihr von der Zerstörung seiner Heimatstadt im Süden und seiner anschließenden langen Flucht, die fast ein Jahr gedauert hatte und nun bald beendet sein würde.
Zaja fragte ihn danach, was er während dieser Zeit erlebt habe und Tyark berichtete ihr von den zahlreichen schlimmen, aber auch den schönen Erlebnissen, die er während dieses Jahres erlebt hatte.
Oft genug hatte er dem Tod in die Augen geblickt, doch bislang war er noch jedes Mal mit dem Leben davongekommen.
Es war schon spät, als er seine Erzählung beendete. Zaja lächelte ihn traurig an und dankte ihm. Dann sagte sie: »Du hast mir über die Zerstörung deiner Heimatstadt berichtet und mir auch erzählt, dass deine Eltern dabei umgekommen sind. Aber es waren nicht nur sie, oder? Dort ist noch jemand gestorben, nicht wahr? Jemand, der dir sehr viel bedeutet hat.«
Tyark schluckte und versuchte die Erinnerungen niederzuringen, die in ihm aufzusteigen versuchten.
Es war ein heißer Tag gewesen damals, doch Krieg hatte bereits seit Wochen in der Luft gelegen. Immer öfter gab es Berichte von einzelnen Angriffen der Horde auf umliegende Dörfer, doch noch nie war eine Stadt angegriffen worden. Doch an diesem schönen Spätsommertag war es soweit gewesen. Wie aus dem Nichts war die Horde erschienen und hatte die unvorbereitete Stadt förmlich überrannt.
Natürlich hatten sie sich gewehrt, doch es waren auch Schwarzmagier dabei gewesen, wie Tyark später gehört hatte. Und Kreaturen, die direkt aus den Neunundneunzig Höllen zu stammen schienen!
Er hatte Mayra erst vor wenigen Wochen geheiratet und ein kleines Haus in der Nähe des Marktplatzes bezogen. Obwohl sie sich bereits seit Kindertagen kannten, war ihre Liebe zueinander erst ein oder zwei Jahren vor diesem schicksalshaften Tag erwacht.
Tyark hatte den Angriff der Horde durch Zufall gleich zu Beginn erlebt und war sofort nach Hause gerannt, wo Mayra bereits die notwendigsten Habseligkeiten hektisch zusammengerafft hatte. Doch die Krieger der Horde waren schnell gewesen. Zu schnell. Tyark und Mayra war nur übrig geblieben, sich hilflos in ihrem Haus zu verbarrikadieren und abzuwarten, ob vielleicht Hilfe käme. Doch es war keine gekommen – stattdessen kam das Feuer. Als sie die Flammen an ihrem Haus bemerkt hatte, waren sie gezwungen gewesen, die Tür zu öffnen – und damit dem Tod Eintritt zu gewähren.
Tyark räusperte sich und blickte dann wieder in die tiefen grünen Augen Zajas, die vollkommen ruhig auf seinem Gesicht lagen. Leise sagte er: »Ja. Meine Frau ist damals gestorben. Sie starb unter den brennenden Trümmern unseres Hauses. Sie war damals 16 Jahre alt, fünf Jahre jünger als ich.«
Tyark musste seinen Blick von Zaja abwenden. Was sollte er ihr auch erzählen? Wie es wirklich gewesen war? Nur mühsam konnte er die Bilder dieses schicksalhaften Tages im Zaum halten. Er wollte sich nicht daran erinnern, wie die fünf oder sechs Krieger der Horde ohne ein Wort zu sagen oder zu brüllen hineingestürmt waren. Wie ihr erster Axthieb seine Frau in die Stirn getroffen hatte. Wie die weiteren, furchtbaren Hiebe ihren zarten Körper fast in Stücke geschlagen hatten. Und wie sie trotzdem noch gelebt hatte? Wie ihr Arm im Sterben hilflos nach dem seinen gegriffen hatte? Wie sie versucht hatte, zu ihm zu kriechen? Wie machtlos und starr vor Angst er gewesen war?
Nein, er hatte nur zurückweichen können wie ein verängstigtes, feiges Tier! Er hatte Mayra nicht geholfen und nur das einstürzende Dach hatte ihm selbst damals das Leben gerettet.
Tyark schluckte. Dann schüttelte er den Kopf und sagte mit kratziger Stimme: »Es war schlimm für mich. Aber wenigstens ist sie ... schnell gestorben. Anderen ist diese Gnade nicht widerfahren, wie ich hörte.«
Zaja legte ihre Hand auf seine Schulter und sagte sanft: »Es tut mir leid, was du erleben musstest! Wenn du nochmals darüber reden möchtest – ich werde da sein. Ich danke dir für dein Vertrauen, Tyark.«
Tyark spürte, wie ihm Tränen hinter den Augen brannten und er lächelte kläglich.
***
Als Tyark seine Augen aufschlug, umgab ihn Stille. Er erkannte das unheimliche Zwielicht sofort wieder.
Mit einem mulmigen Gefühl stand er auf und betrachtete die Silhouetten der am Boden liegenden Körper. Wieder drohte er von Furcht übermannt zu werden. Würde er diese Frau wiedersehen? Und würde er ihr erneut widerstehen können?
Tyark fürchtete sich vor der Frau und hatte eine grausame Angst davor, von ihr angeblickt zu werden. Und dann von ihrem Blick verschlungen zu werden.
Aber gleichzeitig hatte er Angst davor, dass wieder ein Teil von ihm sich unwiderstehlich zu ihr hingezogen fühlen würde ...
Noch während er daran dachte, spürte er aufflammende Sehnsucht in ihm. Er spürte, welch unermessliche Liebe sie ihm geben konnte – wenn er sich ihr nur hingab, es zuließ!
Tyark ballte die Fäuste und mit einem mulmigen Gefühl schritt er durch die Tür hindurch, noch während Angst und Sehnsucht um Oberhand rangen.
Der Himmel sah aus wie bei seinem letzten Besuch, erneut jagten dunkle Wolken mit einer unerhörten Geschwindigkeit über den Himmel Richtung Gebirge.
Er ging diesmal auf einem anderen Wege durch das Dorf, wieder begegnete er unterwegs den blassen und fast durchscheinenden schemenhaften Gestalten der Dorfbewohner. Auf seinem Wege kam er diesmal an der verlassenen Hütte Rynns vorbei, in der das Zwielicht seltsam erhellt schien.
Neugierig blickte er durch die zerschlagene Eingangstür in den Wohnraum. Das Leuchten schien von dem Tisch zu kommen, auf der er mit Zaja die verstörende Schrift gefunden hatte. Als er näher trat sah er erstaunt, dass die Worte hell leuchteten. Ihr Licht flackerte leicht, als würde in den Buchstaben ein inneres Feuer brennen.
Fasziniert streckte Tyark die Hand aus und ließ seine Finger die Worte abtasten. Er spürte das Holz kaum, die Buchstaben selbst aber waren wie heißes Metall. Schnell zog er seine Hand zurück – es war nicht nur die Hitze, die fast unerträglich war. Kurz war es, als ob die Buchstaben mit ihm sprachen – ein Flüstern hatte sich in Tyarks Kopf ausgebreitet. Es war eine unheimliche, fremdartige Sprache, die von etwas zu berichten schien, das Tyark nicht verstehen konnte – oder wollte.
Verstört trat Tyark wieder nach draußen und rieb sich seine schmerzende Hand. Was hatte das zu bedeuten? Was war mit Rynn geschehen?
Er zuckte plötzlich zusammen, denn er spürte sie. Mit jeder Faser seines Körpers. Mit zugekniffenen Augen lehnte er gegen die Hütte hinter sich und versuchte sein rasendes Herz zu beruhigen.
Sie war hier, ohne Frage. In seiner Nähe – doch irgendwie wusste er, dass sie ihn nicht wahrgenommen hatte. Noch nicht. Ihre Präsenz in seinem Kopf war nun so stark, dass er ohne Mühe sagen konnte, wo sie sich befand: Sie bewegte sich auf ein zentrales Haus im Dorf zu – Mandolfs Haus.
Tyark blickte sich vorsichtig um, doch außer den wehenden Schatten des Zwielichts war nichts zu erkennen. Dann ging er vorsichtig zum Dorfzentrum. Die Tür zum Haus Mandolfs stand offen, sanftes Zwielicht schimmerte im Inneren des Hauses. Unschlüssig stand Tyark einen Moment an der Ecke. Sollte er es wirklich wagen?
Schließlich gab er sich einen Ruck – er musste einfach wissen, was die geheimnisvolle Frau vorhatte!
Vorsichtig blickte er in das große Zimmer und erkannte rasch den schemenhaften Eichentisch und die Stühle, auf denen sie noch vor einigen Stunden gesessen hatten. Leise ging er durch die Stube, sah den Eingang zur Küche und zu Mandolfs persönlichem Zimmer. Die Tür war geschlossen. Wo war die Frau also hin?
Tyark konnte sie zwar nicht sehen, doch er spürte sie deutlich in seiner Nähe, ihm war gleichzeitig heiß und kalt. Vorsichtig blickte er in das hölzerne Treppenhaus, welches nach oben führte. Ja, von dort spürte er ihre Präsenz deutlicher – aber was wollte sie dort? Wer lebte dort?
Langsam ging er die schmale Treppe nach oben, dort war tatsächlich eine Zimmertür geöffnet. Er spürte ihre Nähe nun deutlicher, seine Arme und Hände kribbelten. Voller Grauen und Sehnsucht stand er vor dem Zimmer, sein Herz raste. Es brauchte einen Moment, bis er sich endlich dazu durchringen konnte, hineinzuspähen. Dann sah er sie.
Im Zimmer waren zwei Betten, das eine leer, in dem anderen konnte er die Gestalt von Mandolfs Vater erkennen, der etwas heller als das ihn umgebende Zwielicht schien.
Die Frau kniete am Kopfende, ihre Hand ruhte zärtlich auf der Brust des alten Mannes. Ihr makelloses Gesicht war nah an seinem Ohr. Erleichtert stelle Tyark fest, dass sie ihre Augen geschlossen hielt.
Dann nahm er irritiert wahr, dass sie ihre Lippen bewegte – sprach sie etwa mit dem Alten? Tyark konnte nichts hören, lediglich das bekannte, ferne Rauschen lag wieder wie das Donnern einer Meeresbrandung im Hintergrund.
Seine Blicke huschten begierig auf ihrem wunderbaren Körper, folgte ihren langen Haaren, die sich diesmal sogar über den Fußboden ergossen wie Seide. Erneut bewegten sie sich sanft, als spiele ein zarter Windhauch mit ihnen ...
Tyarks Geist spürte die intensive Liebe, die wie ein Strom von ihr auszugehen schien und drohte, ihn mitzureißen. Tyark wurde seltsam ruhig, seine Angst verschwand. Ihre Liebe war unendlich, gütig, universell – sein Geist fand keine Wörter, die Empfingen und Bilder zu beschreiben, die sie in ihm auslöste.
Bald schon erschien es ihm richtig, nein, es erschien ihm einzig richtig, zu ihr zu gehen. Das Verlangen, sie zu berühren wurde so stark, dass er sich nicht mehr zurückhalten konnte. Die letzte Angst wandelte sich zu Begierde und er streckte seine Hand aus. Die Frau hob ihren Kopf, blickte aber nicht auf.
Der fast völlig erstarrte Verstand Tyarks meinte, so etwas wie einen Hauch von Überraschung und Unsicherheit zu spüren, die sich wie Farben in den Strom aus Liebe mischten. Dann öffnete sie langsam die Augen. Dunkelheit flutete heraus wie ein reißender Strom. Sein Körper drohte, ihm nicht mehr zu gehorchen.
Aber es war nicht nur die Dunkelheit, welche sich aus ihren Augen ergoss. Mit ihr zusammen wurde das Empfinden von Gefühlen zu einem kreischenden Chaos, das Tyark den Verstand zu rauben drohte. Es waren Gefühle in einer rohen, ursprünglichen Form, wie Tyark sie nicht begreifen konnte.
Ihre Augen öffneten sich stetig, Tyark sah, wie sie langsam ihren Kopf in seine Richtung zu drehen begann. Er spürte eine unersättliche, grausame Neugier. Und etwas anderes – etwas unglaublich Altes.
Dann begann die Frau, in seinen Verstand einzudringen. Schlangen gleich schlich sie sich durch Ritzen und Löcher der Wände, die er um sein Selbst aufzurichten versuchte.
Er spürte das intensive und lockende Gefühl von Liebe. Allerdings als ein einziges, wimmelndes Chaos: Die Liebe seiner Mutter, die Anerkennung seines Vaters, die innige Liebe zu Mayra ... Gleichzeitig erlahmte sein Verstand, tödliche Kälte breitete sich aus, betäubte ihn und begann, ihn wie Schnee sanft zuzudecken. Wohlig und todbringend zugleich.
Er versuchte zu schreien, doch kein Laut kam über seine Lippen.
Wie durch einen Nebel sah er, dass sich seine Hand wie von selbst zur ihr bewegte – nur noch wenige Augenblicke, dann würde er sie berühren.
Tyark schloss schicksalsergeben die Augen. Doch kurz bevor er damit rechnet von ihr verschlungen zu werden, breitete sich ein dumpfer Schmerz über seine linke Wange aus.
Wie in Trance öffnete er seine Augen. Dann weiterer, ferner Schmerz, diesmal auf der rechten Wange.
Tyark taumelte zurück. Fort von dieser Kreatur, die sich in einer menschlichen Gestalt versteckt hielt.
Der Gedanke an Zaja zuckte durch seinen vernebelten Verstand. Er spürte sie – als sei sie hier irgendwo in der Nähe!
Tyark zwang sich, seinen Kopf ein wenig zu drehen. Sein Verstand wurde etwas klarer.
Verzweifelt rief er Zajas Namen, denn er wusste, dass der Blick der Frau nun fast vollständig auf ihm ruhte. Eine nie gekannte Panik erfüllte sein Herz. Dann spürte er erneut den Schmerz auf der Wange diesmal weniger dumpf, ja geradezu erfrischend heftig.
Die ohnehin blassen Farben des Zwielichts um ihn verblassten, es wurde dunkler. Die Hand der Frau war plötzlich vor seinem Gesicht, obwohl er nicht gesehen hatte, dass sie sich bewegte hätte. Es war, als ob sie direkt nach seiner Seele greifen wolle.
Erneut Schmerzen im Gesicht, heftiger. Mit unendlicher Erleichterung spürte er, wie sie ihm halfen, sich aus dem Zwielicht zu lösen.
Kurz bevor auch die furchtbare Frau – oder was auch immer sie in Wirklichkeit war – von dem zusammenbrechenden Zwielicht verschluckt wurde, konnte er nur noch daran denken, wie grotesk lang die Finger an ihrer Hand plötzlich ausgesehen hatten.
Plötzlich spürte Tyark seinen fleischlichen Körper, der ihn schwer und steif wie ein Ledermantel umhüllte. Er schlug die Augen auf.
