Читать книгу Weltenfresser - Veikko Päivinen - Страница 6

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Das Gesicht der Grate

Sie waren bereits einige Tage unterwegs. Und alle schienen erleichtert aufgeatmet zu haben, sobald die ärmlichen Hütten Schwarzbachs hinter ihnen im Wald verschwunden waren.

Jeder von ihnen hatte gespürt, dass etwas über dem Dorf zu schweben schien wie ein dunkler Schatten. Tyark verkrampfte sich der Magen bei der Vorstellung, diesem Schatten wahrscheinlich leibhaftig begegnet zu sein.

Mandolf und eine Handvoll Dorfbewohner hatten sie bald nach dem Aufstehen verabschiedet und ihnen viel Glück für die kommende Reise gewünscht. Mandolfs Vater war wiederum abseits gestanden und hatte außer Hörweite weiter Gift versprüht. Immer wieder hatte er dabei an das zarte Gesicht der Frau denken müssen – und wie es Unhörbares in die Ohren des Alten geträufelt hatte.

Aber das lag nun hinter ihnen und vor ihnen lag nichts als die Wildnis der Riesengrate. Trotz aller Trauer und Aufregung begann Tyark sich besser zu fühlen.

Die Bewegung tat ihm gut, sein Lederzeug schmiegte sich angenehm an ihn und behinderte ihn nicht. Humbor der Schmied hatte ihm sogar eine leichte Lederrüstung mitgegeben, die schwer an seinem Rucksack hing. Zaja hatte es abgelehnt, mehr als Arm– und Beinschienen zu tragen, zum völligen Unverständnis des Schmieds und Pereos. Doch nun ging sie leichtfüßig voran – und immer, wenn sie zum schwer dahinstapfenden Pereo hinter sich zurückblickte, meinte Tyark ein gewisses schelmisches Funkeln in ihren Augen lesen zu können.

Manchmal konnten sie schlecht ausgetretene Wege oder Wildpfade nutzen, oft aber mussten sie sich meist mühselig über Felsen, Geröll und dichtesten Wald kämpfen.

Tyark fragte sich immer öfter, wie es der Bruder mit den Kindern geschafft haben konnte, hier durchzukommen! Aber die Spuren hatten fraglos ins Hochgebirge gedeutet, auch wenn dies immer weniger Sinn zu ergeben schien. Was wollte Rynn dort oben bloß erreichen? Wofür brauchte er die Kinder? Tyark erschauderte.

Jobdan erwies sich als ausgezeichneter Kenner des Waldes und sie folgten der Route, die er vor einiger Zeit mit seinem Freund genommen hatte. Auf Grund des Bergsturzes plante Jobdan, eine Route unterhalb des fraglichen Passes zu nehmen und anschließend von der anderen Seite zu dem freigelegten Durchgang vorzustoßen, bei dem Jobdan seinen Freund verloren hatte. Zwar war diese Route einige Tage länger, allerdings wesentlich gefahrloser.

Nachts schliefen sie unter Felsvorhängen oder unter freiem Himmel. Das Wetter war bislang ausgezeichnet gewesen, so dass sie abends meist einen hervorragenden Blick auf das Firmament mit den funkelnden Großen Alten darin hatten. Ihre Götter schienen ihnen wohlgesonnen zu sein: Die Nächte waren zwar oft bitterlich kalt, aber dafür wärmte ihnen die Spätsommersonne rasch die Glieder wieder auf.

Am dritten Tag erreichten sie in den Fels gehauene Plateaus, welche zwar größtenteils durch die strengen Winter oder Felsstürze zerstört oder schwer beschädigt waren, aber immer noch deutlich erkennbar ins Hochgebirge führten. Auf Tyarks Nachfrage erklärte ihm Jobdan, dass dies Reste uralter Straßen der Nihilim seien, die auch nach all den Jahrtausenden immer noch erstaunlich gut erhalten waren. »Sie waren mit Sicherheit große Handwerker. Sie sollen den Graten unglaubliche Festungen abgerungen haben. Selbst der Palast des Kaisers soll dagegen geradezu eine kleine Hütte sein!«

Tyark verzog anerkennend sein Gesicht und fragte dann: »Was ist mit den Nihilim geschehen?«

»Hm ... da fragst du den Falschen. Ich weiß nur, dass sie vor undenkbar langer Zeit plötzlich verschwunden sind ...«

Er deutete mit dem Kopf in Richtung Zaja, die sofort begeistert den Faden aufnahm: »Ja, du hast Recht! In der Tat lehrt der Orden einiges über die sagenumwobenen Nihilim. Zumindest soweit wir das heute noch nachvollziehen können. Denn die Nihilim waren – soweit wir das wissen – nicht nur ein Volk großer handwerklicher Finesse, sondern auch überragende Krieger. Wobei dies wohl auch mit ihren Fähigkeiten im Waffenbau zu tun haben dürfte: Die dunklen Nihilim–Klingen stammen aus den Riesengraten und sind bis in unsere Zeit so hart, dass ein geübter Krieger im Kampf sogar ein Stahlschwert in Stücke hauen kann! Zumindest sagt man das, ich selbst habe aber nie einer dieser höchst seltenen Klingen gesehen. Aber da wir einen Krieger hier bei uns haben ... ?«

Sie zwinkerte Pereo zu, der aber bedauernd zugeben musste: »Nein, ich habe zwar bereits davon gehört, aber direkt gesehen habe ich noch keine dieser Klingen. Aber sie müssen wirklich unglaublich scharf sein. Trotz all der Kämpfe und Hunderten von Sommern, die seit ihrer Schaffung vergangen sind.«

Zaja nickte und fuhr fort: »All ihre Fähigkeiten haben aber nicht verhindern können, dass sie seit gut zweitausend Jahren vom Angesicht dieser Welt verschwunden sind. Sie schufen aber nicht nur die Dunklen Klingen, sondern auch zahlreiche, hm, magische Gegenstände und andere Artefakte. Aber wie auch immer, vor undenkbar langer Zeit verschwanden die Nihilim plötzlich, ihre Festungen blieben so zurück, als ob ihre Bewohner jeden Moment zurückkehren wollten.«

»Vielleicht tun sie das ja eines Tages.«, warf Jobdan ein, der die ganze Zeit bleich und still voran gelaufen war.

Zaja bedachte ihn eines kritischen Blickes und sprach dann weiter: »Nun, manche glauben das bis heute, aber ich persönlich denke, dass ihr Verschwinden eine Tat der Großen Alten war. Schließlich waren die Nihilim auch bekannt dafür, grausame Herrscher zu sein, die nicht zwar in den Riesengraten beheimatet waren, aber auch das Westreich sowie die zahlreichen Königreiche im Süden unterjocht hatten! Auch wurden sie vom Orden beschuldigt, Dämonen angebetet zu haben! Anders ist ihre Macht auch nicht erklärbar, wenn ihr mich fragt. Ihre Gesellschaften waren abgrundtief verdorben und unnatürlich. So sollen sie das natürliche Prinzip der Hegemonie abgelehnt haben, also dass ein Herrscher über das Wohl seiner Untertanen gebietet. Als ob ein jeder für sich alleine sorgen könnte, ohne die führende Hand eines Königs oder unserer Kaisers!«

Pereo und Jobdan schnauften zustimmend. »Erst mit ihrem Verschwinden konnten sich die anderen Völker weiterentwickeln. Auch der Orden, damals noch nicht viel mehr als kleine Glaubensgemeinschaften, wurde von den Nihilim brutal verfolgt.«

Tyark, der aufmerksam zugehört hatte, fragte erstaunt: »Also waren es die Großen Alten, welche die Nihilim haben verschwinden lassen? Wohin sind sie verschwunden?«

Zaja schüttelte den Kopf: »Letztlich wissen wir es nicht, da die Aufzeichnungen der damaligen Zeit unvollständig oder ganz verschwunden sind. Und die Großen Alten schweigen, seit sie in den Himmel aufgestiegen sind und den Menschen zurückgelassen haben. Bis wir uns als würdig erwiesen haben, werden sie auch weiter schweigen und wir können nur mutmaßen. Wie ich bereits gesagt habe, sind ihre Festungen so zurückgelassen worden, als würden die Nihilim jeden Moment zurückkehren. Sie sind aber nicht zurückgekehrt – nach der Lesart des Ordens sind sie für die Buße ihrer Sünden in eine der anderen Sphären verbannt worden, um dort in Ewigkeit mit Dämonen zu ringen. Aber selbst nach ihrem Verschwinden sind die alten Bauwerke der Nihilim seltsame und sagenumwobene Orte, an denen oft magische Phänomene sogar spontan auftreten können!«

Auf Pereos ratlosen Blick hin erklärte sie: »Magie braucht immer einen Geist, der sie herbeiruft, bündelt und in die Form bringt, die gewünscht ist – also etwa in einem konkreten Zauber. Etwa zum Anzünden dieses Astes dort.«

Sie zeigte auf einen Ast und lachte kurz. »Und genau dies ist es, was unter bestimmten Umständen Risse im Limbus erzeugt, durch welche dann die Finsternis in unsere Welt dringen kann. Die Bauwerke und Kultstätten der Nihilim sind berüchtigt dafür, dass sie unkontrollierte Ausbrüche von Magie anziehen. Wohl ein Grund dafür, dass so mancher Schatzjäger sein vorzeitiges Ende in den Tiefen einer Nihilim–Festung gefunden hat ...«

Nach Zajas Erzählung lief Tyark schweigsam neben seinen Gefährten her. Die Legende der Nihilim hatte ihn seltsam fasziniert – fast hoffte er, vielleicht eines Tages die Möglichkeit zu haben, die dunklen Geheimnisse einer alten Nihilim–Festung erforschen zu dürfen!