Er blickte direkt in Zajas ängstliches Gesicht. Auf ihrem kahlen Schädel glitzerten kleine Schweißtropfen. Jetzt erst spürte er, dass seine Wangen wie Feuer brannten. Er jetzt nahm er wahr, dass Zaja mit ihm redete.
»Tyark! Tyark! Wach auf, bei den Höllen!«
Ihre Hand landete klatschend auf seiner Wange.
»Au! Zaja ... Zaja, hör auf! Ich bin wach!«
Ein erleichtertes Lachen ging über ihr Gesicht und bevor er sich versah, umarmte sie ihn fest. »Bei den Alten! Ich dachte, du würdest nie wieder aufwachen!«
Tyark blinzelte verwirrt und blickte sich dann erleichtert in der Hütte umher, als habe er Angst, das Frauwesen verstecke sich noch in einer der dunklen Ecken.
Doch er vernahm nur die aufgeregte Stimme Zajas. »Ich habe tief geschlafen, aber irgendwie hatte ich einen seltsamen Traum. Es schien mir, als wärst du irgendwo in meinem Traum, obwohl ich dich nicht finden konnte. Aber ich wusste in meinem Traum, dass du in Gefahr bist! Es war wirklich beängstigend!«
Tyark sah die Sorge in ihrem Gesicht. »Nun, jedenfalls wurde dieses Gefühl schließlich so stark, dass ich aufgewacht bin. Und da habe ich gesehen, wie du so seltsam gezuckt hast ...«
Tyark schaffte es nur, sie weiterhin verwirrt anzustarren.
»Jedenfalls hast du auch vor dich hin gewimmert, als würdest du einen geradezu furchtbaren Traum haben! Zunächst habe ich an dir geschüttelt, aber du bist einfach nicht wach geworden! Na ja, und da habe ich die halt ein paar Ohrfeigen gegeben. Das hat geholfen wie es scheint…«
Ein zaghaftes Grinsen erschien auf ihrem Gesicht.
Erleichtert stellte Tyark fest, dass seine Gedanken langsam klarer wurden. Er sagte: »Ja, ich hatte einen Alptraum. Einen ziemlich heftigen sogar ...«
Zaja blickte ihn an, erneut fielen ihm ihre tiefgrünen Augen auf. Er musste unwillkürlich an die grauenvolle Dunkelheit denken, die wie eine Fontäne aus den Augen der Frau herausgeschossen war. Er begann zu zittern, als sei ihm kalt. Denn erst jetzt spürte er eine grausame Leere in seinem Herzen. Es war eine Leere, die sie zurückgelassen hatte, bevor er ihr entkommen war.
Er atmete tief ein und hörte Zajas leise sagen: »Du musst mir davon erzählen, es ist nicht gut, solche dunklen Träume für sich zu behalten! Träume haben immer eine Bedeutung, ob sie nun gut oder schlecht sind. Durch sie sprechen die Großen Alten mit uns – wenn wir ihnen zuhören.«
Tyark vermied es, ihr in die Augen zu blicken. Ausweichend erwiderte er: »Nein – es ist schon gut. Ich habe manchmal schlechte Träume. Wie jeder, oder?«
Eine plötzliche Wut schoss in ihm hoch. Ihm kam der völlig absurde Gedanke, dass Zaja vielleicht ebenfalls an dieser Liebe interessiert war? Vielleicht wollte sie ihm die Frau wegnehmen! Tyark musste all seine Kraft zusammennehmen, um diesem völlig abwegigen Impuls nicht nachzugeben. Obwohl er wusste, wie falsch dieser Gedanke war, konnte er sich nur sehr langsam beruhigen.
Zaja nahm besorgt seine Hand. »Tyark? Was ist mit dir?«
Er spürte kalten Schweiß auf der Stirn. »Alles in Ordnung. Es ist nur ... ich möchte nicht über diese Träume reden. Es ist besser so. Ich glaube auch nicht, dass sie etwas bedeuten, ehrlich gesagt.«
Zaja war anzusehen, wie unzufrieden sie mit seiner Reaktion war, doch sie sagte nichts. Sie sprach noch ein paar Sätze mit ihm und kroch dann in ihre Bettstatt zurück. Bevor er sich ebenfalls hinlegte, sagte Tyark zerknirscht: »Es tut mir Leid. Ich meinte es gerade nicht so ... Danke. Danke, dass du für mich da warst. Es war ... gut dass du mich aus diesem Traum geholt hast, glaube ich ...«
Zaja lächelte und nickte stumm.
Es war dringender, als du es dir überhaupt ausmalen könntest. dachte Tyark mit Blick auf seine bereits einschlafende Nachbarin.
Erst als die ersten Sonnenstrahlen einen neuen Morgen ankündigten konnte Tyark schlafen. Seine Träume waren chaotisch und zäh – Sehnsucht und Angst kreisten wie in einem Mahlstrom umeinander. Tyark wurde immer weiter in die Tiefe gerissen, egal wie schnell er schwamm. Und ständig hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Aus goldenen, allwissenden Augen.
***
Als Tyark weniger später erwachte, fühlte er sich wie gerädert und war doch gleichzeitig merkwürdig aufgedreht.
Zaja lag nicht mehr neben ihm, sie schien bereits aufgestanden zu sein. Tyark nahm an, dass sie wieder am Waldrand beten würde, so wie sie es jeden Morgen zu tun pflegte. Vielleicht würde er später mitbeten, die Gnade der Großen Alten konnte er wahrhaftig gut brauchen!
Hastig stopfte er sich die Reste des muffig schmeckenden Brotes in den Mund, welches sie am Abend der Ankunft von Mandolf erhalten hatten. Als er aus der Tür trat, durchflutete heller Sonnenschein den kleinen Raum. Tyark blinzelte geblendet und genoss die wunderbar frische Bergluft, die angefüllt war vom würzigen Duft der Nadelbäume und dem Geruch nach Felsen und Erde.
Er schlenderte gedankenverloren durch das Dorf. Die Wege waren mittlerweile trocken, er sah zahlreiche Bewohner ihren Tätigkeiten nachgehen. Nur der dunkle Gesichtsausdruck mancher Bauern erinnerte ihn wieder daran, was hier vor wenigen Wochen passiert war. Manches Mal wurde er geradezu feindselig angeschaut und er fragte sich, woher dieser Hass kam. Weder er noch seine Begleiter waren für das Geschehene verantwortlich!
Während er darüber grübelte, hörte er lauten Streit vom Dorfplatz – schon bald erkannte er die schrille Stimme des greisen Vaters von Mandolf. Als er näher kam, sah er bereits eine kleine Ansammlung von Menschen, darunter auch Pereo, Mandolf und der keifende Greis. Als der Greis Tyark erblickte, streckte er seinen dürren Zeigefinger aus und führte dann mit der ausgestreckten Hand eine Geste aus, als ob er etwas von einem Tisch wischen wollte. Aus der Reaktion der Umstehenden schloss Tyark, dass dies nicht gerade eine freundliche Geste gewesen sein konnte.
Der Alte keifte nun Unverständliches in Richtung Tyark. Er verstand wenig, da der Greis einen recht starken Dialekt hatte, doch die in seine Richtung fliegenden Speichelfetzen waren Hinweis genug. Mit hochrotem Kopf verschwand der Alte schließlich in seinem Haus und ließ einen ratlosen Pereo und Mandolf zurück.
Zögerlich trat Tyark zu den anderen und fragte verwirrt: »Was war los? Warum hat er mich beschimpft?«
Mandolf räusperte sich und Tyark fiel auf, wie blass er heute war. »Es – tut mir leid. Mein Vater ist eigentlich kein aufbrausender Mensch. Zumindest war er das früher nicht. Und so ... unhöflich wie heute habe ich ihn noch nie erlebt. Es wird das Verschwinden der Kinder sein, das ihn so aufregt. Das uns alle sehr trifft. Ich bitte dich darum, ihm zu verzeihen. Ich kenne ihn so gar nicht ...«
Ratlos blickte Mandolf auf die geschlossene Tür hinter ihm. Pereo nickte nur und sagte knapp: »Wir sollten bald aufbrechen und auf die Suche gehen. Der Winter wird früh kommen dieses Jahr.«
Tyark suchte in dem narbigen Gesicht nach einem Anzeichen von Trauer oder Bestürzung – schließlich war doch das Kind seiner Halbschwester verschwunden! Doch in Pereos dunklem Auge war nichts zu erkennen, sein starres Gesicht verbarg, was auch immer dahinterliegen mochte. Tyark nickte daher bloß und beschloss auf Pereos Vorschlag hin, ihn zu Humbor, dem Schmied, zu begleiten.
Während er trübselig über die aufgeweichten Pfade schritt, tauchte hartnäckig immer wieder ein Bild vor seinem inneren Auge auf, egal, wie oft er auch versuchte, es wegzuwischen. Ein kalter Schauer rann seinen Rücken hinunter, obwohl ihm in der Sonne mittlerweile ziemlich warm geworden war.
Immer wieder sah er lange, weiße Finger, wie sie sich zärtlich um den fast kahlen Kopf des Greises schmiegten. Und immer wieder sah er ihren perfekten Mund, ahnend, dass hinter der Fassade ein dunkler Abgrund lauerte. Und er sah, wie die Frau stumme Worte in die Ohren des Alten träufelte. Worte, die Tyark nicht hatte hören können – doch sie hatten sich angefühlt wie Gift.
Humbor war etwa so groß wie Tyark, relativ beleibt und hatte Oberarme wie Baumstämme. Auf seinem halbkahlen Schädel glitzerten Schweißtropfen. Er bearbeitete das Metall irgendwelcher Feldgerätschaften, als sie sich der kleinen Schmiede näherten.
Humbor blickte auf und sein bärtiges Gesicht huschte desinteressiert über Tyark, dann grüßte er Pereo brummig: »Mögen die Riesen mit dir sein, Pereo! Wurde Zeit, dass du mich besuchen kommst!«
Pereo lächelte, soweit sein vernarbtes Gesicht dies zuließ. »Sie seien auch mit dir, alte Windbraut!«
Humbor blickte Pereo funkelnd an und einen Moment hatte Tyark die Sorge, dass sich auch der Schmied ihnen gegenüber feindlich zeigen würde. Doch dann lachte er dröhnend los und lachend schlugen die beiden Männer ihre riesigen Hände zusammen. »Wie geht es dir, Salzfuß?«
Pereo wehrte hastig ab: »Gut, gut! Und selbst? Wie ich sehe, hast du endlich gelernt, ein richtiges Feuer zu entzünden! Und du scheinst Metall auch endlich hart schmieden zu können! Hat dir die Alte Marda mal gezeigt, wie man das macht!«
Die beiden tauschten noch eine Weile ähnliche Nettigkeiten aus und schließlich holte der Schmied ein kleines Holzfässchen aus seiner Hütte. »Riesenbräu! Vom Feinsten!«
Dann hielt er Tyark und Pereo Becher hin, die sonst wohl wahrhaft nur von Riesen benutzt wurden!
Neugierig kostete er einige Schlucke des dunklen Bieres. Es schmeckte sehr würzig, fast erdig – irgendwie erinnerte es ihn an den Duft der tiefen Wälder und der Berge.
Schon bald bemerkte er, wie eine gewisse Leichtigkeit in ihm aufstieg – er wunderte sich insgeheim, wie berauschend dieses Getränk war.
Pereo und Humbor leerten ihre gewaltigen Humpen in wenigen Zügen und Tyark hätte kaum sagen können, ob einer der beiden überhaupt angetrunken war.
»Sprich, Tyark, wie hast du Salzfuß eigentlich kennengelernt? Es ist nicht gerade seine Art, Freunde zu haben!«
Der Schmied lachte dröhnend. Tyark grinste angetrunken und erzählte dem Schmied von seiner Anreise und wie er vom Wege abgekommen war – und, dass er ohne Pereo nun sicher nicht mehr am Leben wäre. Mit einem Seitenblick auf den ins Feuer starrende Pereo fragte er: »Humbor, warum nennst du ihn eigentlich Salzfuß?«
Pereo schien aufzuschrecken und hob warnend seinen Zeigefinger, sagte aber nichts. Der Schmied verzog das harte Gesicht zu einem Grinsen: »Das ist ein sehr alter Name für ihn! Ich denke, es steht mir nicht zu, über die Herkunft dieses Namens zu erzählen. Pereo soll dir darum am besten selbst erzählen, wie er als Junge mit eingesalzenen Füßen schreiend vor den gierigen Ziegen davongelaufen ist!«
Pereo seufzte und sagte mit gespielter Strenge: »Du bist ein altes Schandmaul, Humbor.«
Er langte träge nach dem Schmied, der geschickt auswich. Schmunzelnd brummte Pereo: »Gib mir noch was vom Bräu. Auf!«
Irgendwann hatten sich beide die Arme auf die Schultern gelegt und einen Moment schien es Tyark, als seien die heimlichen Schatten aus ihren Gesichtern gewichen. Schatten, die auf jedem in diesem Dorf zu lasten schienen.
Sein Kopf fühlte sich herrlich leicht an und nach ein paar weiteren Schlucken des Bieres beschloss er aus einer Laune heraus, Zaja zu suchen.
Wieder wurden ihm von einigen der Bewohner feindselige Blicke entgegengeworfen. Doch seltsamerweise hatte er diesmal das Gefühl, dass ihm der dunkle Blick, der in diesen fremden Gesichtern lag, irgendwie bekannt vorkam.
Tyark runzelte die Stirn und schob diesen Eindruck auf das Riesenbräu, das in seinen Adern floss.
Dann bemerkte er, dass er versehentlich in Richtung der westlichen Grenze des Dorfes abgebogen war. Er blieb stehen und starrte in den dichten Wald, der wie eine grüne Wand unmittelbar neben dem Dorf begann.
Die uralten Bäume rauschten leise im Wind, der sanft durch ihre Nadeln und Kronen glitt. Tyark stellte sich vor, dass ihm der in den Blättern gefangene Wind von fernen Ländern erzählten wollte. Von Gegenden und Königreichen, in denen alle Kinder glücklich zu Hause spielen konnten. In denen sie keine Angst haben mussten, in irgendwelchen Bergen zu verschwinden.
Tyark schluckte. Die angenehme Angetrunkenheit wich schnell zurück und er sehnte sich nach einem weiteren Humpen. Oder zwei.
Ein lautes Krächzen ließ ihn plötzlich aufschrecken: Ein paar Schritte von ihm entfernt saß eine Krähe auf einem Ast. Mit halb geöffnetem Schnabel blinzelte sie ihn aus ihren schwarzen Augen an und rührte sich nicht.
Tyark starrte zurück. Er wusste nicht warum, aber diese Krähe wirkte irgendwie seltsam auf ihn. Als sei sie irgendwie falsch.
Das Tier drehte seinen Kopf zur Seite und blinzelte Tyark schief an. Aus dem Schnabel klang ein lautes Krächzen, das Tyark leicht zusammenzucken ließ. Die Welt um ihn herum schien den Atem anzuhalten, kein anderer Laut war zu hören, selbst der Wind schien innegehalten zu haben.
Tyark ging ein paar Schritte auf die Krähe zu – er hatte das dringende Bedürfnis, das freche und zugleich unheimliche Tier zu vertreiben. Seine Hände kribbelten. Ein erneutes Krächzen war die Antwort. Und dann plötzlich noch ein anderes.
Tyark fuhr herum. Hinter ihm saßen drei weitere Krähen auf den Ästen der Bäume. Er fing an zu schwitzen.
Tyark wendete sich wieder der ersten Krähe zu – und sprang einen Schritt zurück. Das dreiste Tier saß plötzlich nur noch zwei Meter von ihm entfernt auf dem Boden! Der kleine Kopf mit dem halb geöffneten Schnabel bewegte sich ruckartig. Tyark blickte in die tiefschwarzen Augen des Tieres – lag nicht fast so etwas wie Spott darin? Oder vielmehr eine grenzenlose, boshafte Freude?
Tyark hatte das überwältigende Gefühl, weglaufen zu müssen. Seine Muskeln spannten sich an, sein Körper bereitete sich auf Flucht vor. Er ballte seine Hände zu Fäusten, spürte, wie schweißnass sie waren. Warum hatte er Angst vor diesen verdammten Vögeln?
Sie sehen aus wie Vögel. Doch sie sind mehr. Viel mehr. Ihre Augen sind Spiegel!, dachte Tyark und wunderte sich gleichzeitig darüber, was er gerade zu sich selbst gesagt hatte. Aber er verstand. Etwas beobachtete ihn, hinter dem Spiegel der schwarzen Äugelein der Tiere. Etwas, dass seine Angst genoss und grausame Freude und eine völlig unbegreifbare Neugier dabei empfand.
Auf einmal hatte Tyark das Gefühl, aus seinem Körper zu gleiten. Noch bevor er überhaupt Zeit hatte, Panik zu empfinden, sah er sich plötzlich von demselben, unruhigen Zwielicht umgeben, das er bereits kannte. Er wunderte sich nur kurz darüber, wie er es geschafft hatte, in diese Zwischenwelt zu gelangen. Schlief er vielleicht noch?
Rasch dreht er sich nach den Krähen um. Er sah die schattenhaften Gestalten der Krähen auf den Bäumen, ihr Körper schien ein warmes Licht zu umgeben. Kleine, goldene Fäden verließen ihre Körper und verschwanden irgendwo im Zwielicht. Doch in ihrem Gold war noch etwas anderes. Etwas Dunkles. Vorsichtig streckte er seine Hand aus, um nach einem der Fäden zu greifen. Als er ihn kurz berührte, geschah etwas Merkwürdiges. Bilder durchzuckten ihn. Sinneseindrücke. Er sah dichten Wald, allerdings wie aus großer Höhe. Er spürte den Wind an seinem Leib. Und er sah eine dunkle Höhle vor sich. Ihr Eingang gähnte wie ein Schlund in einem Abhang aus Kies.
Bevor Tyark sich weiter wundern konnte, wurde er bereits in seinen Körper zurückgezogen.
Verwirrt blickte er sich um. Er war wieder in der wirklichen Welt. Kein Zwielicht umgab ihn mehr, kein Lichtschein und keine geheimnisvollen Fäden waren mehr zu sehen.
Die Krähen sahen aus wie vorher – und doch schienen sie plötzlich unruhiger zu sein. Sie krächzten und Tyark meinte zu erkennen, wie der Blick dieser schwarzen Augen weniger dunkel war als zuvor. Als sei ein dunkler Schleier verschwunden, der vorher darüber gelegen hatte.
Tyark ging einen Schritt auf die Krähe vor ihm. Die Krähe krächzte noch einmal laut und flog dann mit einem kleinen Hüpfer davon. Auch hinter sich hörte Tyark Flügel schlagen.
Erleichtert sah er den Tieren hinterher, die rasch an Höhe gewannen und dann krächzend über den Baumwipfeln verschwanden.
Unwillkürlich musste er lächeln, denn er spürte eine Stärke in sich, die neu für ihn war. In Gedanken versunken begann er, einem kleinen Trampelpfad in die Wälder zu folgen, der sich vor ihm auftat.
Er war erst wenige hundert Meter in den schattigen Wald gegangen, als er vor sich Stimmen hörte.
Neugierig ging er auf die Stimmen zu und blieb am Rande einer kleinen Lichtung stehen. Zunächst sah er Zaja, wie sie auf Knien über den Waldboden kroch und sich nach irgendwas bückte. Dann sah er eine scheinbar uralte, runzlige Frau aus einem Gebüsch kriechen. Sie war in eine stark zerschlissene Gewandung gehüllt und hielt einen zerschlissenen Korb in der Hand.
Tyark runzelte belustigt die Stirn und trat dann näher. Je näher er kam, desto deutlicher wurde, dass die Alte die älteste Frau sein musste, die er je gesehen hatte! Ihr Gesicht schien nur noch aus Falten zu bestehen, die hochgekrempelten Ärmel gaben den Blick auf dürre, mit unzähligen Altersflecken übersäte, sonnengebräunte Arme frei.
Zaja blickte auf, lächelte und rappelte sich auf. Sie nahm die Alte beim Arm, legte ihr kurz die Hand auf die Schulter und sprach etwas direkt in ihr Ohr.
Tyark bemerkte, dass die Augen der Alten fast vollständig weiß waren. Er nahm an, dass sie entweder blind war oder kaum noch etwas sehen konnte.
Die fremde Frau nuschelte derweil einige Worte zurück und machte sich dann wieder daran, die Sträucher über dem Waldboden zu durchsuchen. Tyark lächelte Zaja zaghaft zu. »Zaja – schön dich zu sehen! Was im Namen der Großen Alten treibt ihr hier?«
Zaja lächelte zurück. Sie hatte die Kapuze heruntergezogen und Schweiß glänzte auf ihrem kahlen Kopf. Ihre Hände zupften an ihrem langen Zopf herum, während sie ihm erklärte: »Ich bin heute Morgen zum Meditieren in den Wald gegangen. Ich habe irgendwie recht schlecht geschlafen. Nach der letzten Nacht ist das aber auch nicht weiter erstaunlich!«
Sie zwinkerte ihm zu. »Nun, als ich in der Nähe auf einem Stein saß, bin ich auf diese Frau gestoßen. Darf ich vorstellen: Die Alte Marda!«
Sie wies mit einer Hand auf die Alte, von der nur das wackelnde Hinterteil zu sehen war, da sie sich dem Waldboden unter einem Gebüsch gewidmet hatte.
Die Alte murmelte etwas, als sie ihren Namen hörte. Zaja warf Tyark einen verschwörerischen Blick zu, kam zu ihm herüber und flüsterte: »Sie spricht mich ständig mit Noijana an! Ich glaube fast, sie hält mich irgendwie für ihre Tochter oder so. Äh, oder wer auch immer diese Noijana ist.«
Tyark runzelte die Stirn. Bei diesem Namen hatte er so etwas wie ein Kribbeln tief in sich gespürt. Aber warum? Er hatte diesen Namen heute das erste Mal gehört.
»Die letzten Stunden haben wir hier im Wald zugebracht: Sie hat ein unglaubliches Gespür für Kräuter und Heilpflanzen! Sie sieht nicht mehr viel, aber ich habe fast den Eindruck, dass sie die richtigen Pflanzen am Geruch erkennt. Und sie kann sie ertasten. Sehr beeindruckend!«
Die Alte brabbelte leise vor sich hin und kam schließlich zu ihnen herüber, Dornen und Blätter hingen in ihrer Kleidung und ihrem struppigen weißen Haar. Der fast zahnlose Mund formte ein Lächeln und mit einer hohen, brüchigen Stimme rief sie: »Komm Noijana! Nimm deinen Freund mit! Ich mache dir deinen Lieblings–Kräutertee! Der wird dir gut schmecken, komm!«
Sie zupfte an Zaja und murmelte dann: »Der Wald sagt mir, dass wir gehen sollten! Weißt du, der Wald ist nicht wie vorher! Nicht erst, seit die armen Kinder verschwunden sind! Auch der Wald hat verändert ...«
Marda hielt inne und schien zu schnuppern, als nähme sie irgendeine Witterung wahr. Schließlich sagte sie: »Schon vor langer Zeit hat er sich verändert. Der Wald ...«
Sie murmelte einige Worte, die weder Tyark noch Zaja verstehen konnten. Tyark bemerkte irritiert, dass die Alte Tränen in den bleichen Augen hatte.
Marda zupfte energisch an Zajas Gewandung und ermahnte sie: »Komm Noijana! Komm, es ist Zeit zu gehen! Nimm deinen Freund mit! Wir wollen den Wald nicht weiter verärgern!«
Als sie gingen, warf Tyark einen letzten Blick auf die hinter ihnen liegende Lichtung. Doch nichts hatte sich verändert: In den Sonnenstrahlen tanzten Schmetterlinge und die zahlreichen Singvögel zwitscherten ungerührt ihre Lieder. Alles wirkte friedlich.
Die Alte führte sie zu einer baufälligen Hütte am Rande des Waldes.
Ein großer Brombeerstrauch nahm die ganze Südseite der Hütte in Beschlag und Tyark fragte sich, ob vielleicht die ganze Hütte zusammenstürzen würde, wenn jemand den Strauch abschneiden würde.
Marda sprach die ganze Zeit mit Zaja, welche sie allen Beteuerungen zum Trotz weiterhin für eine Frau namens Noijana hielt.
Es fiel Tyark schwer, der Alten zu folgen, da sie oft unzusammenhängend sprach. Manchmal brach sie mitten im Satz ab und fuhr nach einer kurzen Pause mit etwas ganz anderem fort.
Im Inneren von Mardas Hütte war es dunkel und staubig, ein muffiger Geruch lag über allem wie eine schwere Decke. Nicht mehr als eine alte Feuerstelle, ein schmutziges Bett, ein Tisch und einige wacklige Regale waren zu sehen. Und mehr hätte wohl auch nicht hineingepasst. Tyark fielen sofort die zahlreichen Kräuter und getrockneten Pflanzen auf, die büschelweise an den Wänden hingen.
Marda fing sofort an, ein Feuer anzusetzen und kramte dann ein kleines Tiegelchen hervor, in dem sie sogleich begann, Kräuter und andere Zutaten miteinander zu vermengen. Einmal war sich Tyark sicher, dass die Alte sogar hineingespuckt hatte.
Fröhlich verkündete Marda: »Ich mache dir Kräuter, Noijana! Du musst die Wunde am Bein versorgen! Auch dein Freund! In deine Wunde ist bereits ein Malasch gefahren!«
Zaja nickte und krempelte mit schmerzverzogenem Gesicht vorsichtig ihre Gewandung hoch. Tyark sah die rotumrandeten Wundränder ihres Wolfsbisses.
»Die Menschen hier glauben, dass ein böser Geist, der Malasch, in manche Wunden fährt und dort für eitrige Entzündungen und Fieber sorgt. Vom meiner Wunde habe ich ihr allerdings nichts gesagt ...«
Zaja zuckte mit den Schultern und beobachtete Marda, die ungerührt im Tiegelchen herumrührte.
»Ach, meine Tochter! Ich kann den Malasch bereits riechen! Damit ist nicht zu spaßen! Hat dein Freund auch eine Wunde?«
Zaja lächelte Tyark auffordernd zu. Dieser warf einen zweifelnden Blick auf die etwas merkwürdig aussehende Salbe, die Marda da zubereitete. Dann lächelte er ergeben und krempelte seinen Ärmel hoch.
Er hatte den Überfall der Wölfe bereits fast vergessen. Auch an die tiefe Bisswunde in seinem Arm hatte er komischerweise gar nicht mehr gedacht. Doch als er den Arm ausstreckte, stellte er überrascht fest, dass seine Wunde so gut wie verheilt war. Es waren keinerlei Entzündungen zu sehen. An einigen Stellen war die Haut bereits dabei, zu vernarben.
Tyark verzog erstaunt das Gesicht. Warum war seine Wunde bereits so gut verheilt?
Die alte Marda war derweil an ihn herangetreten und hatte seinen Arm in ihre erstaunlich kräftigen Hände genommen. Sie ging ganz nah mit dem Gesicht an die Wunde heran und diesmal war sich Tyark sicher, dass sie daran roch. Schließlich murmelte die Alte: »Nein. Alte Wunde bereits. Du brauchst Mardas Kräuter nicht.«
Sie wandte sich um und wackelte auf die erstaunte Zaja zu, die immer noch Tyarks Unterarm betrachtete.
»Alte Wunde? Wie kann das sein?«
Tyark zuckte nervös mit den Schultern. »Sie war wohl doch nicht so tief, wie es zunächst ausgesehen hat. Glück gehabt!«
Er lächelte zaghaft, auch wenn ihm das selber irgendwie unheimlich war.
Zaja verzog den Mund. Schließlich sagte sie zögerlich: »Hm, vielleicht. So viel Glück hätte ich auch gerne gehabt!«
Noch bevor Zaja den Satz richtig zuende gebracht hatte, begann Marda bereits, ihr Bein mit der dickflüssigen Paste zu bestreichen. Dabei murmelte sie wieder einige unbekannte Worte und schien mit sich selbst zu reden. Oder dem Malasch in der Wunde, dachte Tyark amüsiert.
Danach saßen sie noch eine Weile in der Hütte und lauschten Marda, wie sie über die Wälder, die Rätsel der Berge und die Wunder längst vergangener Jahre erzählte.
Immer wieder strich sie dabei Zaja über die Wangen und flüsterte liebevoll den Namen Noijana. Einmal lief dabei sogar eine einzelne Träne die Runzeln herunter. Obwohl sie es versuchten, konnten Zaja und Tyark nicht herausbekommen, was es mit dieser Frau auf sich hatte. Die Alte reagierte jedes Mal völlig überrascht, als ob Zaja den Verstand verloren hätte.
Die Sonne war bereits dabei, als glutroter Feuerball hinter den Bergen zu verschwinden, als Zaja und Tyark beschlossen, endlich aufzubrechen.
Sie hatten noch eine Weile versucht, sich mit der Alten zu unterhalten, aber Marda schien zunehmend in ihre eigene Welt zu versinken. Schließlich hatten sie die murmelnde Alte ignoriert und sich über andere Dinge unterhalten.
Tyark stellte fest, dass er sich immer besser mit Zaja verstand und er spürte, wie angenehm ihm ihre Nähe bereits war.
Beim Aufstehen bemerkte Zaja überrascht, dass es ihrem Bein bereits besser zu gehen schien. »Es pocht gar nicht mehr. Dafür juckt es fürchterlich.«
Sie grinste kläglich. Misstrauisch betrachtete Tyark die Reste der Kräuterpaste im kleinen Tontiegelchen. Erstaunlich, was solch unscheinbare Pflanzen alles bewirken konnten!