Am Abend erreichen Sie ein kleines Felsplateau, welches aus dem mit dichten Wäldern bewachsenen Hängen herausragte und einen großartigen Ausblick auf die Natur unter ihnen bot. Daneben hatte ein Sturm eine größere Lichtung in den Wald geschlagen und bot so die Gelegenheit, ein gut zu bewachendes Lager aufzuschlagen.

Der Wind hier oben war unangenehm kalt, so dass sie sich eng in ihre Wolldecken wickeln mussten. Der Himmel war klar und von der feurig untergehenden Sonne in leuchtende Farben getaucht. Nur am Horizont waren einige wenige Schleierwolken zu sehen.

Sorgenvoll musterte Jobdan den Abendhimmel über ihnen und sagte dann: »Es wird heute Nacht Regen geben, vielleicht sogar Sturm. Wir sollten unsere Zelte besser dort drüben in der Felsnische aufstellen und doppelt sichern.«

Erstaunt blickte Tyark ihn an und fragte: »Bist du sicher? Es scheint mir eine klare Nacht zu werden?«

Jobdan lächelte kurz und erklärte: »Glaube mir – das Wetter der Grate ist so unberechenbar wie die Grate selbst. Was eben noch eine dunkle Wolke am Horizont ist, kann nur wenig später ein Sturm sein, der mehrere Tage anhält und alles wegfegt, was nicht an einen Baum festgebunden ist! Und manchmal hilft auch das nicht mehr.«

Pereo stimmte ihm brummend zu: »Wir tun besser, was Jobdan sagt. Ich selbst habe als junger Kerl einen solchen Buran erlebt – den Atem der Riesen, wie wir hier dazu sagen. Stürme, die aus dem Nichts zu kommen scheinen. Ich habe damals zwei Tage frierend und nass in einer Höhle verbracht. Und bin froh, überhaupt noch am Leben zu sein.«

Tyark verzog immer noch ungläubig das Gesicht. Sein Blick schweifte über den fast wolkenlosen Horizont. Dann zuckte er mit den Achseln und half den anderen, das Lager besonders sorgfältig zu befestigen.

Die Sterne funkelnden bereits am dunklen Himmel, als sie ihr Lager so gesichert hatten, dass es sich eng an den Fels duckte. Tyark saß auf dem Felsplateau etwas abseits der anderen und beobachtete den Nachthimmel. Schon als kleines Kind war Tyark vom abendlichen Himmel fasziniert gewesen. Sein Großvater hatte ihm erzählt, die Götter persönlich hätten in ihren ewigen Kämpfen Löcher in das Firmament der Nacht geschlagen, durch welche dann das Licht der untergegangenen Sonne scheine. Der Glauben des Ordens hatte sich dann aber zunehmend auch im Süden durchgesetzt und die alten Götter waren verboten worden – und verschwanden auch langsam aus den Herzen der meisten Menschen. Er zuckte zusammen, als sich plötzlich Zaja zu ihm gesellte und leise sagte: »Eine klare Nacht, wie wunderbar. Die Blicke der Großen Alten sind klar zu erkennen und beobachten uns bei unseren Taten. Oh, sieh! Selbst die Halle der Gerechtigkeit ist heute gut zu erkennen.«

Sie zeigte auf eine Anordnung von Sternen am Himmel. Auf Tyark fragenden Blick antwortete sie: »Nach unserem Tode beurteilen die Großen Alten unser Leben und wie nah wir der Inneren Reinheit gekommen sind. Unwürdige Seelen werden zurück auf die Erde geschleudert und müssen in einem neuen Leben versuchen, durch weitere Erfahrungen und Taten den Zustand der inneren Reinheit zu erreichen. So lange, bis es ihnen gelingt. In der Halle der Gerechtigkeit wird die Seele gewogen und wandert dann, wenn sie denn würdig ist, zu einer der anderen Hallen – je nach den Taten des Lebens und natürlich dem Stand.«

Ihre Hand zeichnete andere Sternbilder nach. »Dort ist zum Beispiel die Halle der Könige, dieses eckige Bildnis ist die Halle der Krieger und diese Kreisanordnung ist die Halle des einfachen Volkes.«

Sie deutete auf ein kaum sichtbares Sternbild im Süden und erklärte: »Dort drüben ist die Halle der Erkenntnis. Uns ist nicht ganz klar, welchem Zweck genau sie dienen mag. Aber klar ist, dass nur Seelen dorthin gelangen, deren Grad innerer Reinheit so hoch ist, dass sie vielleicht sogar selbst zu einem Großen Alten werden könnten!«

Sie seufzte und fuhr dann fort: »Alle Brüder und Schwestern – ich eingeschlossen – wünschen sich, nach dem Tode dorthin zu gelangen. Es ist die höchste Stufe, die eine Seele erreichen kann.«

Sie legte ihre Hand auf Tyarks Schulter, wo sie scheinbar wenige Augenblicke länger als notwendig liegen blieb, und stand auf. »Ich bin müde, es war ein harter Marsch heute.«

Tyark nickte bloß und Zaja verschwand nach einem kurzen Nachtgruß an Pereo und Jobdan in ihrem Zelt.

Tyark saß noch eine Weile im kalten Wind der Berge und ging erst zur Ruhe, als er vor Kälte zitterte.

***

Eine wunderschöne, satte Sommerwiese erwuchs bis an den Rand eines urwüchsigen Waldes. Die Wipfel der uralten Bäume wiegten leicht im Wind, welcher kühl aus dem gewaltigen Gebirge hinter dem schier unendlichen Wald herunterwehte. An den schneebedeckten Gipfeln brachen sich Wolken, massiv und ewig schienen die Felsen über dem Wald zu thronen.

Ein kleines Mädchen mit langen, schwarzen Haaren stand am Rande der Wiese. Sie war barfuß und nur mit einem Nachtrock bekleidet, ihre Haare wehten verspielt im Wind. Sie blickte traurig in die Ferne, in ihrem kindlichen Gesicht lag ein Lächeln, das alt und traurig zugleich wirkte. Seltsam fremd wirkte sie vor dieser wilden und unbezähmbaren Natur. Sie wartete auf jemanden.

Dann schienen ihre hellen Augen etwas zu erfassen und ein zartes Lachen hallte durch die unruhige Natur. Mit kindlicher Ungeduld winkte sie und rief nach jemandem.

Dann wandte sie sich um, schritt in den Wald hinein, folgte einem Pfad, der nur für sie bestimmt schien. Sie begann zu laufen, dreht sich immer wieder um, winkte, rief. Die Wiese lag einsam da, doch ein Schatten schien sich vor die Sonne geschoben zu haben, es wurde kälter. Die dunklen Berge schienen nun majestätisch, aber auch drohend. Der Himmel verdunkelte sich langsam.

Etwas braute sich zusammen wie ein Sturm.

***

Tyark öffnete die Augen und blieb einen Moment still liegen. Neben sich hörte er Pereo schnarchen, draußen hörte er Jobdan leise husten, während er Nachtwache hielt.

Tyark wunderte sich über den Traum, der immer noch seltsam klar vor seinem geistigen Auge schwebte. Wer war dieses kleine Mädchen? Der Traum war ihm seltsam real vorgekommen, fast so, als sei er selbst durch diesen tiefen Forst gerannt. Und doch war er gänzlich anders gewesen als seine Ausflüge ins Zwielicht. Fast meinte er, immer noch die Gerüchte des Waldes wahrnehmen und das ferne Lachen des Mädchens zwischen den Stämmen zu hören.

Tyark seufzte – war er doch froh, zumindest nicht wieder von diesem schrecklichen Herrscher geträumt zu haben!

Leise richtete er sich auf und trat vor das Zelt. Draußen saß Jobdan auf einem großen Felsen und rauchte ein aromatisches Kraut in seiner fein geschnitzten Pfeife. Sein Gesicht leuchtete in der Glut seiner Pfeife schwach auf.

»Kannst du nicht schlafen?«

Tyark nickte bloß und setzte sich neben Jobdan. Jobdan zeigte mit dem Pfeifenstiel in den nächtlichen Himmel und Tyark brauchte eine Weile, um herauszufinden, weshalb er keinerlei Sterne sehen konnte: Eine gewaltige, dunkle Wolkenfront hatte sich aus dem Süden in Richtung der Riesengrate bewegt und lag nun bereits zur Hälfte über dem gewaltigen Tal vor ihnen.

Ein Lichtblitz erleuchtete den Himmel über den dunklen Wolken. Jobdan sagte leise: »Vielleicht haben wir Glück und das Gewitter bleibt dort, wo es jetzt ist. Allerdings kann man das nie so genau wissen – die Gewitter in den Graten sind launisch. Wie die Riesengrate selbst, nicht wahr?«

Ein weiterer heller Blitz war die Antwort. Die Bäume im Tal unter ihnen wurden von plötzlich auftauchenden Böen geschüttelt und leise drang ihr Rauschen bis zu ihnen hinauf. Die Zelte flatterten leise im Wind.

Jobdan erzählte Tyark leise von den Stürmen und Wettern seiner Jugend und wie sie das Leben der Menschen hier manchmal sehr schwer machten. Die Böen wurden derweil immer kräftiger und schon bald rauschten auch die Bäume über ihnen im kalten Wind, die Zeltplanen flatterten immer lauter.

Irgendwann gesellte sich auch Zaja zu ihnen, nur Pereos Schlaf schien das Naturschauspiel nicht beeinflussen zu können. Das Gewitter schien an Ort und Stelle zu verharren – die Bäume im Tal unter ihnen rauschten laut, aber bis auf wenige Tropfen kam nicht einmal der Starkregen bei ihnen an, der am gegenüberliegenden Rand des Tales herunterzukommen schien.

Es war ein atemberaubendes Schauspiel – die Gewitterfront war wenige Meilen von ihnen entfernt. Helle Blitze zuckten durch die Wolken und in Felsen und auch in einige Bäume im Tal. Ein tiefes Donnern war jedes Mal die Folge, selbst der Fels unter ihnen schien zu vibrieren.

Einmal hatte Tyark sogar den Eindruck, als sähe er geflügelte Schatten zwischen den Wolken hindurchjagen. Jobdan nickte dunkel und sagte schlicht: »Ja. Windbräute. Sie lieben Gewitter, immer schon. Warum auch immer. Aber keine Angst, sie werden uns hier nicht bemerken.«

Es dauerte lange, bis die Blitze langsam weniger zu werden schienen. Die Luft war noch kälter geworden, doch Tyark hatte den Eindruck, dass immer noch eine merkwürdige Spannung in der Luft zu liegen schien. Nur noch selten war ein dumpfes Grollen zu hören. Er stellte sich dabei vor, dass dies die Riesen waren, die sich in ihrem ewigen Schlaf unter ihnen wälzten.

Auf einmal bemerkte Tyark ein Geräusch von einer Lichtung, die im Talkessel unter ihnen lag. Schon bald sah er die dunklen Schatten von zwei oder drei Wildtieren aus dem Wald auftauchen. Tyark erkannte zwei prächtige Hirsche sowie ein Reh, welche auf der Lichtung nervös hin und her tänzelten.

Die Tiere schienen aus irgendeinem Grund in Panik zu sein. Auch Jobdan und Zaja hatten ihre Blicke auf die Lichtung gerichtet und Tyark bemerkte, das Jobdan auf einmal sehr angespannt wirkte. Fast flüsternd sagte der Jäger: »Ihr Verhalten gefällt mir nicht. Verhaltet euch ruhig, wir sollten ...«

Noch bevor er den Satz beenden konnte, begann etwas zwischen den Bäumen im Wald gespenstisch blau zu flackern. Tyark hörte, wie Zaja der Atem stockte.

Die Tiere unter ihnen waren zu weit weg, als dass er irgendetwas hätte hören können, doch er sah, wie sie in wilde Panik verfielen. Dann erkannte Tyark, warum. Etwa zehn Meter vor den Tieren begann der Boden blau zu leuchten. Dann tauchte ein gespenstisches Wesen auf, das etwa einen halben Meter im Durchmesser messen mochte. Jobdan zischte: »Leise!«

Die Gestalt erinnerte Tyark an eine Kugel, die in der Hälfte durchgeschnitten war. Sie war fast durchscheinend und wirkte filigran und bedrohlich zugleich. Ein flackerndes, bläulichgrünes Licht ging von ihr aus, während sie begann, etwa einen Meter über dem Erdboden zu schweben. Ihre Oberfläche schien in stetiger Bewegung zu sein, auch wenn das Wesen keinerlei Geräusche von sich gab. An der Unterseite hingen lange Tentakeln, die sich bewegten, als würden sie von einer Strömung hin und her gewogen.

Plötzlich begann das Wesen zu flackern. Tyark sah kleine Lichtblitze, welche im Inneren des Körpers ihre Quelle zu haben schienen und sich zunächst über den ganzen Körper ausbreiteten, bis sie schließlich über die Tentakel zuckend im Erdboden verschwanden. Tyark spürte, wie sich die Haare an seinem Arm und seinem Kopf aufzurichten begannen – seine Handflächen kribbelten wie verrückt. Die verängstigten Tiere auf der Lichtung gaben laute Rufe von sich und taumelten zurück in den Wald, nur um sogleich auf die Lichtung zurückzustürmen.

Auch aus dem Wald tauchen nun drei weitere dieser seltsamen Gebilde auf, die ebenfalls lautlos flackernd auf die Tiere zuschwebten. Das Rotwild auf der Lichtung schien nun vollkommen in Panik verfallen zu sein und versuchte, durch eine schmale Lücke zwischen den unheimlichen Wesen zu flüchten.

Einen Moment dachte Tyark, dass dieses Fluchtmanöver tatsächlich Erfolg haben würde – dann tauchte direkt vor den Tieren ein viertes Wesen aus dem Erdboden auf. Die Tiere schreckten zurück, doch bevor sie auf die Lichtung zurückstürmen konnten, begannen die Wesen, große und bedrohlich knisternde Lichtblitze zu produzieren. Diese breiteten sich rasend schnell über die Körper der vier Wesen aus und sprangen dann sporadisch auf eines der benachbarten Wesen über, bis das Wild in einem knisternden und hellen Ring aus Blitzen gefangen war.

Tyark musste sich abwenden, da das Licht für einen Augenblick so hell wurde, als hätte er direkt in die Sonne geblickt. Dann verschwand das Licht und als Tyark geblendet in Richtung der Lichtung blinzelte, sah er nur noch die vier Wesen, welche lautlos auf der Stelle schwebten. Es waren keine Lichtblitze mehr zu sehen, lediglich das unheimliche Flackern der vier Körper erhellte die Lichtung – die drei Wildtiere waren nirgends zu entdecken, als hätten sie sich in Luft aufgelöst.

Jobdan raunte: »Das sind Kyrasfeuer. Wesen, die im Fels des Gebirges selbst leben. Bei Gewittern kommen sie manchmal heraus und machen Jagd. Wenn man still stehen bleibt, passiert meist nichts.«

Wie zur Bestätigung flackerten die Wesen in einem hellen Blau auf – und verschwanden dann langsam in der Erde.