Das leise Schnarchen Mardas lenkte ihn von den Kräuterkünsten der Alten ab. Diese war derweil sitzend auf dem Bett zusammengesunken und war eingeschlafen. Zaja und Tyark grinsten sich an.
Wie Verschwörer öffneten sie die halb verrottete Tür der Hütte so leise wie möglich. Sie wollten gerade nach draußen treten, als das Schnarchen abrupt aufhörte.
Überrascht wandten sie sich Marda zu. Doch die alte Frau saß völlig unverändert zusammengesunken auf dem Bett, die Augen waren weiterhin geschlossen. Zaja zuckte mit den Schultern und beide machten sich wieder daran, die Hütte zu verlassen. In diesem Moment hörten sie etwas Gezischtes hinter sich: »Ihr werdet hier alle sterben.«
Erschrocken drehten sie sich um. Nichts hatte sich verändert. Mardas Atem ging leise und etwas unregelmäßig, sie schien aber nicht aufgewacht zu sein. Zaja runzelte die Stirn und sprach Marda leise an: »Marda? Hast du etwas gesagt?«
Die Angesprochene murmelte nur im Schlaf, wachte aber nicht auf. Tyark bekam Gänsehaut. Hatte die Alte etwa im Schlaf gesprochen?
Zaja versuchte noch einmal, Marda behutsam zu wecken, doch stattdessen begann die Alte wieder leise zu schnarchen. Als Zaja nochmals an ihr rüttelte, entwich unter der Alten ein Schwall Luft mit einem leisen Fauchen. Die Spannung, die sich in der kleinen Stube angestaut zu haben schien, war plötzlich verschwunden. Zaja und Tyark grinsten sich verlegen an und verließen die Hütte rasch.
Draußen atmeten beide erleichtert die kalte Abendluft ein. Betreten blickte Zaja zur dunklen Hütte hinter ihnen. »Trotzdem. Das war ... unheimlich.«
Sie schlang die Arme um sich, als ob ihr kalt war.
»Ich ... weiß nicht, ob sie tatsächlich das gesagt hat, was wir verstanden haben! Vielleicht hat sie ja auch einfach nur im Schlaf gesprochen? Vielleicht etwas Schlechtes geträumt?«
Tyark zuckte mit den Schultern und nickte wortlos. Hoffentlich hatte Zaja Recht!
Als sie in eine leise Unterhaltung vertieft zu den Hütten des Dorfes zurückschlenderten, bemerkten sie die große Krähe nicht, die bewegungslos auf dem Dachfirst hockte und ihnen nachzublicken schien. Das Tier saß noch lange dort und regte sich nicht. Schließlich war sein dunkles Federkleid nicht mehr von der aufgezogenen Nacht zu unterscheiden, als ob sie zu einem Teil davon geworden wäre.
***
Als Tyark und Zaja bei ihrer Hütte ankamen, sahen sie, wie Pereo gebückt aus der schmalen Türaussparung heraustrat. Als er sie erblickte, kam er sogleich auf sie zu: »Da seid ihr ja endlich! Habe euch überall gesucht! Mandolf lädt uns heute Abend zu sich nach Hause ein.«
Während sie in Richtung Dorfmitte liefen, berichtete Zaja Pereo, was sie die letzten Stunden getan hatten – und ließ auch das seltsame Erlebnis beim Hinausgehen nicht aus.
Pereo wiegelte allerdings ab, da es wohl schon früher vorgekommen sei, dass die Alte Marda seltsames, ja geradezu unheimliches Zeug von sich gegeben hätte. »Manche sagen, Sie stehe in direkter Verbindung zu den Bergen selbst. Oder zu den Gebeinen der Riesen.«, er schnaufte spöttisch, »Ich glaube, sie ist einfach nur verrückt.«
Sein verbliebenes Auge blinzelte. »Sie war schon alt und verrückt, als ich noch ein kleiner Junge war. Ich hatte immer Angst vor ihr. Obwohl sie schon damals fast blind war.«
Einige Zeit später hatten sie sich satt gegessen und saßen um die große Feuerstelle in Mandolfs Haus herum. Mandolfs Vater war zwischendurch heruntergekommen und hatte Zaja zischend als Hexe beschimpft – er konnte von seinem Sohn nur mühsam in sein Zimmer verbannt werden.
Tyark war dabei aufgefallen, wie schwach Mandolf wirkte. Er war bleich und klagte dann auch über Kraftlosigkeit. Sie erzählten ihm von der Alten Marda, doch Mandolf zerstreute ihre Bedenken rasch: »Marda ist ... nun, nicht verrückt, wie Pereo sagt, aber sie ist wirklich alt. Und manchmal scheint sie in anderen Welten zu leben. Sie hat schon früher komische Sachen gesagt, manchmal. Wenn auch nicht so etwas ...«
Mandolf wickelte sich enger in seine raue Decke und blickte ins Feuer des Kamins. »Merian ist heute Nachmittag gestorben.«
Tyark erinnerte sich – Merian war der letzte noch verbliebene Kranke. Er selbst hatte ihn sich nicht anschauen wollen, aber Zaja war in der vergangenen Zeit einige Male bei dem Mann gewesen. Doch sie hatte ratlos nur dieselbe, geheimnisvolle Krankheit feststellen können. Mandolf fuhr fort: »Einige der Leute machen Tyark und besonders Zaja dafür verantwortlich. Ich denke, mein Vater steckt dahinter. Ich weiß nicht, was mit ihm los ist! Er war nie ein Freund vorschneller Urteile oder gar Verurteilungen. Er war immer ein ... weiser Mann, versteht ihr?«
Er bekam einen Hustenanfall.
Pereo atmete tief ein und sagte mit Nachdruck: »Es wird höchste Zeit. Ich werde ins Gebirge aufbrechen. Diese ganze Sache aufklären. Meine Halbschwester bekniet mich jeden Abend ... ich muss einfach. Es wenigstens versuchen, nicht wahr?«
Er ballte seine Hand zur Faust und begann, sie mit der anderen zu kneten. Düsteres Schweigen legte sich über die kleine Gruppe, bis Tyark schließlich leise sagte: »Natürlich wirst du gehen, Pereo. Aber nicht alleine. Ich komme mit.«
Zaja ergänzte: »Und ich natürlich auch. Das bin ich nicht nur dem Orden schuldig.«
Pereo nickte stumm. Plötzlich schlug sich Mandolf mit der Hand gegen die Stirn »Natürlich! Noijana! Seltsam, wie konnte ich diesen Namen vergessen! Mir ist einiges gerade eingefallen, als Pereo vom Gebirge gesprochen hat. Mein Vater hat es mir einmal erzählt, ich kann mich aber nur noch grob daran erinnern. Als mein Vater noch ein Kind war, soll Marda eines Tages in Begleitung einer jungen Frau, nun, noch mehr Mädchen als junge Frau, ins Dorf zurückgekehrt sein. Sie soll völlig verstört im Wald umhergeirrt sein, wo Marda sie gefunden hat.
Ich glaube, sie soll erzählt haben, dass ihr Dorf vor Monaten von einer Meute Schwarzpelze niedergebrannt worden wäre oder so. Und sie war wohl seitdem auf der Flucht vor ihnen.«
Pereo unterbrach Mandolf mit gerunzelter Stirn: »Schwarzpelze! Die waren bis vor vielleicht zwanzig Sommern eine außerordentliche Plage im ganzen Fürstentum. In der Tat!«
Auf Tyarks fragende Blicke entgegnete er: »Ein rohes Volk. Soll im Bunde mit wilden Naturgeistern stehen. Oder sogar besessen von ihnen sein. Mehr Tier als Menschen sind sie! Wild, grausam, unberechenbar. Kleiden sich immer in dunkle Felle und auch ihre Haut ist von dunkler, grauer Farbe. Ihre Augen sind stets blutunterlaufen! Sie schlagen die Köpfe ihrer Opfer ab und nehmen sie mit. Wahrscheinlich in ihre Höhlen.
Der Vater des Fürsten D‘Armais hatte sich des Problems dann schließlich angenommen. Hat die Schwarzpelze – ich glaube, sie nennen sich selbst Malakai – aus den umliegenden Wäldern herausgetrieben. Wie Vieh abgeschlachtet. Wahrscheinlich eine der wenigen guten Taten des alten Fürsten ... Sein Sohn, Fürst D’Armais zu Lindburg, hat immer noch Kopfgelder auf jeden erschlagenen Schwarzpelz ausgesetzt. Aber sie sollen sich weit in den Nordosten der Grate zurückgezogen haben, angeblich bis in die verfluchte Phantomküste am Rande des Weißen Meeres. Nur sehr selten finden wir heute noch Opfer von ihnen. Allerdings habe ich gehört, dass die Malakai neuerdings auch vereinzelte in der Horde gesichtet wurden.«
Pereo blickte Tyark fragend an. Die Erinnerung an die Horde gab Tyark einen Stich in die Magengrube. Mit brüchiger Stimme sagte er: »Ich weiß nicht, ob diese Schwarzpelze dabei waren. Ich glaube nicht ... in dem Teil der Horde, der meine Heimatstadt niedergebrannt hat, habe ich nur Krieger gesehen. Krieger, in ihren schwarzen Rüstungen. Wie Tiere haben sie sich dennoch benommen ...«
Pereo hob seine Augenbrauen und versank in grübelndes Schweigen.
Mandolf wiegte seinen Kopf und sagte: »Die Schwarzpelze waren einst das Krebsgeschwür in dieser Gegend. Ich bin sehr froh, dass diese Ungeheuer von hier vertrieben wurden!
Aber um auf das Mädchen zurückzukommen: Damals wurden noch oft Dörfer überfallen und niedergebrannt. Die Bewohner meist getötet – Pereo hat es ja bereit erzählt. Auch Schwarzbach wurde ein oder zwei Mal überfallen, es war jedes Mal eine große Katastrophe. Gerade in den Wintern drohte dann Hunger und Not. Aber das ist schon so viele Jahrzehnte her und den Großen Alten sei Dank hat es keine Überfälle mehr gegeben!
Nun, jedenfalls hat die Alte Marda dieses verwahrloste und wohl auch verwirrte junge Mädchen in den Wäldern gefunden. Sie muss dort viele Wochen, vielleicht ja wirklich sogar Monate, umhergeirrt sein. Es konnte wohl nie genau geklärt werden, wo genau sie eigentlich herkam. Marda nannte sie jedenfalls Noijana, ob das ihr richtiger Name war, weiß ich nicht. Noijana bedeutet im alten Dialekt unserer Sprache so viel wie Tochter der Noi. Also benannt nach der doppelköpfigen Göttin Noi, die tief im Glauben meiner Vorfahren verwurzelt ist. Ich meine, war.«
Er warf einen schnellen Blick auf Zaja und fuhr dann fort: »Der Orden lehrt uns glücklicherweise, dass die Sterne am Firmament die Großen Alten sind, die auf uns blicken und uns nach unserem Tode beurteilen werden. Damals aber war der Glauben noch stark von den alten, rachsüchtigen Göttern geprägt. Die Leute hier glaubten, dass das Sternzeichen, welches nach der Sommersonnenwende im nördlichen Himmel gesehen werden kann, Noi mit ihren beiden Köpfen ist.«
Tyark hörte Zaja leise schnaufen. Unbeirrt fuhr Mandolf fort: »Ja, jetzt fällt es mir wieder ein ... die Kleine hat wohl auch etwas von einer Schwester erzählt, die aber verloren sei. Einige Männer aus dem Dorf sind zwar auch auf die Suche nach einer weiteren Frau gegangen, haben aber niemand weiteres gefunden. Bis heute weiß ich nicht, was aus der anderen Frau geworden ist. Falls es sie überhaupt gegeben hat.
Na, jedenfalls hat die Alte Marda die junge Dame unter ihre Fittiche genommen. Noijana hat sich wohl schon sehr bald als äußerst geschickt im Umgang mit ...«, er suchte nachdenklich nach den richtigen Worten, »... Kräutern, Tinkturen und alten, nun, Rezepten erwiesen, in die sie Marda eingewiesen hat. Ich glaube fast, die Alte soll sogar mal gesagt haben, dass Noijana bereits als Kind ein größeres Talent für gewisse ... Dinge gehabt hat.«
Mandolf seufzte. »Ach, ich weiß nicht mehr, es ist bereits so lange her.«
Er blickte nachdenklich ins Feuer und fuhr nach einer Weile fort: »Vielleicht hat das dazu beigetragen, dass die vielen Dorfbewohner später ... Angst vor Noijana bekommen haben. Ich glaube, sie wurde sogar unter vorgehaltener Hand bezichtigt, eine Hexe zu sein und mit magischen Dingen zu tun zu haben.
Als in einem Sommer gleich zwei Kühe hintereinander starben, fiel der Verdacht rasch auf sie. Es war die Zeit der Hexenverfolgungen wie ihr wisst – die Anschuldigung eine Hexe zu sein, war schnell ausgesprochen und war für die Frau oft ein Todesurteil. Die Kühe waren wahrscheinlich einfach nur krank, aber wenn die Menschen erst einmal ihr Urteil gefällt haben ...«
Sein Blick verfinsterte sich fast unmerklich. »Vielleicht ist sie die Gespenster ihrer Kindheit auch einfach nie losgeworden und wirkte deshalb etwas ... sonderbar, obwohl sie wohl immer hilfsbereit und offenherzig gewesen ist.«
Er seufzte leise. »Ich denke, es war vielleicht auch eher enttäuschte Eitelkeit mancher Männer hier im Ort dabei, wer weiß. Sie war ja nicht zuletzt eine außergewöhnlich schöne junge Frau. Sie hat hier wohl so manchem den Kopf verdreht. Allerdings habe ich nie gesehen oder gehört, dass sie jemals einen Mann erwählt hätte, zumindest nicht, äh, länger als für eine Nacht.