Aufgeregt sagte Zaja: »Ich habe bereits von solchen Wesen gehört! Ich hätte nie gedacht, einmal selbst eines zu sehen, geschweige denn gleich vier! Bei den Alten!«

Tyark, der einerseits große Angst vor diesen Wesen hatte, aber auch gleichzeitig fasziniert war, fragte: »Was war das? Sind das ... Geister? Oder doch Tiere? Wohin ist das Wild verschwunden?«

Jobdan beobachtete die Lichtung weiter und sagte dann: »Niemand weiß es so recht. Kyrasfeuer verhalten sie wie Tiere ... meistens. Was von ihnen erlegt wird, verschwindet einfach. Vor etwa einem Sommer wanderte ein Kyrasfeuer jede Nacht um Schwarzbach herum! Kurz, bevor diese seltsame Krankheit begann. Wir wissen bis heute nicht, ob das Feuer etwas damit zu tun hat ... oder ob es nur einer, hm, Laune gefolgt ist. Das Vieh war natürlich panisch, es passierte ihm aber seltsamerweise nichts. Das Feuer verschwand dann nach drei Tagen und ist seitdem nie mehr zurückgekehrt – aber die ersten von uns wurden nur wenige Wochen danach krank.«

Halb zu sich selbst murmelte er: »Ich hörte einst von jemanden, der sein Schwert gegen ein Kyrasfeuer zog. Er verschwand im Licht, bevor er auch nur den Arm zum Schlag heben konnte.«

Mit Blick auf Tyark erklärte Zaja stockend: »Ich ... glaube, dass diese Wesen ätherisch genannt werden. Sie leben in so etwas wie einer Zwischenwelt – nicht wirklich lebendig, aber auch nicht Geist. Es gibt wohl nur wenige Wesen in Teanna, die so sind. Angeblich gibt es sie erst seit dem Kataklysmus, sie sind also erst mit dem Verschwinden der Großen Alten hier aufgetaucht.«

Mit Blick auf Jobdan fügte sich hinzu: »Soweit ich weiß, kann man ätherische Wesen auch nur mit Magie bekämpfen.«

Jobdan zuckte mit den Schultern und sein Gesicht glomm kurz auf, als er kräftig an seiner Pfeife sog.

Zaja überlegte kurz und fuhr dann mit leiser Stimme fort: »Ich erinnere mich an eine Legende, zumindest zum Teil. Ich glaube, ein unglaublich mächtiger Magier namens Sepharim wurde es durch den Pakt mit einem der Fünf Erzdämonen möglich, zu einem ätherischen Wesen zu werden. Das Ganze soll vor unvorstellbar langer Zeit stattgefunden haben, irgendwo weit im Westen, in den Grauen Landen, wenn ich mich recht entsinne. Weder davor noch danach ist etwas von Menschen bekannt geworden, die – auf welche Art auch immer – ätherisch geworden sind. Jedenfalls soll dieser Sepharim der Schöpfer so mächtiger wie dunkler magischer Artefakte sein, wenn ich mich richtig erinnere.«

Verträumt blickte sie auf die Sterne, welche durch die sich auflösenden Gewitterwolken funkelten. Mit Blick auf ihre staunenden Gefährten erklärte sie: »Mich ... interessiert einfach alles, was mit der Geschichte des Ordens und mit Magie zu tun hat. Beides ist untrennbar miteinander verflochten. Und diese alten Legenden faszinierten mich schon immer.«

Das von Jobdan mit Holz gefütterte Feuer knisterte und sein flackerndes Licht schien die Welt um sie herum in geheimnisvolle Schatten zu tauchen. Dann drang Pereos lautes Schnarchen zu ihnen hindurch und schien die Geheimnisse in die Dunkelheit der Wälder zurückzudrängen. Tyark und Zaja mussten sich unwillkürlich angrinsen, nur Jobdans Blick blieb dunkel und wachsam.

***

Am nächsten Tag waren brachen sie erst am späten Morgen auf.

Die Luft war frisch und Tyark genoss den Geruch nach Regen, der in der Nacht zuvor gefallen war. Die Lichtung, auf der sich in der Nacht die unheimliche Jagd abgespielt hatte, lag völlig verwaist vor ihnen und wie Jobdan es prophezeit hatte, waren von den Tieren keinerlei Reste zu finden, nicht einmal Knochen.

Auch auf dem Boden war kein Halm geknickt, also konnte dort nichts gelegen haben – die Hufspuren endeten abrupt, lediglich einzelne Stellen im Gras schienen verbrannt, als ob große Hitze auf sie eingewirkt hätte. Tyark schauerte, als er sich vorstellte, dass sich das Wild einfach so aufgelöst haben könnte!

Als er Pereo auf die geheimnisvollen Kyrasfeuer ansprach, erwiderte dieser nur lakonisch: »Die Feuer gehören zu den Graten wie der Wind und die Wölfe. Ich bin ihnen immer aus dem Weg gegangen. Ist wohl das Beste, das man tun kann. Aber ich gebe zu, ihre Jagd ist sehr beeindruckend. Solange sie sich auf Wild konzentrieren.«

Tyark musste schlucken und fragte beklommen: »Wurden denn auch schon einmal Menschen gejagt?«

Pereo verstaute ruhig seine Sachen während er antwortete: »Ja, natürlich. Auch wenn die Kyrasfeuer seltsamerweise Tiere zu bevorzugen scheinen. Ich kenne allerdings niemanden, der von einem der Feuer getötet worden wäre.«

Tyarks Blick schweifte beklommen über die rauen Felsen der Grate. Er ahnte immer mehr, welche Entbehrungen die Menschen hier Tag für Tag auf sich nehmen mussten!

Der Himmel war trüb und Regen lag wieder in der Luft. Sie folgten einem uralten Pfad über einen hohen Bergkamm und kamen danach zu einem weiteren, gewaltigen Tal, das zu durchqueren mindestens eine Tagesreise in Anspruch nehmen würde.

Jobdan hatte ihnen erklärt, dass der direkte Weg durch den zuvor beschriebenen Bergrutsch zu gefährlich sei, der Umweg würde etwa zwei Tage mehr in Anspruch nehmen. Danach könnten sie sich von der anderen Seite dem Bergrutsch nähern und gemeinsam den freigelegten Schacht erkunden. »Außerdem ist – wenn ich mich richtig erinnere – die alte Hütte der Ziehtochter der Alten Marda, dieser Hexe Noijana, irgendwo am Ende des Tals. Dort finden wir vielleicht Unterschlupf für die Nacht.«

Aus irgendeinem Grund hatte Tyark ein ungutes Gefühl, als Jobdan Noijana erwähnte, nicht zuletzt aufgrund des ungeklärten Verschwindens der Frau. Auch Zaja war leicht zusammengezuckt, als Jobdan den Namen erwähnte, verlor aber kein Wort darüber.

Durch das Tal selbst führte ein schmaler Wildpfad, der sich allerdings oft im Dickicht des Waldes verlor und schon fast vollständig von der wuchernden Vegetation überwuchert worden war. Die Sonne stand schon tief, als sie sich endlich dem anderen Ende des Tales näherten.

Plötzlich spürte Tyark das bereits vertraute Kribbeln in den Handflächen, wenn auch nur sehr schwach. Eine Krähe krächzte irgendwo in der Nähe merkwürdig aufgeregt. Tyark blieb stehen und sah sich um. Dann verließ er den Pfad und ging einige Schritte in den dunklen Wald hinein. Er sah schon bald, dass seine Ahnung ihn nicht betrogen hatte. Etwas stimmte hier nicht: Unweit des Pfades begannen einige der Bäume, seltsame Verwachsungen zu zeigen. Die Farbe ihrer Blätter war etwas anders als die der anderen Bäume, auch schienen sie wesentlich kleiner zu sein und wiesen auffällig viele Verwachsungen auf.

Die unsichtbare Krähe krächzte wieder laut. Hinter sich hörte Tyark Pereo rufen, doch er antwortete nicht. Am Fuß der verkrüppelten Bäume wuchsen dieselben Gräser und Pflanzen, die auch im restlichen Wald zu finden waren – und dennoch waren auch sie seltsam klein und wirkten auf befremdliche Weise kränklich. Vorsichtig ging Tyark weiter, zwischen den merkwürdigen Bäumen hindurch – das Kribbeln in seinen Handflächen wurde stärker. Er bemerkte bald, dass die kranken Pflanzen und Bäume nur in einem kleinen, fast kreisrunden Gebiet wuchsen, das einen Durchmesser von vielleicht zwanzig Metern hatte. An den Rändern wirkte die Natur gesünder, bis schließlich kein Unterschied zum Rest des Waldes mehr feststellbar war. Tyark fragte sich, was diesen seltsamen Wuchs ausmachen konnte und stieß dorthin vor, wo er das Zentrum dieser eigenartigen Zone vermutete – und von wo auch das Krächzen der Krähe zu kommen schien.

Doch bevor Tyark weitergehen konnte, hatte Jobdan ihn eingeholt und hielt ihn zurück: »Wir sollten vorsichtig sein ... in den Graten gibt es einige Bereiche wie diesen hier. Stygas!«

Auf den fragenden Blick Tyarks erwiderte er: »Stygas sind ... besondere Bereiche, die überall in Teanna vorkommen können. Kranke Bereiche. Stygas sind gefährlich: Menschen, die sich in solchen Gebieten zu lange aufgehalten haben, werden sehr krank – viele sterben. Die Überlebenden sollen oft unfruchtbar sein oder nur noch missgestaltete Kinder zeugen können. Es sind böse Orte. Schreckliche Geister hausen hier. Man spürt es leider nicht, wenn man in einer Styga ist und wenn, dann ist es schnell zu spät. Man erkennt sie allerdings meist an kranken oder seltsam gefärbten Pflanzen – oder toten Tieren. Bei uns lernt jedes Kind so früh wie möglich, eine Styga zu erkennen und zu meiden.«

Pereo trat hinzu und stimmte Jobdan brummend zu: »Im Süden habe ich ebenfalls eine dieser Gebiete gesehen. Ein Soldat aus meinem Trupp hat sich verirrt und ist in einer solchen Styga eingeschlafen. Als er am nächsten Tag zu unserem Trupp zurückfand, sind ihm die Haare büschelweise ausgefallen. Am zweiten Tage hat er Blut gespukt und die nächsten zwei Tage ist er elendig krepiert. Am Schluss hat er nur noch Blut erbrochen. Es war scheußlich.«

Mit Nachdruck sagte Jobdan: »Ja – ich kenne vier dieser Stygas – es gibt wohl einige Duzend hier in den Riesengraten. Dieses Tal habe ich immer gemieden – wir sollten hier auf jeden Fall nicht allzu lange bleiben.«

Tyark nickt stumm und ging noch einige Meter weiter – das Krächzen der Krähe war laut und klang aufgeregt. Dann stand er plötzlich auf einer kleinen Lichtung, die das Zentrum dieser Zone zu sein schien. Selbst das Gras war hier verkrüppelt und mehr tot als lebendig, Bäume gab es keine. In der Mitte dieser seltsamen Lichtung war eine kleine Kuhle in der Erde, neugierig trat Tyark näher – und spürte bald die kräftige Hand Pereos auf seiner Schulter: »Nicht Tyark – bleib hier!«

Tyark blieb stehen und versuchte, einen Blick in die Kuhle zu werfen. Das Krächzen ertönte erneut und schien direkt aus dieser Vertiefung im Erdboden zu kommen. Dann sah er, überwuchert von seltsam verfärbtem Gras, einen grauen Stein, der nur wenige Fingerbreit aus der Erde ragte. Und auf diesem Stein saß eine fette Krähe, die ihn mit ihren tiefschwarzen Augen anblickte. Ihr Schnabel war halb geöffnet, ihre Flügel hingen herunter, als raube ihr etwas die Kraft.

Es war eindeutig kein natürlicher Fels, auf dem die Krähe saß. Der Stein war vollkommen viereckig und hatte etwa eine Elle Kantenlänge. Er glich somit eher einem abgebrochenen Pfeiler – der größte Teil davon schien in der Erde zu stecken. Auf der Oberseite fehlte ein großes Stück und obwohl keinerlei Bewuchs festzustellen war, wirkte er sehr, sehr alt.

Tyarks Handflächen kribbelten nun stärker, doch eine eigenartige Faszination hielt ihn hier. Die Krähe blickte ihn an und Tyark hatte auf einmal das seltsame Gefühl, dass in dem undurchdringlichen Blick des Tieres etwas seltsam Bekanntes lag. Sie krächzte erneut, allerdings nur noch schwach und Tyark wurde plötzlich klar, dass sich der Vogel kaum noch aufrecht halten konnte – er starb! Dennoch machte er keine Anstalten, aufzufliegen. Erst jetzt spürte Tyark, wie er sich plötzlich merkwürdig schwach fühlte. Ein zunächst schwacher Schwindel begann sich rasend schnell auszubreiten, schwarze Flecken tanzten bald vor seinen Augen. Er bemerkte, dass die Luft über dem Steinquader leise zu flimmern schien.

Pereos riesige Hand legte sich Tyark auf die Schulter und riss ihn weg von diesem steinernen Zeugen einer längst vergangenen Zeit. Als Tyark protestieren wollte, deutete Pereo nur in dessen Gesicht – erschrocken stellte Tyark fest, dass seine Nase angefangen hatte zu bluten. Auch aus Jobdans Nase tropfte ein wenig Blut, wenn auch bei Weitem nicht so viel wie bei Tyark.

Tyark zögerte nicht länger. Rasch machten sie kehrt, verließen sie die Lichtung und hielten ihren Lauf erst an, als sie bei ihrem Gepäck und Zaja auf dem Pfad zurückgekehrt waren. Nur einmal hörte Tyark das schwache Krächzen der Krähe hinter sich, dann erstarb es.

Seine rasenden Kopfschmerzen verhinderten, dass er sich in Gedanken auf das Verhalten des Tieres konzentrieren konnte – und doch war dort etwas im Blick des Tieres gewesen ... als ob etwas durch die Krähe ihn direkt angeblickt hätte. Wie durch ein Fenster.

»Bei den Alten! Tyark! Was hast du mit deiner Nase gemacht?«

Besorgt begann Zaja, Tyarks Nase zu untersuchen. Tyark fühlte sich völlig ermattet, als sei er schon den ganzen Tag durch den Wald gerannt, die Kopfschmerzen wurden zu einem irrsinnigen Pochen, schwarze Flecken tanzten vor seinen Augen. Er setzte sich auf den Boden und wehrte Zajas Fürsorglichkeit mit schwachen Armbewegungen ab. Schreckliche Übelkeit stieg in ihm hinauf. Mühsam erklärte er: »Eine Styga – klein, aber ziemlich stark.«

Auch Pereo wirkte erschöpft. »Falls einer von euch Kopfschmerzen verspürt, kann er froh sein, jetzt überhaupt noch etwas zu spüren. Diese tückischen Stellen sind ein weiterer Grund dafür, warum die Riesengraten so berüchtigt in ganz Teanna sind.«

An Jobdan gewandt, der sich ebenfalls hingesetzt hatte, fragte er: »Ist der alte Siegbert nicht ebenfalls mal ein einer Styga hineingeraten während eines Schneesturms?«

Schwach nickte Jobdan bloß.

Mit den Händen in den Rücken gestimmt fuhr Pereo fort: »Er war danach wohl wochenlang krank und hat sich auch später nie richtig davon erholt. Dass er und Frida nie Kinder gehabt haben, hat er auf diese eine verfluchte Nacht geschoben, wie er immer wieder gesagt hat.«

Mit einem schelmischen Blinzeln sagte er zu Tyark: »Also bleib solchen Orten fern, wenn du gesund bleiben willst und irgendwann Teanna mit deinen Nachkömmlingen bevölkern möchtest!«

Tyark lächelte schwach. Erschöpft dachte er daran, wie er und Mayra so oft versucht hatten, Kinder zu bekommen. Und wie sie ihm dann endlich gesagt hatte, dass ihr Wunsch erhört worden war – einen Tag, bevor die Horde in die Stadt eingefallen war.

Tyark übergab sich einige Male und fühlte, dass er zu Tode erschöpft war. Da unter diesen Umständen ein Erreichen des Tals bis Sonnenuntergang nicht zu denken war, hatte die Gruppe ein provisorisches Nachtlager unter einer großen Eiche aufgeschlagen.

Während sie sich um das Lagerfeuer bemühte, welches auf Grund des feuchten Holzes nicht so recht brennen wollte, erklärte Zaja: Der Orden nennt diese Orte nur Zonen. In diesem Teil Teannas sind sie höchstens wenige Dutzend Meter groß – es soll im Westen, in den Grauen Landen, aber ganze Landstriche geben, die eine einzige große Zone sind! Angeblich wächst dort so gut wie nichts, wenn überhaupt etwas lebt. Die wenigen Lebewesen sollen vollkommen anders sein als hier, es soll dort Wesen geben, die nirgends sonst vorkommen.«

Während sie einen Kessel mit Wasser an einem Ast befestigte, fuhr sie fort: »Jedenfalls habe ich schon oft gehört, dass in den kleinen Zonen manchmal Steine oder andere Strukturen zu sehen sind, so wie hier. Der Orden meint auch, dass diese nicht natürlichen Ursprungs sein können. Manchmal findet man aber auch nichts dergleichen im Zentrum einer solchen Zone, wahrscheinlich liegt das Zentrum in solchen Fällen unter der Erde. Der Orden vermutet, dass es die alte Magie der Nihilim ist, die diese Orte bis heute mit einem tödlichen Miasma korrumpiert, das man weder sehen noch riechen oder anderswie spüren kann! Nur starke Heilungsmagie kann die Effekte dieser Zonen umkehren, wenn sie rechtzeitig angewendet wird. Auch ich habe schon von schrecklichen Todesfällen gehört, die manchmal sogar noch Wochen nach Betreten einer solchen Zone eintreten können.«

Mit Blick auf Tyark und Jobdan erklärte sie aber lächelnd: »Ich denke aber nicht, dass ihr euch Gedanken darum machen müsst, eure Lebensersparnisse für Heilungsmagie auszugeben. Ihr seid heute glimpflich davongekommen, schätze ich.«

Seufzend blickte Tyark in die Gesichter seiner Gefährten und ließ seinen Blick anschließend über die nebelverhangenen Hänge der Grate wandern. Sie waren nun knapp eine Woche unterwegs und hatten bereits zahlreiche Erlebnisse gehabt, die unerfahrenen Abenteurern leicht hätten das Leben kosten können! Wie viele hatten aus Unachtsamkeit oder schlichtem Unglück diesen hohen Preis bereits bezahlen müssen? Die Natur war überall in Teanna hart und manchmal auch grausam – die Riesengrate aber schienen sich diesbezüglich täglich selbst übertreffen zu wollen.