Jedenfalls wurde Noijana schließlich kurz nach meiner Geburt aus Schwarzbach verbannt und lebte seitdem weit oben im Gebirge in einer alten Hütte. Marda hat sie oft besucht, obwohl sie schon damals uralt war. Einmal im Jahr kam Noijana wohl auch an den Dorfrand, um zu handeln, ich kann mich auch noch dunkel daran erinnern. Und manche schwangere Frau hat sie wohl auch heimlich besuchen lassen, in der Nacht.«
Zaja fragte leise: »Was ist aus ihr geworden? Ist sie gestorben?«
Mandolf überlegte kurz und antwortete dann: »Wahrscheinlich. Sie verschwand schließlich vor gut vierzig Jahren. Natürlich wissen wir nicht, wie lange sie bereits fort war, als wir davon erfahren haben. Nachrichten verbreiten sich in den Graten nicht sonderlich schnell ... Ich weiß das aber noch recht genau, da mein Vater etwa ein oder zwei Jahre nach ihrem, hm, Fortgehen von dem Verschwinden von Anemer vom Lichte und den Vier Spektren – oder wie auch immer die Oberhäupter der Magier heißen – gehört haben.«
»Du meinst Anemer, seine Erhabenheit des Ordens der Großen Alten und die Vier Spektabilitäten, die höchsten Magier der Vier Zirkel.«
Mandolf brummte zustimmend. Unbeirrt erklärte Zaja: »Jedes Reich hat seine Spektabilität, also Norden, Süden, Westen und Osten. Zur Spektabilität wird nur ein weiser und mächtiger Magier ernannt, nach einer strengen Überprüfung seiner geistigen Fähigkeiten durch den Orden. Oft genug gab es jahre– oder gar jahrzehntelang keine Spektabilität, da der Orden keinen geeigneten Träger dieses Titels finden konnte. So wie jetzt bereits seit fast hundert Jahren, seit die Spektabilität des Westens mitsamt Anemer verschwunden ist.«
Interessiert fragte Tyark: »Was ist denn damals passiert? Mit diesem Anemer?«
Zajas Blick verdunkelte sich, als sie erzählte: »Anemer war die höchste Eminenz des Ordens und ein weiser und erfahrener Führer. Keiner weiß was damals passiert ist, warum er verschwunden ist oder wo. Ein furchtbarer Verlust für den Orden und natürlich ganz Teanna! Bekannt ist nur, dass sie in die Kristallwüste gezogen sind, um gegen ein mächtiges Übel zu kämpfen, das Anemer dort vermutete. Und wie es scheint, haben sie ihren Sieg mit dem Leben bezahlen müssen. Der Erhabene Anemer gilt seit damals als heilig, als Bote der Alten. Eine Statue von ihm steht vor der Großen Akademie des Ordens in der Kaiserstadt.«
Mit Anerkennung in der Stimme sagte Pereo: »Auch ich habe von der Schlacht in der Kristallwüste gehört. Der Kommandant Gorim war schon eine Legende unter Kriegern, bevor er mit Anemer aufgebrochen ist. Harter und zäher Bursche. Eine Schande, dass er mit seinem Manipel wohl draufgegangen ist! hundert Mann der feinsten und besten Krieger! Und die Kristallwüste hat sie trotzdem einfach verschluckt und nicht einmal ihre Gebeine wieder herausgegeben.«
Er spuckte verächtlich aus. Mit in Falten gelegter Stirn sagte Mandolf: »Ja, wir hätten sie alle gut brauchen können, als wenige Jahre später erste vage Berichte aus dem Süden auftauchten, die von einer furchtbaren, unmenschlichen Streitmacht berichtete! Es dauerte ja nicht mehr lang und jeder in den Vier Reichen wusste über die Horde Bescheid. Aber wer weiß – vielleicht hat Anemer ja Erfolg gehabt! Denn wer weiß schon, welches Übel ansonsten vielleicht auf Teanna wandelte.«
Er langte nach einem der auf dem Tisch stehenden Becher und trank einen tiefen Schluck. Schließlich sagte er: »Nun, um auf Noijana zurückzukommen: Gesucht hat natürlich auch niemand lange nach ihr. Dass sie einfach fortgeht und Marda nichts davon sagt, ist aber schon sehr seltsam. Es lässt jedenfalls auf nichts Gutes schließen. Marda ist wohl erst darüber richtig verrückt geworden. Noijana war wie eine Tochter für sie – ihr Verschwinden hat wohl Mardas altes Herz gebrochen.«
Mandolf seufzte und fuhr erst nach einer Weile fort: »Keiner hat jemals herausgefunden, was mit Noijana passiert ist. Wenn ihr mich fragt, ist ihr etwas in den Bergen zugestoßen. Vielleicht ein Wolfsrudel, ein Bär, ein unglücklicher Sturz, eine Verletzung ... die Berge bestrafen jeden kleinen Fehler sofort. Mir ist ohnehin unbegreiflich, wie eine einzelne Frau dort oben überhaupt so lange überleben konnte, auch wenn sie kein kleines Mädchen mehr war. Windbräute sind noch das kleinere Übel im Hochgebirge, das könnt ihr mir glauben!«
Sie schwiegen eine Weile – Tyark fühlte sich seltsam berührt von der Geschichte dieser unbekannten Frau.
Pereo brach das Schweigen schließlich: »Ist Jobdan nicht gestern aus den südlichen Wäldern zurückgekehrt? Er kann uns doch ins Hochgebirge führen! Er hat schließlich die ersten Suchen nach den Kindern angeführt. Sobald eure Wunden es erlauben, sollten wir aufbrechen.«
Mandolf stimmte ihm zu: »Ja, Jobdan ist gestern Abend wieder zurückgekehrt, es war eine lange Jagd. Allerdings ...«
Er schwieg kurz und sprach dann weiter: »... allerdings ist er seitdem nicht mehr der alte, Pereo. Er hat nie darüber gesprochen, aber er scheint dort oben ... etwas erlebt zu haben, das ihn verändert hat. Er kommt mir vor, wie ein alter Mann, obwohl er erst dreißig Sommer alt ist! Die Grate haben ihn gebrochen, wenn du mich fragst – wie so viele vor ihm. Die Prüfungen der Riesen sind hart und nur wenige überstehen sie unbeschadet. Jobdan kennt die Berge sein ganzes Leben, er weiß, wie schnell es gehen kann.«
Pereo brummte etwas Unverständliches und sagte dann: »Nun, dennoch werde ich ihn morgen aufsuchen. Keiner kennt die Gegend hier so gut wie Jobdan. Er muss uns helfen.«
Mandolf wog zweifelnd seinen Kopf und versuchte noch eine Weile Pereo klarzumachen, wie sehr sich der Jäger veränderte haben musste.
Tyark hatte die ganze Zeit still dagesessen und sich angehört, welche Geschichten und Gegebenheiten mit der Geschichte dieses Ortes verwoben waren. Es war schrecklich, was in diesem Ort geschehen war – und es musste endlich in Erfahrung gebracht werden, wer dafür verantwortlich war.
Er unterbrach den Disput von Mandolf und Pereo. »Pereo hat Recht. Wir sollten Jobdan aufsuchen und dann möglichst bald aufbrechen. Vielleicht solltet ihr noch einen weiteren Boten nach dem Fürsten schicken lassen – wir dürfen nichts unversucht lassen!«
Mit Blick auf Zaja sagte er: »Zaja, deinem Bein geht es doch auch schon etwas besser, oder?«
Zaja zuckte mit den Schultern und sagte: »Die Wunde hat aufgehört zu pochen und scheint gut zu verheilen. Vielleicht noch drei oder vier Tage, bis ich das Bein problemlos belasten kann. Ich denke, ich schulde es diesen Leuten hier, die Tat aufzuklären. Und dem Orden.«
Pereo nickt nur stumm und sagte knapp: »Dann ist es beschlossen.«
Mandolf stand etwas schwankend auf und sagte dann mit der Hand am Kaminsims: »Ich bin euch sehr dankbar – auch wenn ich wenig Hoffnung habe. Selbst wenn Rynn den Kindern nichts angetan haben sollte, das Gebirge ist gnadenlos. Aber es ist gut, dass ihr es wenigstens versuchen wollt.«
Sie wechselten noch einige Worte, dann verabschiedete sich Mandolf und schlurfte in sein Zimmer.
Während sie die Stube verließen bemerkte Zaja besorgt: »Er sieht krank aus.«
Pereo schaute bedrückt in die leere Stube hinter ihnen. »Ja, ich hoffe, es ist nur eine Erkältung und nichts ... Schlimmeres.«
Tyark hoffte im Stillen, dass Pereo recht behalten würde.
***
Obwohl Tyark beim Einschlafen ein unbestimmtes Gefühl von Angst verspürte, träumte er die nächsten zwei Nächte nicht von ihr. Seine Träume waren allerdings chaotisch und oft genug erwachte er schweißgebadet mitten in der Nacht. Doch es waren wohl nur die üblichen Alpträume über seine Flucht. Manchmal meinte er vage Erinnerungen daran zu haben, das Gesicht Mayras gesehen zu haben. Doch rasch verwischte er diese Erinnerungen. Tote sollten ruhen und nicht bei den Lebenden umherwandern! Doch gerade die wilde Einsamkeit der Berge erzeugte eine manchmal nur schwer zu ertragende Sehnsucht in ihm.
Auch Zaja schlief unruhig, oft genug jammerte sie im Schlaf und manchmal stöhnte sie leise. Tyark beobachtete sie dabei still und beschloss, dass es vielleicht besser war, sie allein mit ihren eigenen Dämonen ringen zu lassen.
Der Jäger Jobdan war am Tag nach ihrer Besprechung mit Mandolf wieder in den südlichen Wäldern verschwunden und so mussten sie fast zwei Tage warten, bis er wieder im Dorf auftauchte.
Es war an einem schwülwarmen Spätsommerabend, als sie Jobdan in einer kleinen, zur Schankstube umgebauten Hütte aufsuchten. Die Anfeindungen der Dorfbewohner gegenüber Zaja waren in letzter Zeit etwas abgeflaut, allerdings fluchten einige immer noch hinter vorgehaltener Hand, sobald sie sie erblickten. Zaja ließ sich nichts anmerken, selbst als einer der Bauern ihr gut hörbar hinterherrief, was hierzulande mit diebischen Hexen zu tun gepflegt wurde.
Zajas einzige Reaktion war gewesen, ihre Kapuze tiefer ins Gesicht zu ziehen, aber ihr Gesicht verriet eine tiefe Verletzung über diese boshaften Worte. Bei dieser Gelegenheit war Tyark aufgefallen, dass es ihm zunehmend leichter fiel, in den Gesichtern der Menschen zu lesen. Es war ihm zwar schon früher recht leicht gefallen, aber seit einigen Tagen erschienen ihm die Gesichter die Bewohner Schwarzbachs nicht nur immer vertrauter, sondern geradezu wie Bücher.
Verletzungen konnte er darin erkennen, Freuden – heimliche wie auch offensichtliche –, Ängste und Gedanken.
Auch Zaja war aufgefallen, dass er offensichtlich eine ungewöhnliche Art an sich hatte, jemanden anzuschauen. Zwei oder drei Mal hatte sie ihn bereits darauf angesprochen, dass er neuerdings eine, wie sie es ausdrückte, intensive Art hätte, in die Gesichter der anderen Menschen zu schauen – und dass ihr dieser Blick manchmal sogar irgendwie unangenehm sei.
Tyark wunderte sich heimlich. Es schien ihm fast, als wäre eine Gabe in ihm erwacht, von der er vorher nicht einmal eine Ahnung gehabt hatte! Auf geradezu spielerische Weise war er fasziniert von seinen Fähigkeiten. Allerdings gab es einige Menschen, die für ihn so undurchdringlich waren wie eh und je – Mandolf, dessen Vater und Bertold – einer der Waldbauern – gehörten dazu. Sie erschienen ihm wie steinerne Abbilder, er konnte nur darin erkennen, was offensichtlich war.
Und auch Pereos versteinertes Gesicht verriet ihm nichts. Es war, als sei hinter der narbigen Maske eine Dunkelheit, die Tyark nicht zu durchdringen mochte. Er hatte auch mitbekommen, dass Pereo beim Schmied eingezogen war – es hatte wohl Streit mit seiner Halbschwester gegeben. Tyark wusste allerdings nicht, warum der Krieger von seiner Verwandten aus dem Haus verbannt worden war und er traute sich auch nicht, zu fragen.
Als die drei die Schankstube betraten, sahen sie neben dem Schmied noch vier weitere Bauern, die in Gespräche vertieft waren und an ihren Schwarzbieren nippten. Humbor begrüßte Pereo mit einem Kopfnicken und hob einladend seinen Krug, was Pereo aber durch ein kurzes Kopfschütteln verneinte.
Erin, der Gerber, war der Schankwart und nickte ihnen ebenfalls zu, als sie den durch Kerzen und eine rußige Feuerstelle spärlich beleuchteten Raum betraten. Sie brauchten einen Augenblick, um Jobdan zu entdecken – dieser saß in der dunkelsten Ecke des Raumes und schien sich förmlich an seinem Tonkrug festzuhalten. Während Pereo bei Erin Bier bestellte, setzten sich Tyark und Zaja zu Jobdan an den Tisch. Wie Tyark feststellte, war auch Jobdan nicht schwer zu lesen, wie er es mittlerweile nannte. Seine Augen starrten sie müde und rot unterlaufen an, als sie sich an den Tisch setzten. Es wirkte fast so, als ob Jobdan schon einige Zeit nicht mehr geschlafen hätte, tiefe dunkle Augenringe verstärkten diesen Eindruck noch. Sein Gesicht wirkte eingefallen und bleich, die dunklen Haare waren strähnig.
»Was wollt ihr?«
Tyark begrüßte Jobdan höflich und erklärte dann: »Wir sind hier, weil wir deine Hilfe brauchen. Wir wollen ...«
»Ins Hochgebirge.«
Jobdan trank einen tiefen Schluck aus seinem Krug und sprach dann weiter: »Es ist bereits Dorfgespräch. Aber ich muss euch enttäuschen: Die Suche nach den Kindern ist vollkommen sinnlos. Sie sind tot. Oder Schlimmeres. Wir haben nach ihnen gesucht, viele Tage lang. Nur die Großen Alten wissen, was Rynn mit dem armen Kleinen gemacht hat, dieser verfluchte Bastard.«
Mit einer abfälligen Geste in Richtung Zaja fuhr er fort: »Wie ich sehe, schickt der Orden einen weiteren seiner Diener. Willst du nun den Rest von uns auch noch fortbringen? In die Berge? Zu ...«
Er vollendete den Satz nicht und machte eine abweisende Geste.