***

Als Tyark am nächsten Morgen die Augen aufschlug, fühlte er sich elend. Die Kopfschmerzen waren zwar bei Weitem nicht mehr so schlimm wie gestern Abend, sie reichten aber aus, um ihm jeglichen Appetit zu nehmen.

In der Nacht hatte es zu allem Überfluss leicht geregnet und so war ihre gesamte Ausrüstung unangenehm feucht und klamm. Auch Jobdan schien es nicht recht gut zu gehen, auch wenn er durch seine größere Entfernung zum Zentrum der Styga weniger des schädlichen Miasmas abbekommen zu haben schien. Als Zaja bemerkte, dass Tyark aufgestanden war, kam sie sogleich zu ihm und untersuchte seine Augen: »Nur wenig Rötung. Ich denke, du hast wirklich viel Glück gehabt gestern! Du wirst dich wahrscheinlich noch schwach und abgeschlagen fühlen die nächsten Tage. Das Gefühl sollte aber von alleine verschwinden, denke ich. Ich werde heute Abend nach Kräutern Ausschau halten, die vielleicht die Selbstheilung deines Körpers unterstützen können.«

Sie blickte ihn forschend an: »Warum bist du dort überhaupt hingegangen? Die kranken Bäume waren doch nicht vom Pfad aus zu sehen?«

Tyark war erneut überrascht über Zajas hervorragende Beobachtungsgabe. »Eine Krähe. Sie saß auf dem Stein im Zentrum der Styga – ich habe ihr Krächzen gehört.«

Auf Zajas Gesicht erschien eine Stirnfalte, die Tyark mittlerweile sehr gut kannte. Mit Blick auf Pereo und Jobdan, die in der Nähe die Ausrüstung überprüften, fuhr er fort: »Etwas war seltsam an ihr ... ich hatte in Schwarzbach bereits ein ähnlich merkwürdiges Erlebnis mit diesen Vögeln. Es erscheint mir fast, als würde ... als würde mich etwas durch diese schwarzen Augen anblicken. Als sei da mehr als nur ein Vogel, verstehst du?«

Zaja schwieg zunächst, ihre grünen Augen ruhten undurchdringlich auf seinem Gesicht. Dann nickte sie leise und sagte: »Ja – vielleicht hast du Recht. Wir sollten Ausschau halten nach Krähen und noch vorsichtiger sein ... Du meinst also, sie hat etwas mit ihnen zu tun? Hast du nicht auch einen Wolf bei ihr gesehen?«

Die Erwähnung der Frau gab Tyark einen Stich in die Magengrube, aber er ließ sich nichts anmerken. »Ich bin mir nicht sicher, was hier vorgeht. Die Krähen waren nie aggressiv oder offen feindselig. Allerdings kommt es mir fast so vor, als ob das Tier gestern mich gezielt in diese Styga gelockt hätte! Es wirkte auch krank, dem Tode nahe. Ich würde einiges dafür geben, um nachschauen zu können, ob dort auf diesem Stein eine tote Krähe liegt ...«

Sie unterbrachen ihr Gespräch, als Pereo an die Reste des Lagerfeuers trat und mit deutlich hörbarer Sorge in der Stimme sagte: »Wir sollten aufbrechen. Jobdan hat Wolfspuren in der Nähe des Lagers gefunden. Sie waren heute Nacht in der Nähe des Lagers. Wenigstens vier Wölfe, darunter ein besonders großer ...«

Sein Auge streifte misstrauisch über das undurchdringliche Grün des sie umringenden Waldes. »Wir sollten uns rüsten und besonders vorsichtig sein.«

Mit einem flauem Gefühl im Magen begannen Zaja und Tyark, ihre Ausrüstung auszubereiten. Tyark legte das erste Mal seit ihrem Aufbruch die leichte Lederrüstung an, die der Schmied ihnen mitgegeben hatte. Sie war zwar etwas zu groß für ihn, schien aber ihren Zweck zu erfüllen. Ihr Gewicht war allerdings deutlich zu spüren und Tyark hoffte, dass sie das Ende des Tales bald erreichen würden.

Die Luft im Tal wurde im Laufe des Tages immer schwüler und drückender. Auch Pereo und Jobdan hatten sich Lederrüstungen angelegt, die von Pereo hatte sogar einzelne Metallplatten als Verstärkung eingenäht und wirkte mit ihren zahlreichen Kratzern und Verfärbungen kampferprobt und einschüchternd.

Zwar spendeten die gewaltigen Bäume Schatten, dies konnte jedoch nicht verhindern, dass ihnen allen schon bald der Schweiß in Bächen herunterlief und die Ausrüstung immer schwerer zu werden schien.

Jobdan und Pereo gingen voran, während Tyark die Nachhut bildete. Zaja lief in der Mitte, Schweißperlen glitzerten auf ihrem kahlen Kopf. Ihren Pferdeschwanz hatte sie mit roten Schnüren straff zusammengebunden, ihren Kampfstab umklammerte sie mit festem Griff.

Immer wieder meinte Tyark, Blicke in seinem Rücken zu spüren, allerdings konnte er im Wald nie etwas ausmachen – und doch ... Plötzlich hielt Jobdan an und wies mit der Hand auf etwas, das halb in einen wilden Rosenstrauch eingewachsen war. Erst auf den zweiten Blick konnte Tyark erkennen, um was es sich handelte. Es war eine kleine, etwa kniehohe Statue, die halb mit Moosen und Flechten überwachsen auf einem steinernen Sockeln inmitten eines prächtig blühenden Rosenbusches stand. Es war trotz der starken Verwitterung leicht festzustellen, was abgebildet war: Eine Frau, die mit einem verträumten Gesichtsausdruck ein kleines Tiegelchen in der einen Hand und einen kunstfertig gemeißelten Stößel in der anderen hielt. Gekleidet schien sie in eine wallende Tunika, eine ihrer nackten Brüste war dabei entblößt. In der rechten Gesichtshälfte war eine Tätowierung angedeutet, die vom Jochbein bis zur Stirn verlief.

Fragend blickte Tyark in die Runde und Pereo erklärte: »Wahrscheinlich die Darstellung Leannas. Im alten Glauben der Völker der Grate war sie die Göttin der Heilkunst. Und der Fruchtbarkeit. An alten Kultstätten findet man auch heute noch Statuen von Frauen. Zumindest, wenn der Orden sie noch nicht zerstört hat ...«

Zaja unterbrach Pereo unwirsch: »Der Orden unterstützt die Völker Teannas dabei, zum wahren Glauben zu finden. Und dazu gehört nun mal auch, die Götzen heidnischen Glaubens zu ... entfernen. Der Irrglaube der Menschen war schließlich der Grund, weshalb die Großen Alten Teanna verließen und uns im Elend zurückließen!«

Pereo machte eine gleichgültige Handbewegung. Jobdan sagte schnell: »Wie auch immer. Jedenfalls gehört diese Statue sicher zu dieser ... Hexe. Noijana. Sie soll ja mit Kräutern herumhantiert haben und so! Ihre Hütte sollte also irgendwo hier in der Nähe sein, denke ich.«

Er wies mit der Hand auf eine Stelle im Wald, durch die das Sonnenlicht stärker durch das dünner werdende Blattwerk schien. »Lasst uns weitergehen und ...«

Tyark hörte den Rest nicht mehr, da er plötzlich die Gewissheit hatte, dass sich ein bösartiges Paar Augen in seinen Rücken bohrte. Hastig drehte er sich um – und sah einen dunklen Schatten in den Sträuchern am Wegrand verschwinden. Ohne seinen Blick von dem friedlich erscheinenden Wald zu lösen, raunte er seinen Begleitern zu: »Dort war etwas! Es sah aus wie ein großes Tier ... wir sollten hier verschwinden, schnell.«

Plötzlich hörten sie alle das Knacken von Unterholz im Wald vor ihnen – etwas näherte sich ihnen sehr schnell. Jobdan mahnte zur Eile und führte sie über den fast vollkommen überwucherten Pfad, während er seinen Kurzbogen schussbereit in der Hand hielt. Pereo hatte sein Schwert gezogen und schützte mit seinem Schild die anderen vor den zurückschnallenden Ästen.