Tyark bemerkte ein kaum spürbares Beben in Zajas Stimme, als sie leise sagte: »Ja, der Orden hat mich geschickt, um zu überprüfen, was hier – vorgeht. Falls ein Verbrechen vorliegt, bin ich befugt, dem Obersten in Lindburg Bericht zu erstatten und weitere Maßnahmen anzufordern. Aber ich versichere dir, dass ich genauso betroffen bin, wie alle anderen hier! Und du kannst mich nicht für die Verbrechen eines anderen verantwortlich machen. Ich bin bereit, für seine Sünden zu büßen, wenn dadurch auch nur eines der Kinder gerettet werden könnte!«
Den letzten Satz sprach sie betont laut und Tyark war sicher, dass er seine Zuhörer finden würde. Jobdan schnaufte nur leise und klammerte sich fester an seinen Krug. Pereo setzte sich nun ebenfalls zu ihnen und begrüßte Jobdan mit kräftiger Stimme und schob ihm einen weiteren Krug zu. Dieser zögerte kurz, nickte dann aber doch und sagte leise: »Ich verstehe eure Gründe und ich halte sie für ehrenvoll. Wenn auch vergeblich! Dort oben fällt es erwachsenen Männern schwer zu überleben, eine Schar Kinder ist unweigerlich dem Tod geweiht! Seit sie verschwunden sind, gehe ich nicht mehr ins Hochgebirge jagen. Der verfluchte Bruder des Ordens soll dort oben meinetwegen verfaulen. Wenn ihr ihn dennoch suchen wollt, habt ihr mein Mitgefühl. Aber mehr könnt ihr nicht von mir verlangen.«
Mit einem tiefen Zug trank er seinen Krug aus und fischte nach dem neuen. Pereo schien nach den geeigneten Worten zu suchen, als Tyark, der Jobdan die ganze Zeit aufmerksam beobachtet hatte, anfing zu sprechen: »Du hast Angst.«
Tyark bemerkte, wie Pereo und Zaja überrascht ihre Gesichter zu ihm wandten. Jobdan setzte den neuen Krug ab und entgegnete zornig: »Angst? Ich habe mein ganzes Leben in diesen Wäldern und dem Hochgebirge verbracht! Ich habe keine Angst davor, aufzubrechen! Nur denke ich, dass es sinnlos ist! Ich ...«
Tyark unterbrach den Jäger und ließ sich von seiner Intuition leiten, die ihm in diesem Moment so unheimlich wie vollkommen richtig erschien: »Du hast keine Angst vor dem Hochgebirge. Du hast Angst vor etwas, das du dort gesehen hast. Und du hast Angst, wieder Verantwortung für ein Leben, vielleicht sogar einen Tod, übernehmen zu müssen.«
Zaja öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch schloss ihn dann wieder wortlos. Pereo kratzte hörbar seinen Bart, doch auch er sagte nichts.
Jobdan schaute Tyark mit wässrigen Augen an und sagte lange Zeit nichts. Plötzlich begann er zu schluchzen und vergrub sein Gesicht in den Händen. »Ich wollte nicht, dass Berens stirbt, er war mein Freund! Ich hätte alles getan, um ihn zu retten! Alles! Aber ...«
Er sprach nicht weiter und Tyark fragte leise: »Was hast du gesehen, Jobdan? Erzähle es uns!«
Jobdan wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und begann mit brüchiger Stimme zu erzählen. Er sprach lange, nur unterbrochen von einigen wenigen Schluchzern.
Sie erfuhren, dass Jobdan mit seinem Freund Berens tagelang im Hochgebirge unterwegs gewesen war. Die ersten Suchen nach den Kindern waren allesamt erfolglos geblieben und so waren die beiden aufgebrochen, einen letzten Versuch zu starten. Zunächst hatten sie angenommen, dass der Bruder die Kinder unmöglich so weit ins Hochgebirge hatte bringen können. Doch am vierten Tag ihrer Suche hatte Jobdan in einer schlammigen Senke den kaum noch zu erkennenden Fußabdruck eines Kindes gefunden. Das raue Wetter hatte den Abdruck fast vollkommen unkenntlich gemacht, doch Jobdan war sich sicher, dass die Kinder hier vorbeigekommen sein mussten. Allerdings war vollkommen unklar, was Rynn soweit im Hochgebirge gesucht hatte und wie er es mit so vielen Kindern den Aufstieg überhaupt geschafft haben konnte! So weit oben waren keine Siedlungen zu finden, höchstens einsame Niederlassungen von verzweifelten Glücksrittern, die im Sommer im Gebirge nach wertvollen Erzen, Gold, oder, je nach Grad der bitteren Armut, aus der sie vielleicht stammten, irgendwelchen alten Schätzen längst vergangener Völker suchten.
Die Nächte waren kalt gewesen, selbst für das Hochgebirge, auch schien es Jobdan und Berens, als ob ihnen schon seit Tagen irgendetwas folgen würde. Berens hatte eines Morgens in der Nähe ihres Lagers Wolfsspuren gefunden und so waren sie auf der Hut, als sie immer weiter ins Hochgebirge stiegen.
Schließlich beschlossen sie, zu einem festen Lager vorzustoßen, das im Sommer von einigen wagemutigen Glücksrittern benutzt wurde und an einen alten Stollen grenzte.
Am Nachmittag des fünften Tages ihrer Suche begann das Wetter plötzlich umzuschlagen. Sie schafften es gerade noch, unter einem Felsvorsprung Schutz zu suchen, als ein heftiges Unwetter niederging, wie es beide noch nie erlebt hatten. Es blitzte und donnerte ohne Unterlass und schon bald war der Boden von großen Hagelkörnern übersät.
Sie hockten bereits seit mehreren Stunden zusammengekauert und bald völlig durchnässt unter dem Vorsprung, als ein ohrenbetäubendes Grollen zu hören war. Beide wagten es nicht, den Vorsprung zu verlassen und warteten daher, bis das Unwetter sich beruhigt hatte. Als sie die schützende Felswand verlassen hatten, sahen sie, was das Grollen ausgelöst hatte: Durch das Unwetter war ein großer Teil der Bergflanke herabgerutscht und hatte auch Dutzende der uralten Bäume einfach umgeknickt oder gleich mit sich gerissen. Gewaltige Felsbrocken mussten wie alles zermalmende Mühlsteine den Hang herunter gerollt sein. Nur durch eine glückliche Fügung waren sie einem schrecklichen Unglück entgangen!
Für Jobdan war dies im Rückblick aber bereits ein schlechtes Omen gewesen – für ihn war klar, dass sie beide hätten umdrehen sollen. Aber sie hatten die Suche nicht abbrechen wollen und da eine Umgehung des Felssturzes einen Umweg von ein oder zwei Tagen bedeutet hätte, hatten sie begonnen, über den Felsrutsch weiterzuklettern. Das Ganze war ein heikles Unterfangen, da wenige Dutzend Meter entfernt ein steiler Abgrund in die Tiefe fiel und jedes Ausrutschen auf den feuchten, lockeren Steinen würde fast unweigerlich den Tod bedeuten.
Doch beide waren geübte Kletterer und so hatten sie wenig Mühe, eine einigermaßen sichere Passage zu finden. Etwa in der Mitte des gewaltigen Geröllhaufens hatte Berens seinen Freund dann darauf aufmerksam gemacht, dass mitten im Schutt ein dunkles Loch gähnte.
Vorsichtig hatten sie sich genähert und schon bald gesehen, dass durch den Felssturz anscheinend ein Gang offengelegt worden war, der tief in den Fels zu führen schien. Die beiden Freunde hatten ein mulmiges Gefühl, als sie in die Dunkelheit blickten. Es war Jobdan gleich so vorgekommen, als lauere dort etwas in der Dunkelheit und würde mit leeren Augenhöhlen ihnen entgegenstarren.
Der Jäger erinnerte sich auch daran, wie kalt ihnen beiden geworden war, als sie vor dem Höhleneingang verharrten – als stünden sie im eiskalten Atem eines der Riesen aus grauer Vorzeit. Sie beschlossen, ihre Kletterpartie fortzuführen und es wäre ihnen wohl auch geglückt, wenn Berens nicht auf einmal überrascht aufgeschrien und Jobdan zugerufen hätte, dass er soeben das Weinen von Kindern aus dem Gang gehört habe! Jobdan war einige Meter hinter seinem Freund und hatte nichts gehört – doch bevor er überhaupt richtig begriffen hatte, was sein Freund da gesagt hatte, war dieser bereits damit beschäftigt, in den Gang zu klettern und war auch bald darin verschwunden.
Jobdan hatte einige Male den Namen seines Freundes gerufen, doch da er keine Antwort erhalten hatte, hatte auch er begonnen, in den dunklen Gang hineinzukriechen. Er sah seinen Freund vor sich in der Dunkelheit. Immer wieder hatte Berens aufgeregt gerufen, er würde das Weinen von Kindern vernehmen.
Jobdan hatte sich angestrengt, doch bis auf die Geräusche seines Freundes hatte er einfach nichts hören können.
An dieser Stelle der Erzählung hatte der Jäger sichtliche Mühe, weiterzuerzählen und erst das restliche Schwarzbier konnte ihn dazu bewegen, fortzufahren.
Nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, war ihm klar gewesen, dass dies keine natürliche Höhle sein konnte. Die Wände waren durch sorgsam behauene Stützpfeile unterbrochen und auch der Boden war nur am Eingang roher Stein, dahinter schien auch er sorgsam geglättet.
Jobdan war sofort klar gewesen, dass dies ein Ausläufer einer alten Nihilim–Festung sein musste – und ihm war auch klar, dass sie keinesfalls unüberlegt vorgehen dürften! In diesen alten Festungen drohten ganz eigene Gefahren und schon so mancher war vollkommen irrsinnig geworden, nachdem er sich in den zahllosen Kammern und labyrinthischen Gängen verirrt hatte.
Doch Jobdans Freund Berens schien alle Lehren vergessen zu haben und lärmte und rief weit im Dunkel vor Jobdan nach den Kindern.
Dieser hatte sich derweil mühsam vorgetastet und dabei immer stärker das Gefühl bekommen, dass der Gang weniger einem Gang als einem riesigen Maul glich, welches sie beide gerade verschlungen hatte. Und er spürte etwas im Gang vor sich, da wo er seinen Freund hören konnte. Fast schien es, als ob die Dunkelheit am Ende des Ganges dunkler zu sein schien, als sie es hätte sein dürfen ...
Noch während Jobdan mit zunehmender Verzweiflung seinen Freund zu warnen versuchte, spürte er, wie etwas vor ihm ihn beobachtete. Leise hatte Jobdan ihnen erzählt, dass er auch jetzt noch jede Nacht von diesem Blick träumte – ein Blick aus leeren Augen, der an seinem Verstand zu fressen schien.
Dann hatte er plötzlich nichts mehr gehört: Das Rufen seines Freundes hatte aufgehört und vor ihm war nur Finsternis und unheimliches Schweigen.
An dieser Stelle war den Zuhörern klar geworden, weshalb Jobdan das Gefühl hatte, seinen Freund regelrecht verraten zu haben: Er hatte beschlossen, nicht weiter in die Dunkelheit vorzustoßen, sondern war, halb von Sinnen, umgekehrt und nach draußen gehastet. Obwohl er sich dabei seinen Kopf schlimm an der niedrigen Decke aufgestoßen hatte – eine Narbe auf seiner Stirn zeugte noch davon –, hörte er nicht auf, dem hellen Fleck am Ende des Ganges entgegenzurennen. Er hatte gespürt und einfach gewusst, dass etwas hinter ihm her war. Etwas, das nicht nur seinen Freund gefressen hatte, sondern nun sein Werk vollenden wollte. Etwas, dass nicht zulassen konnte, dass Jobdan seine Flucht glückte.
Er hatte nicht gewagt, nach hinten zu blicken und konnte nur von der vagen Erinnerung berichten, dass er das Gefühl gehabt hatte, dass sich die Schatten hinter ihm bewegt hätten: Es war, als seien unzählige Schlangen hinter ihm durch die Dunkelheit gekrochen – immer wieder wiederholte er seinen Eindruck eines dunklen Blickes, welcher sich brennend in seinen Rücken bohrte.
Irgendwie hatte er es aber dann doch geschafft, sich dem trüben Tageslicht entgegenzuwerfen und war dann mehr rutschend als kletternd auf die Seite des Hanges zurückgekehrt, von der sie vor Kurzem aufgebrochen waren.
Mit einem Blick, der durch die Wände der Schenke hindurchzublicken schien, beendete Jobdan seine Erzählung: »Ich wusste, ich war diesem Ding entkommen. Was auch immer dort in diesem alten Stollen gehaust hatte!
Doch noch während ich überlegte, wie ich Berens aus diesem Loch retten konnte, sah ich ihn. Er stand plötzlich am Ausgang und schien in das Licht zu blinzeln. Ich habe ihn natürlich sofort nach ihm gerufen, die Seele habe ich mir aus dem Leib gebrüllt! Aber er hat einfach nicht reagiert! Er stand nur da und hat sich umgeschaut, als würde er das Gebirge zum ersten Mal sehen. Ich konnte seine Augen nicht sehen, aber es war fast so, als ob er mich nicht sehen würde.«
Er fing wieder an zu Schluchzen, auch wenn er keine Tränen mehr übrig hatte. »Und dann ging er einfach los! Als ob er einfach mal spazieren geht, schlidderte und stolperte er das Geröllfeld runter, auf diesen Abgrund zu! Ich schrie und schrie, warf sogar Steine nach ihm, doch ich habe ihn nicht getroffen. Er lief einfach weiter und – dann war er einfach weg. Er hat die ganze Zeit keinen Ton von sich gegeben. Und was mich völlig verrückt macht: Ich könnte schwören, dass bis zuletzt ein Lächeln auf seinem Gesicht gelegen hat – selbst in dem Moment, in dem er in den Tod stürzte!«
Die anderen Besucher der Schankstube waren in der Zwischenzeit zum Tisch Jobdans hinzugetreten und waren in dunklem Schweigen verharrt.
Mit geröteten Augen blickte Jobdan in die Runde und sagte dann: »Ich habe meinen Freund verraten. Und ich habe nichts getan, als er einfach so in den Abgrund spaziert ist. Jede Nacht sehe ich ihn fallen und jede Nacht spüre ich diese Dunkelheit in mir, die mir sagt, dass ich Schuld daran bin.«
Während er schwankend vom Tisch aufstand fügte er noch kaum hörbar hinzu: »Manchmal sehe ich mich auch selbst fallen, während Berens lächelnd am Ausgang dieses Stollens steht – und es kommt mir richtig vor. Geht nicht ins Hochgebirge. Da oben gibt es nur den Tod.«
Schwankend verließ er die Schänke und ließ den Rest der Besucher schweigend zurück. Während Tyark und Pereo sich unsicher anschauten, drängte sich Zaja durch die Umstehenden hindurch und lief hinter Jobdan in die Nacht hinaus.
Nach und nach verließen alle bis auf den Wirt, Pereo und Tyark die Schankstube. Sie waren sich unsicher, was sie von dem gerade Gehörten halten sollten. Vielleicht hatte sich Jobdan den Kopf zu stark angestoßen? Warum sollte sich Berens freiwillig – und lächelnd! – in den Abgrund stürzen?
Pereo murmelte nicht recht überzeugt: »Vielleicht hat sich Jobdan das auch nur eingebildet. Und glaubt jetzt selbst daran? Ich habe das schon bei gestandenen Soldaten gesehen. Manche drehen einfach durch, wenn sie Furchtbares erleben.«
Tyark stimmte ihm zu, auch wenn er sich nicht sicher war, ob Jobdan nicht vielleicht doch genau das berichtete hatte, was ihm und seinem Freund zugestoßen war. Gerade die durchbohrenden, leeren Augen waren ihm schrecklich vertraut vorgekommen und mit Gänsehaut auf dem Rücken hatte er an die Frau denken müssen. Waren ihre Augen nicht auch wie eine dunkle, verschlingende Flut gewesen, die an seiner Seele gerissen hatte?
Tyark ertränkte seine Erinnerungen hastig in Riesenbräu und Pereo half ihm dabei.
Als er sich später betrunken und schlecht gelaunt in sein Nachtlager zurückgezogen hatte, trat Zaja in den Raum. Ihr Gesicht wirkte älter, Schatten hatten sich unter ihre Augen gelegt.