Es war mühselig, sich durch die wuchernden Büsche zu kämpfen und Tyark zögerte nicht, das Grünzeug mit Hilfe seines Kurzschwertes niederzumähen – seine Handflächen kribbelten wie verrückt. Wütend drosch er auf die dichte Vegetation ein. Eiskalte Panik kroch seinen Rücken hinauf – er war sich sicher, dass sich jeden Moment messerscharfe Zähne in seinen Nacken bohren würden. Er konnte den heißen Atem des großen, schwarzen Wolfes in seinem Nacken förmlich spüren.

Fluchend und mit steigernder Hast eilte die kleine Gruppe weiter in die Richtung, in die Jobdan sie führte. Hinter einem großen, den Weg fast völlig überwuchernden, Brombeerstrauch tauchte plötzlich eine fast malerische Lichtung aus dem Chaos des wuchernden Waldes auf – sie hatten das Ende des Tals erreicht!

Die Abhänge der Grate wuchsen dahinter in die Höhe, drei prächtige Apfelbäume säumten den linken Rand der Lichtung. In der Mitte stand eine windschiefe Hütte auf einem wuchtigen steinernen Sockel. Sträucher mit kleinen gelben und weißen Blüten umrankten die hölzernen Wände und den angrenzenden, aus groben Steinen gebauten Brunnen. Moose und kleine Bäumchen wuchsen auf dem Schrägdach. Schmetterlinge tanzten in den warmen Sonnenstrahlen und Tyark war einen Moment ganz erstaunt darüber, wie schön und wie wunderbar friedvoll dieser Ort wirkte. Und dieser Eindruck wurde seltsamerweise zunächst nicht einmal dadurch gestört, dass plötzlich die große schwarze Wölfin mit hängenden Lefzen aus dem Wald vor ihnen in die Mitte der Lichtung trottete. Dann blieb sie stehen und mit einem anschwellenden Knurren starrte sie die Eindringlinge an. Pereo bellte einige Kommandos und vorsichtig rückten sie vor. Der Geruch seines eigenen Angstschweißes stieg Tyark in die Nase. Vor ihm umklammerte Zaja ihren Stab, die Knöchel ihrer Hand waren weiß vor Anspannung. Pereo zischte Jobdan zu: »Schieß auf den schwarzen Wolf, schnell!«

Jobdan hob seinen Bogen und zielte auf die Wölfin, welche immer noch regungslos vor ihnen stand.

Es war Zaja, welche die seitlich aus dem Unterholz heranstürmenden Wölfe zuerst hörte. Dem Wolf, der Jobdan von der Seite ansprang und sich in seinen Hals verbeißen wollte, rammte sie das Ende ihres Stabes in die Flanke. Die Wucht des Sprunges reichte immer noch dazu aus, dass der schwere Körper des Tieres gegen Jobdan geschleudert wurde, doch die spitzen Zähne verfehlten glücklicherweise ihr Ziel.

Jobdan strauchelte überrascht zur Seite, der Pfeil schnellte aus der Sehne und flog in weitem Bogen über die regungslose Wölfin und blieb in einem alten Baumstumpf stecken. Jobdan schrie vor Wut und Schmerz.

Neben sich hörte Tyark ein krachendes Geräusch. Pereo hatte einen der Wölfe mit dem Schild abgewehrt und stach ihm nun die Klinge seines Schwertes in die Seite. Der Wolf jaulte laut auf und der schwere Geruch von Blut erfüllte schon bald die Luft.

Tyarks Sinne waren zum Zerreißen gespannt, das Kribbeln in seinen Handflächen spürte er kaum noch. Er wandte sich blitzschnell um, denn er wusste plötzlich, dass eines der Tiere sich hinter ihm befinden würde. Er blickte direkt in die funkelnden Augen eines großen Wolfes, der mitten im Sprung war, bereit, sich gleich in Tyarks Gesicht zu verbeißen. Reflexhaft hob Tyark sein Kurzschwert. Seine Klinge drang durch die Unterseite des Mauls in den Schlund des Wolfes ein. Durch die Wucht des Angriffs wurde der Wolf förmlich aufgeschlitzt. Gurgelnd schoss ein Schwall Blut aus dem Maul des sterbenden Tieres und ergoss sich über Tyarks Arm und Gesicht.

Nur mühsam konnte Tyark das Gleichgewicht wahren. Das Gewicht des Wolfes zog seinen Arm nach unten. Verzweifelt versuchte er, sein Kurzschwert herauszuziehen, welches irgendwo im Leib des Tieres festsaß. Der Wolf gab selbst im Todeskampf ein gurgelndes Knurren von sich, die kräftigen Kiefer schnappten an der Klinge und gaben ein metallenes Geräusch von sich. Trotz des tobenden Kampfes schauderte es Tyark. Was nur versetzte diese Tiere in solche maßlose Raserei? Was trieb sie an, noch im Todeskampf den Angriff fortzuführen!

Ein weiterer Wolf griff Zaja an, ihr hölzerner Kampfstab landete mit einem satten Geräusch auf dem Kopf des Tieres. Ein Knirschen, gefolgt von einem Jaulen war die Antwort. Der Wolf rollte vor ihre Füße und blieb benommen dort liegen.

Tyark stemmte sich mit seinem Fuß gegen den Kopf des vor ihm liegenden Wolfes und schaffte es endlich, sein Kurzschwert herauszuziehen. Er sah den Schatten des Wolfes noch, der ihn von der Seite ansprang und es gelang ihm gerade noch, seinen mit ledernen Armschienen geschützten Arm zu heben. Kiefer mit grausamen Zähnen schlossen sich darum, die Wucht des Angriffs warf Tyark auf den Rücken. Der Geruch des Wolfes über ihm nahm ihm fast den Atem.

Gerade als das Tier seinen Arm losließ und nach seinem Hals schnappte, rammte er diesem die Klinge seines Schwertes tief in die Seite. Tyark spürte, wie die Rippen durchstoßen wurden. Der Wolf jaulte, doch anstatt zu fliehen, drang er mit unvermittelter Gewalt vor und versuchte, in Tyarks Hals zu beißen. Warmes Blut sickerte auf Tyarks Brust und verzweifelt stieß er erneut zu. Und danach nochmals. Und nochmals. Das gefletschte Wolfsgebiss war immer noch vor seinem Gesicht, helles Blut sickerte heraus. Gelbe Augen starrten ihn an – und erneut hatte Tyark den Eindruck, dass dort noch etwas anderes war, hinter diesen Augen. Etwas, das ...

Der hölzerne Kampfstab Zajas schlug wuchtvoll auf den Nacken des Tieres. Die Wirbel knirschten laut, als sie brachen. Das Leben wich widerwillig aus den Augen des Tieres, sein Körper sank endlich herab und blieb schwer auf Tyark liegen. Benommen blickte er in die toten Augen, in denen nun nichts mehr zu liegen schien. Er hörte irgendwo Pereo fluchen. Über allem schien ein einziges dunkles, durchdringendes Knurren zu liegen. Zajas weit aufgerissene Augen tauchten vor seinem Gesicht auf, sie sagte irgendetwas zu ihm.

Dann wurde der Leib des Tieres von seiner Brust getreten und seine Hand umschloss die von Zaja. Er richtete sich mühsam auf und spürte kaum, wie sich ein anderes Tier in seine Beinschiene verbiss. Verzweifelt versuchte er, das Gleichgewicht zu halten und schlug hastig auf den Wolf ein. Irritiert sah er, dass es noch ein Jungtier war. Sein Schwert hinterließ große Wunden im Pelz. Einer seiner Schläge trennte sogar der Vorderlauf des Tieres ab und dennoch griff es weiter an, völlig besinnungslos, die eigenen Verletzungen ignorierend ...

Ein machtvoller Hieb Pereos beendete den Kampf, indem er den Kopf des Tieres abschlug. Der Körper des Tieres blieb einen Moment stehen, als wüsste er gar nicht, dass er jetzt tot zu sein hatte. Einen Augenblick lang hatte Tyark die absurde Angst, der Schädel des Wolfes würde auch ohne Körper weiterbeißen. »Los, zur Hütte! Es ist ein ganzes Rudel!«

Tyark wusste nicht, ob es Jobdan oder Pereo war, der gerufen hatte, doch als er sich umsah wusste er, dass dies ihre einzige Chance sein würde, lebend aus diesem Kampf herauszukommen.