Sie nickte ihm zu, als sie sich mit einem schweren Seufzer auf ihr Nachtlager fallen ließ. Unsicher fragte Tyark sie: »Jobdan?«
Zaja verzog ihre Mundwinkel, zog die Kapuze zurück und strich sich mit der Hand über ihren kahlen Schädel, auf dem sich die ersten Stoppel von nachwachsenden Haaren bemerkbar machten. Sie brauchte eine Weile, bis sie antworten konnte: »Ja, ich war die ganze Zeit bei ihm. Diese arme Seele! Er hat noch viel geweint und noch einige Male die Geschichte wiederholt, die er auch in der Schankstube erzählt hat. Ich war bei ihm und habe versucht zu verhindern, dass sich zu große Verzweiflung in seiner Seele festsetzt. Es war wirklich wichtig, dass er darüber sprechen konnte – was auch immer dort oben passiert ist, es hat ihn zutiefst erschüttert.
Ich habe die Großen Alten darum gebeten, seine Seele zu stützen und dann zusammen mit Jobdan gebetet.«, sie seufzte, »Ich denke, es hat ihm gut getan. Bevor er einschlief hat er mir noch gesagt, dass er es sich nun doch noch überlegen wolle, uns ins Hochgebirge zu begleiten.«
Sie lächelte Tyark an und sagte mit ehrlicher Bewunderung in der Stimme: »Es war wirklich erstaunlich, wie du vorhin genau wusstest, was diesem armen Mann auf der Seele lag, wirklich! Ich meine, der Orden ist auch sehr bemüht, die Seele eines Menschen rein zu halten. Alle Brüder und Schwestern werden ausgebildet, die Winkel und Verzweigungen der Seele kennenzulernen. Ich selbst hoffe, irgendwann die meisten Krankheiten der Seele erkennen und heilen zu können. Aber der Grad deiner Intuition ist wahrhaft erstaunlich!«
Sie blickte ihn forschend an und aus irgendeinem Grund hatte Tyark Angst, ihren Blick zu erwidern. Er blickte in die Glut der Feuerstelle und sagte: »Ich kannte einen ähnlichen Fall von einem alten Freund in meiner Heimat. Daher wusste ich gut, was Jobdan spürte ...«
Noch während er darüber nachdachte, weshalb er Zaja angelogen hatte, wandte sie sich mit einer entschuldigenden Geste ab und begann, sich in ihre Decke einzuwickeln. »Vielleicht unterhalten wir uns besser ein anderes Mal darüber, Tyark. Ich bin sehr erschöpft – dieser Mann hat viele schreckliche Dinge erlebt in den letzten Wochen. Ich hoffe sehr, dass wir die Kinder finden, besonders für ihn.«
Sie zögerte und fuhr dann leise fort: »Oder zumindest herausfinden, was passiert ist.«
Tyark spürte, wie verletzlich Zaja in ihrem Inneren in Wirklichkeit war und hielt vorsichtig ihre kalte Hand. Nach wenigen Augenblicken zog sie ihre Hand zurück – ihr Blick aber war voller Dankbarkeit.
Sie sprachen nicht mehr weiter miteinander und schon bald senkte sich die Decke des Schlafes über sie beide.
***
Als Tyark die Augen aufschlug wusste er sofort, dass er sich wieder im Zwielicht befand. Es wirkte beinahe vertraut und auch die durchscheinenden Körper am Boden der Hütte lösten nun kaum noch Beklemmungen in ihm aus.
Er trat aus der Hütte hinaus und betrachtete eine Weile die am Himmel vorbeifliegenden Wolkenfetzen. Warum war gerade er hier? Und warum hatte er sich früher noch nie an einen solchen Ort verirrt? Hatte er sich überhaupt verirrt oder vielmehr hierher gefunden?
Den Kopf voller Fragen begann Tyark, die seltsam blass wirkenden Wege des Dorfes entlangzulaufen. Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen: Vor ihm stand ein großer, weißer Wolf. Voller Panik griff seine Hand an seinen Gürtel, doch kein Schwertgriff war zu finden. Der Wolf blickte ihn an. Tyark begann, einige Schritte zurückzugehen, doch das gewaltige Tier machte keinerlei Anstalten, ihm zu folgen.
Tyark blieb stehen – etwas war seltsam an diesem Wolf. Und als er sich konzentrierte, konnte er es hören: Ein leises, fast unhörbares Wimmern schien von dem Tier auszugehen. Es kostete ihn einige Überwindung, langsam in Richtung des Wolfes zu gehen, doch mit jedem Schritt nahm seine Angst ab.
Dann sprang er plötzlich zurück. Denn von einem Moment auf den anderen stand sie an der Seite des Wolfes, den Blick in Richtung Dorfzentrum gerichtet, das Fell des Tieres mit einer zärtlichen Geste sanft streichelnd.
Tyarks Herz krampfte sich zusammen – während ein anderer Teil von ihm einen freudigen Stich in der Magengegend empfand und sofort zu ihr rennen wollte, sie umarmen, sie liebkosen ... er schloss die Augen, versuchte angestrengt, den Zwiespalt seines Herzens zu beruhigen, was ihm langsam, sehr langsam, schließlich gelang.
Als er die Augen wieder aufschlug, sah er, dass die Frau verschwunden war, das Tier stand noch immer an derselben Stelle. Sein Wimmern war nun wieder deutlich zu hören. Blickte es Tyark nicht sogar fast klagend an?
Vorsichtig trat er näher, das Herz voller Angst vor der Frau und gleichzeitig so voller Verlangen nach ihr.
Der Wolf war bei näherer Betrachtung seltsam unscharf, es schien fast so, als ob eine Art Schleier über ihm lag. Das helle Fell glänzte im Zwielicht und Tyark konnte mächtige Muskelpakete darunter ausmachen. Zitternd streckte er seine Hand nach dem Tier aus, nur ein leises Wimmern kam als Reaktion. Als er das Fell berührte, ging seine Hand glatt hindurch, nur kurz hatte er das Gefühl, das Fell wirklich zu berühren. Der Wolf zeigte keine Reaktion und Tyark zog die Hand schnell zurück.
Dabei bemerkte er im Fell des Halses halb verborgen ein dünnes Lederbändchen. Interessiert betrachtete er es näher, das Wimmern des Tieres wurde zu einem leisen Winseln. Tyark wusste plötzlich, dass er das Lederbändchen problemlos würde anfassen können. Daher überraschte es ihn nicht, als er seine Faust fest darum schließen konnte. Ein leichtes, stärker werdendes Kribbeln breitete sich in seine Hand aus und begann, sich in den Unterarm auszubreiten.
Etwas war an dem Lederbändchen befestigt. Er drehte das Halsband des Tieres vorsichtig um. Tatsächlich baumelte ein kleiner heller Stein am Bändchen, welches durch ein kleines Loch im Stein durchgezogen worden war. Der Stein war vielleicht so groß wie ein Kiesel, vollkommen glatt – und lag angenehm warm in seiner Hand. Als Tyark ihn näher betrachtete, stellte er fest, dass in dem funkelnden Steinchen eine kleine, dunkle Stelle war.
Wie ein Auge. dachte er unwillkürlich und fuhr zurück – seine Hand, in welcher der Stein gelegen hatte, war immer heißer geworden und fühlte sich nun fast verbrannt an. Verwirrt ließ er den Stein fallen.
Warum hatte dieses Tier diesen Stein um den Hals? Wer hatte ihn dort angebracht?
Plötzlich spürte Tyark wieder sie. Fast überzeugt davon, dass sie direkt neben ihm stehen würde, fuhr er um – nur um erleichtert und enttäuscht zugleich festzustellen, dass sie nicht zu sehen war. Was hatte die Frau vor? War sie wieder beim Alten?
Etwas in ihm flüsterte ihm zu, dass es diesmal nicht so sein würde – fast hatte er die dunkle Gewissheit, dass die Frau diesmal wegen etwas anderem gekommen war. Er ließ das immer noch leise winselnde Tier hinter sich und ging in Richtung der Dorfmitte, als wüsste er genau, wo sie zu finden sein würde.
Die Tür zu Mandolfs Haus stand weit offen. Tyarks Herz wurde plötzlich von wilder Angst erfasst, er wusste instinktiv, dass er sich beeilen musste.
Es überraschte ihn daher auch nicht, als er die Tür zu Mandolfs Kammer geöffnet sah. Vorsichtig näherte er sich der Kammer und blickte verstohlen um die Ecke. Und er sah sie. Wie zuvor bei Mandolfs Vater kniete die Frau vor dem Bett und hatte seinen Kopf in ihre zarten Hände genommen. Ihr Gesicht war nahe bei Mandolfs schemenhaftem Kopf und fast schien es, als spräche sie mit ihm – oder als ob sie ihn gar küssen wollte. Ein Teil von Tyark war sofort rasend vor Eifersucht, doch zu seinem Schrecken musste Tyark erkennen, dass dies kein Akt der Liebe war. Ihr Mund war halb geöffnet, ihre Augen, vor denen Tyark eine geradezu irrsinnige Angst hatte, waren geschlossen. Auch Mandolfs Mund war halb geöffnet und Tyark brauchte einige Augenblicke, um im Zwielicht zu erkennen, dass ein fast unsichtbarer Strom wie weißer Rauch aus Mandolfs Mund und Nase strömte. Gleich einem Strom aus Wasser bewegte sich der Rauch zu ihrem Gesicht, wo er ebenfalls in Mund und Nase verschwand.
Obwohl Tyark nicht verstand, was sie dort tat, spürte er deutlich, dass Mandolfs Leben in diesem Moment an einem seidenen Faden hing. Fasziniert und entsetzt zugleich beobachtete Tyark die Szene – und wieder spürte er, wie eine unglaubliche Zuneigung wie Wellen aus ihrer Richtung strömte. Und es fühlte sich darüber hinaus auch so an, als könne er ihre Gedanken irgendwie spüren. Als wüsste er, dass sie sich seiner Anwesenheit durchaus bewusst war.
So oder so – Tyark musste schnell handeln. Eine Welle von etwas erfasste ihn plötzlich, dass sein Verstand mühsam als Humor identifizierte – und das doch gleichzeitig alles andere war. Lachte sie etwa über ihn? Konnte sie seine Gedanken spüren?
Tyark entschied sich rasch. Er griff nach seinem Dolch und fand ihn glücklicherweise sofort. Erst später würde er sich darüber wundern, dass die Waffe plötzlich an seinem Gürtel gewesen war. Der Holzgriff lag angenehm in seiner Hand, bereit, genutzt zu werden. Tyark spannte seine Muskeln an und obwohl sie kaum einen Meter entfernt von ihm war, erschien es ihm wie eine Ewigkeit. Es kostete ihn starke Überwindung, überhaupt seinen Arm zu heben – die Waffe zum tödlichen Stoß bereit.
Ein Teil von ihm versuchte, dem Ganzen Einhalt zu gebieten – es fühlte sich an, als ob er gleich seine Mutter ermorden wollte. Oder Mayra. Oder jeden, den er jemals geliebt hatte und noch lieben wollte ... Tyark zögerte.
Die Frau hatte plötzlich den Kopf erhoben, ohne dass Tyark eine Bewegung wahrgenommen hätte. In ihrem Gesicht zuckte etwas.
Sie riecht mich wie ein Tier! dachte Tyark in einem Anfall von panischer Heiterkeit. Er zögerte noch immer, kalte Panik krallte sich in sein Herz.
Ruckartig bewegte sich die Frau. Eben hatte sie noch neben Mandolf gekniet, dann war sie plötzlich halb im Aufstehen begriffen. Nun stand sie vor Tyark. Ihr Kopf war seitlich nach unten geneigt, die Arme hingen schlaff an ihrem makellosen Körper herunter.
Irritiert nahm Tyark wahr, wie erregt er plötzlich war. Sie schnüffelte in verschiedene Richtungen. Dann hatte sie Tyark gefunden. Dieser zögerte weiter – ihr wunderbarer Körper war zum Greifen nah! Ihre Haut war so rein. Ihre dunklen Haare wehten wieder in dem Wind, den Tyark nie spüren konnte. Die Frau verströmte unglaubliche Verheißungen – und schien gleichzeitig in einem inneren Feuer zu glühen, als ob sie hohes Fieber hätte.
Tyark wurde heiß. Ein Teil von ihm verlangte, sich sofort mit ihr für immer zu vereinigen. Von ihr verschlungen zu werden, wenn das nötig war! Er rang mit sich selbst, doch diesmal gelang es ihm schneller, Herr seiner selbst zu werden.
Dann war das vollkommen perfekte Gesicht der Frau plötzlich nur noch eine halbe Armeslänge von seinem Gesicht entfernt.
Den Dolch hielt Tyark immer noch über sich. Bereit für den tödlichen Stoß. Die Frau öffnete ihre Augen und Tyark blickte ihr direkt ins Gesicht. Etwas in Tyark zerbrach in rasender Panik, sein Verstand drohte hinweggefegt zu werden von einem Sturm, der nicht in Worten beschrieben werden konnte. Da wo ihre Augen sein sollten, gähnten nur Löcher voll von strahlendem Licht. Doch es waren nicht einfach nur Löcher. Wo der Schädel beginnen sollte, war vollkommene Leere. Es schien, als ob pure Unendlichkeit im Kopf dieser Frau lag. Tyark spürte, wie sein Geist in diesen Kosmos hineingesogen wurde.
Die Hand der Frau bewegte sich mit rasender Geschwindigkeit auf ihn zu und blieb flach auf seiner Brust liegen. Sofort begann eine furchtbare Hitze sich in seiner Brust auszubreiten. Das Atmen fiel ihm schwerer und er spürte, wie sein Herz irgendwo weit weg stolperte – und dann immer langsamer schlug.
Tyark spürte instinktiv, dass sich in diesem Moment entscheiden würde, ob er weiterleben konnte oder von der Frau in Stücke gerissen würde.
Aus den Augenwinkeln sah er, wie ihre wunderschönen Haare sich wie von selbst ineinander verdrehten und vereinigten. Einzelne dickte Strähnen richteten sich bereits wie von Geisterhand auf und bewegten sich schlängelnd auf ihn zu. Wie schwarze Schlangen.
Tyark blickte auf den schlafenden Mandolf und wusste, dass dies seine einzige Gelegenheit sein würde, seine Tat zu vollenden. Er flehte die Großen Alten um Hilfe an – und endlich gelang es ihm. Als ob er gegen einen starken Wind angehen müsse, riss er mühsam seinen Arm herunter. Der Dolch war bereit, sich in den Hals der Frau zu bohren. Doch kurz bevor die Waffe auf den Hals treffen sollte, geschah etwas Merkwürdiges. Ein schwarzer Schatten löste sich aus der Gestalt der Frau und schlug mit rasender Geschwindigkeit gegen die Klinge. Tyark hatte das Gefühl, seine Hand in Feuer zu tauchen. Tyark verfehlte sein Ziel knapp. Statt in den Hals einzudringen, streifte die Klinge des Dolches ihn nur.
Der Griff brannte in seiner Hand wie ein Stück glühender Kohle und mit einem Schmerzensschrei ließ Tyark die Waffe los.
Die Frau wich einen Schritt zurück. Ein dünnes Rinnsal aus Blut rann ihr den Hals herab. Es leuchtete, als sei es flüssiges Feuer. Sofort durchfluteten bizarre Schuldgefühlte Tyark. Er stöhnte auf.
Die Frau stand einfach nur da – und weil Tyark seinen Blick immer noch auf Mandolf gerichtet hielt, spürte er nur, dass sie ihn immer noch anblickte. Ein Blick, der voller Zuneigung war, Liebe, selbstverständlichem Verzeihen. Ein Blick, der ihn gnadenlos in die Ewigkeit ziehen würde. Die Frau stand einfach nur da. Noch bevor Tyark weitere Schritte überlegen konnte, nahm er wahr, dass dieses eigentümliche Rauschen wieder diese Welt erfüllte. Bald darauf spürte er erleichtert, wie sich das Zwielicht auflöste und er von dem silbernen Faden zurück in seinen Körper gezogen wurde.
Das letzte Bild war das der Frau, wie sie vorwurfsvoll und auf seltsame Weise neugierig einfach nur dort stand, den Körper unnatürlich verrenkt, die Arme grotesk verlängert, so dass die langen und dürren Finger fast bis auf den Boden reichten. Ihre schlangenhaften Haare waberten durch das kleine Zimmer.
Tyark schlug die Augen auf und blinzelte in das Licht des anbrechenden Morgens. Regen trommelte gegen das Dach der Hütte, instinktiv griff er nach dem Orechalkum–Pflänzchen, welches er seit dem ersten Traum in seiner Tasche mit sich herumtrug. Dabei bemerkte er, wie sehr seine Brust schmerzte. Er blickte auf seine Hand, die den Dolch getragen hatte – es war keine Brandwunde zuerkennen, im Gegenteil: Erst jetzt bemerkte er, dass er kein Gefühl in der Hand hatte. Sie war so kalt, als sei sie in Eiswasser getaucht gewesen! Er rieb sie mit schmerzverzerrtem Gesicht und nur langsam kehrte das Gefühl zurück.
Mühsam richtete er sich auf – und zuckte zusammen als er sah, dass Zaja ihn auf die Ellenbogen gestützt aufmerksam beobachtete. Eilig sagte er: »Zaja, du bist ja auch schon wach! Es regnet mal wieder ...«
Er rang sich ein mühsames Lächeln ab. Zaja lächelte nur schwach zurück und fragte dann leise: »Wo bist du gewesen?«
Tyark fühlte sich wie ein ertappter Dieb, als er unbeholfen antwortete: »Ich? Was meinst du? Ich war die ganze Nacht hier! Ich habe direkt hier neben dir geschlafen? Was soll die Frage?«
Zaja machte keine Anstalten aufzustehen, sondern beobachtete ihn weiter mit ihren durchdringenden grünen Augen. Tyark wurde warm in der Brust.
»Wo bist du gewesen?«
Als Tyark sie achselzuckend anschaute sagte sie tadelnd: »Ich weiß, dass du die ganze Nacht neben mir gelegen hast. Und du weißt, dass ich nicht danach gefragt habe! Ich beobachte dich seit einiger Zeit, Tyark. Und ich bin ein sehr aufmerksamer Beobachter. Dein Körper mag hier gewesen sein – doch deine Seele ... ich weiß nicht, ob deine Seele auch hier war. Und etwas ist mit dir gerade passiert. Kurz bevor du aufgewacht bist.«
Ihre Stimme klang jetzt fürsorglich, jede Strenge war aus ihr gewichten.
Tyark spürte, dass ihre Anteilnahme und Sorge von Grund auf ehrlich waren. Er konnte ihrem Blick nicht länger standhalten und richtete sich auf.
Schmerzen zuckten durch seine Brust – dort, wo ihn die Frau berührt hatte.
Er fragte sich, ob er ihren Handabdruck auf seiner Haut sehen könnte ...
Er seufzte schwer und blickte Zaja an, deren helle, grüne Augen ihn immer noch aufmerksam beobachteten. Er setzte sich auf seine Decke und begann zu erzählen.
Während er Zaja von seinen Träumen, oder was auch immer sie waren, erzählte, flüchtete sein Blick unruhig die Wände entlang. Ein Teil von ihm fühlte sich immer noch schuldig. Schuldig, die Frau angegriffen zu haben. Schuldig, von ihr zu erzählen. Aber andererseits war es auch ein gutes Gefühl, jemand anderen an diesen Dingen teilhaben zu lassen. Tyark fühlte sich weniger allein, als Zajas Augen dieselbe Bestürzung und Sorge zeigten, die auch er im Herzen trug.
Die Sonne stand längst am Himmel, als er mit seinem Bericht schloss. Und obwohl er Zaja vertraute, hatte er bestimmte Dinge für sich behalten. Er hielt es für klug, nicht zu erzählen, dass ein Teil von ihm zu fast allem bereit gewesen war, um nur bei dieser Frau bleiben zu können. Auch von den brennenden Schulgefühlen erzählte er nichts. Und auch seinen letzten Eindruck, den er im Blick dieser Frau gehabt hatte, teilte er nicht mit seiner Gefährtin: In all dem chaotischen Dunkel, dieser entsetzlichen Leere mit ihrem grausamen, alles ausfüllenden Bewusstsein hatte er etwas wahrgenommen, das er erst jetzt richtig einordnen konnte. Wie ein glimmender Funke in tiefer Dunkelheit hatte er etwas in der Frau gespürt. Etwas, das nicht dorthin zu gehören schien. Ein warmer Funke inmitten einer eiskalten Finsternis. Während er darüber nachdachte, wurde ihm klar, dass dieser Funke etwas war, das sich geradezu menschlich angefühlt hatte. Und ein sehr menschliches Gefühl füllte diesen Funken vollständig aus: Eine abgrundtiefe Traurigkeit. Das Gefühl eines unaussprechlichen Verrats.
Mit brüchiger Stimmte sagte Zaja schließlich: »Ich danke dir, dass du mir so vertraust! Und dass du mir dies alles erzählt hast. Wir sollten das allerdings vorerst für uns behalten. Sobald wir in Lindburg sind, müssen wir in dieser Sache zu meinem Magister gehen und ihm berichten, was du erlebt hast!
Du musst wissen, Traumreisen sind dem Orden wohlbekannt und meist sind sie wohl nur ein Weg, mit eigenen, oft verborgenen, Gefühlen und Wünschen umzugehen. Allerdings –«, ihr Blick wanderte suchend durch den Raum »weiß ich, dass es auch Reisen des Geistes geben soll, die weit über das hinaus gehen, was wir unter einem Traum verstehen. Es sind Visionen, die uns von den Großen Alten gesandt werden! Ich wünschte, Bruder Goswin wäre hier!«
Sie seufzte und nahm Tyarks Hand.
»Jedenfalls glaube ich jetzt, dass diese Frau«, Tyark spürte einen Schauder auf seinem Rücken, »die Ursache für das ist, was hier geschehen ist! Was, wenn sie mit Rynn dasselbe getan hat, was sie mit dem armen Vater von Mandolf getan hat? Was, wenn die Entführung der Kinder auf sie zurückzuführen ist!«
Sie war aufgeregt aufgesprungen und begann, in der niedrigen Hütte auf und ab zu laufen. »Wir müssen deinen Träumen nachgehen, unbedingt! Auch wenn es dir gefährlich scheint – gib nicht auf! Vielleicht kannst du ja mit der Frau irgendwie ... reden? Sie fragen? Falls du sie nicht bereits tödlich verwundet hast!«
Tyark legte seinen Kopf auf die Seite. Er verstand die Hoffnung Zajas, dass die Frau wusste, was hier geschehen war – wenn sie nicht sogar selbst dafür verantwortlich war. Es erschien immer klarer zu sein, dass sie der Schlüssel zu diesem Rätsel war.
Doch daran, dass er sie ernsthaft verwundet hatte glaube er nicht. Als der Dolch sie verletzt hatte, war neben dem Gefühl von Hitze, das sich nach dem Aufwachen als betäubende Kälte entpuppt hatte, allerdings auch ein Gefühl von Überraschung zu spüren. Vielleicht hatte sie selbst nicht daran geglaubt, dass Tyark irgendetwas ausrichten konnte? War dies tatsächlich eine Chance?
Zaja blieb abrupt stehen und sagte schnell: »Bei den Alten! Wir sollten zu Mandolf gehen und schauen, ob es ihm gut geht! Schnell!«
Beide zogen rasch ihre Gewandung an und eilten zu Mandolfs Haus. Und als hätte er sie bereits erwartet, stand sein greiser Vater bereits mit hochrotem Kopf und einem Knüppel in der Hand davor. Begleitet wurde er von zwei grimmig aussehenden Bauern mit Mistgabeln.
Hastig blieben sie stehen und erneut verfluchte sich Tyark, keinen Dolch bei sich zu haben. Zaja richtete ihre Kleidung und zog sich dann die Kapuze ins Gesicht, ihr Blick war glasig.
»Dort! Die Hexe! Sie ist schuld! Mein Sohn ist schwer erkrankt durch ihren verdorbenen Zauber!«
Tyark verspürte einen Stich im Magen – also war es bereits zu spät! Der geifernde Alte blieb einige Meter vor ihnen stehen und schrie sie mit zugekniffenen Augen an. Zaja versuchte zunächst, den Alten zu beruhigen, gab dieses Unterfangen aber bald auf.
Einer der Bauern war um sie herumgegangen und griff nach Zajas Arm. Mit einer gewandten Bewegung riss sie sich aus seinem Griff heraus. Noch bevor der Bauer überhaupt verstanden hatte, was geschehen war, hatte Zaja ihm die Mistgabel entwendet. Der Bauer wich wütend zurück, als die Spitzen seiner Waffe plötzlich auf seinen eigenen Hals zeigten. Der Alte hörte schlagartig auf zu geifern und er machte Anstalten, Zaja mit seinem Knüppel niederzuschlagen.
Tyark bemerkte ein unangenehmes Lächeln, das sich um den zahnlosen Mund gelegt hatte. Das Gesicht des Greises wirkte eher wie eine fratzenhafte Maske als ein menschliches Antlitz. Für einen kurzen Moment meinte Tyark, sie darin zu sehen.
Die Situation eskalierte schnell und Tyark war sich sicher, dass dies kein unglücklicher Zufall mehr sein konnte. Schnell machte er einen Schritt auf den Greis zu und hielt den Knüppel fest in den Händen, so dass dieser nicht mehr zuschlagen konnte.
»Lass mich los! Du bist sonst genauso schuldig wie diese kindermordende Hexe! Brennen muss sie! Brennen! Wie in den alten Zeiten ...«
Weißer Speichel flog aus dem Mund des Greises, der in geradezu ohnmächtiger Wut versuchte, den Knüppel aus Tyarks Griff zu befreien. Und dabei immer noch Reste dieses boshaften Lächelns in seinen Mundwinkeln trug.
Tyark konnte nicht erkennen, was die beiden Bauern in seinem Rücken unternahmen, aber auf Grund Zajas Reaktionen nahm er an, dass sie diese noch in Schach halten konnte. Fieberhaft überlegte er, was er tun konnte.
»Vater! Was ist hier los?! Lass unsere Gäste in Frieden!«
Mit unendlicher Erleichterung sahen sie, wie Mandolf in eine Decke gewickelt aus dem Haus trat. Seine Schritte waren unsicher und Tyark sah, wie schwach Mandolf war.
Der Alte ließ den Knüppel sinken und einen kurzen Moment konnte Tyark Enttäuschung in seinem blassen Blick sehen. Dann wandte sich der Greis um und ging freudestrahlend auf seinen Sohn zu: »Mandolf! Mein Junge! Was bin ich froh – ich ... ich war sicher, die Hexe hätte dich heute Nacht geholt! Du warst weiß wie Schnee! Und ich habe dich nicht wachbekommen!«
Beide umarmten sich. Mandolf nickte Zaja und Tyark dabei zu. Zaja warf dem verdutzten Bauern seine Mistgabel vor die Füße und schickte ein Stoßgebet zu den Großen Alten.
Tyark war immer noch angespannt, als sie später mit Pereo zusammen auf einem der abgeernteten Felder standen, welche an das Dorf grenzten.
Mandolf war immer noch sehr bleich, aber er hielt sich standhaft.
Mit Blick auf die Riesengrate sagte er: »Es ist gut, dass ihr morgen alle aufbrecht. Mir geht es jetzt zwar wieder etwas besser, aber mein Vater ... nun, ihr habt ihn heute Morgen ja gesehen.«
Auf Pereos erstaunten Blick antwortend sagte er: »Ja, er ist sonderbar geworden. Wir haben ja bereits darüber gesprochen. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn ich nicht rechtzeitig wieder wach geworden wäre!«
Sie wechselten noch einige Worte, doch Mandolf gab bald zu verstehen, dass er sich zu schwach fühlte, um weiterhin draußen herumzustehen. Er nickte ihnen zum Abschied noch einmal zu und kehrte dann ins Dorf zurück.
Pereo blickte Zaja und Tyark ernst an: »Der Verlust der Kinder wiegt schwer. Er macht die Menschen hier verrückt. Es wird Zeit, wir müssen gehen. Immer mehr meiner Leute scheinen zu denken, dass du eine Hexe bist, Zaja. Ich bin mit diesen Menschen aufgewachsen, doch manchmal glaube ich, sie nicht mehr wiederzuerkennen.«
Sein Blick wurde dunkel. »Lasst uns hoffen, dass in unserer Abwesenheit kein weiterer Ordensbruder hierher kommt.«
»Oder Schwester.«, fügte Zaja gedankenverloren hinzu.
Pereo nickte kurz. »Wir sollten unsere Ausrüstung überprüfen. Ich besorge bei Humbor Lederzeug für euch. Meine Halbschwester gibt uns einen Teil ihrer Wintervorräte mit ... sie rechnet nicht mehr damit, Arian, ihren Sohn, wiederzusehen ...«
Nach kurzem Stocken fuhr er fort: »Ruht euch gut aus, wir brechen im Morgengrauen auf.«
Pereo legte beiden seine schweren Pranken auf die Schultern und ging dann mit festen Schritten in Richtung der Schmiede fort.
Zaja blickte Tyark an, in ihren Augen lag Wut. »Wir müssen das hier beenden! Diese ... Frau, oder was auch immer sie ist, darf kein weiteres Unheil anrichten!«
Tyark stimmte ihr wortlos zu. Sie standen noch eine ganze Weile dicht beieinander und irgendwann lag Zajas Hand in der von Tyark. Vor ihnen ragten die Riesengrate majestätisch und bedrohlich zugleich in den grauen Himmel.