Von überall stürmten Wölfe heran, obwohl bereits vier oder fünf von ihnen tot oder sterbend am Boden lagen. Blut und Eingeweide machten den Rasen glitschig und Tyark hatte Mühe, einen festen Stand zu finden. Jobdan hatte nach dem verpassten Schuss seinen Bogen fallengelassen und stach nun seinem Jagdmesser immer und immer wieder auf einen Wolf ein, der sich in seinen Oberschenkel verbissen hatte.

Neben Tyark hielt Zaja mit schwungwollen Hieben zwei bösartig knurrende Wölfe auf Distanz. Auch diese griffen immer weiter an ...

Irgendwie erreichten sie trotzdem die Hütte und mit einem kraftvollen Tritt öffnete Pereo die verrottete Tür, nur um im nächsten Augenblick mit seinem Schwertknauf einem angreifenden Wolf die Schädeldecke einzuschlagen.

Ein anderer Wolf hatte sich in der Schulter Jobdans verbissen, dieser schrie vor Schmerz. Tyark hieb auf den Rücken des Tieres, bis dieses endlich vom Jäger abließ. Es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern, bis Pereo die morsche Tür hinter ihnen endlich schloss und mit den Füßen verrammelte. Doch die Tiere griffen weiter an und versuchten wie von Sinnen, durch die halb verfaulten Bretter der Tür hindurch zukommen. Knurrend und geifernd kratzten und bissen sie in das splitternde Holz.

»Tyark, hilf mir die Biester abzustechen! Los! Jobdan, Zaja! Das Fenster!«

Pereo hatte Mühe, die Tür geschlossen zu halten. Das Holz knirschte bedrohlich. Hinter sich hörte er Zaja und Jobdan verzweifelt auf Tiere einschlagen und –stechen, die durch eine Fensteröffnung oder das verrottete Holz der Wand hindurchdrängten. Gerade hatte er seine Klinge im Nacken eines Tieres versenkt, als ein besonders großer Wolf gegen die Tür sprang. Ein splitternder Balken des Türrahmens wurde von der Wucht des Aufpralls herausgesprengt und flog Tyark krachend an den Kopf. Er strauchelte, stürzte und schlug mit dem Hinterkopf auf den Boden auf. Um ihn wurde es dunkel.

Als Tyark die Augen öffnete, befürchtete er einen Augenblick, dass er tot war. Erst nach einem Augenblick erkannte er das ihn umgebende vertraute Zwielicht. Hastig stand er auf und blickte sich um. Er befand sich weiterhin in der Hütte. Er erkannte die halb zersplitterte Tür vor ihm und sah die seltsam durchscheinenden Körper der Wölfe, die gegen die Tür anrannten. Die Silhouette Pereos zeichnete sich davor ab, das große Schwert des Kriegers stach immer wieder auf die schattenhaften Gestalten der Wölfe ein.

Dann sah Tyark seinen eigenen Körper am Boden liegen. Hinter sich erblickte er Zaja und Jobdan. Ein Wolf war mit dem Kopf durch die morsche Rückwand gebrochen und hatte sich sogleich in Zajas Fuß verbissen. Zajas Gesicht war verzerrt, ihre Hände hielten ihrem Kampfstab, der scheinbar gerade nach vorne in Richtung des Wolfkopfes geschleudert wurde. Eine unheimliche Stille lag über dieser bizarren, Szenerie eines lautlosen Kampfes.

Eine Ahnung ließ Tyark sich umdrehen und er glitt durch die verschlossene Tür, durch die zuckenden Leiber der Tiere hindurch. Die Lichtung glomm in diffusem Zwielicht, die Bäume des angrenzenden Waldes waren nur als dunkle Schatten erkennbar, seltsam verdreht. Er trat einige Schritte aus der Tür und blickte sich um. Neben der Hütte waren die verschwommenen Felsen der Riesengrate zu sehen, sie schienen in diesem unbestimmbaren Licht leise zu flimmern.

Als er sich zur Mitte der Lichtung wandte, sah er die weiße Gestalt des großen Wolfes. Im Gegensatz zu den anderen hatte dieser recht klare Konturen – als sei er wirklich hier.

Tyark konnte deutlich sehen, wie der Wolf atmete und den Kopf hängen ließ. Ein leises Winseln schien aus der Richtung des Tieres zu kommen. Vorsichtig näherte er sich – und erkannte bald, dass es das gleiche Tier war, welches er während seiner letzten Vision im Dorf gesehen hatte. Es war die große Wölfin.

Das Tier machte keine Anstalten davonzulaufen oder anzugreifen. Es stand einfach nur mit gesenktem Kopf da und schien traurig in Richtung des Gebirges zu blicken.

Tyark stand nun direkt neben der Wölfin. Sie war ein prachtvolles Tier und reichte ihm bis an die Hüfte. Ihr Fell schien in einem ganz eigenen weißen Licht zu strahlen, leise bebte ihr mächtiger Brustkorb bei jedem Atemzug.

Intuitiv kniete Tyark vor der Wölfin nieder und betrachtete ihre dunklen Augen, welche aber direkt durch ihn durchzublicken schienen. Tyark hätte nicht sagen können, ob sie ihn überhaupt wahrnahm – auch wenn ihm seine Intuition dies sagte. Seine Hände umfassten wie von allein ihr kühles Fell, er spürte die rauen Haare und die weiche Haut darunter. Das Winseln der Wölfin war nun überall in seinem Kopf – und er spürte plötzlich ihre einfachen Triebe, ihre Instinkte. Jagd, Hunger, die Witterung fremder Wölfe, die Wärme der Sonne. Harte Winter in einer Höhle, Frost in den Pfoten, so etwas wie reflexhafte Sorge für das Rudel ... Tyark schloss die Augen, seine Hände fuhren in das dichte Fell am Hals des Tieres, suchend. Schon bald spürte er das Lederbändchen, welches sich merkwürdig warm anfühlte. Das Winseln in seinem Kopf wurde stärker.

Weitere Bilder tierischer Wahrnehmung zuckten durch seinen Verstand, mehr Geruch und Instinkt als Bilder und bewusstes Denken. Er sah die Welt aus den Augen der Wölfin. Er sah, wie ein dunkler Eingang auftauchte. Unnatürlich, von Menschen gemacht. Etwas zog an ihm, obwohl alle tierischen Instinkte, alle Intuition warnten. Dennoch musste er einfach in diesen dunklen Schlund eindringen ... Alter und Tod lagen in der abgestandenen Luft, intensive Angst war überall ...

Tyark öffnete die Augen. Die Wölfin blickte ihn mit hängender Zunge an, ihre Augen ruhten in den seinen. In seiner Hand hielt Tyark den warmen, dunklen Kiesel, das Lederband baumelte nutzlos um sein Handgelenk. Benommen starrte er auf den Stein – er hatte gar nicht bemerkt, dass er ihn dem Tier abgenommen hatte.

Plötzlich veränderte er sich, schien zu zerfließen. Tyarks Hand wurde wärmer. Der Stein veränderte seine Form, wurde immer länglicher, das Lederbändchen fiel zu Boden – das Gebilde in seiner Hand begann zu zucken. Tyark schrie auf – der Stein war nun kein Stein mehr, sondern in seiner Hand lag eine kleine, dunkle Schlange, die ihn aus dunklen Augenhöhlen bösartig anstarrte. Die doppelte Zunge züngelte über Tyarks Hand, glänzend zuckte der geschuppte Körper. Hastig schüttelte er seine brennend heiße Hand und die kleine Schlange fiel hinaus. Fast meinte Tyark so etwas wie eine Welle von Wut wahrzunehmen, welche sich von der Schlange ausbreitete. Doch noch bevor sie auf dem Boden aufkam, war sie zu dunklem Staub zerfallen, den ein nicht spürbarer Wind verwehte.

Tyark hielt verdutzt seine Hand, ein brennender Schmerz wie von einer Brandwunde breitete sich in der Handfläche aus. Die kam Wölfin näher und begann, Tyarks Hand zu lecken, ein leises Winseln begleitete sie. Staunend betrachtete er das große Tier und bevor er nach ihr greifen konnte, drehte sie sich flink um und trottete in den Wald aus wehenden Schatten davon.

Noch etwas benommen hockte Tyark auf der Lichtung – und wurde spürte auf einmal, wie er in seinen Körper zurückgezogen wurde. Zunächst weit entfernt, dann immer näher und intensiver spürte er die Schmerzen und die Verletzungen seines Körpers, eine große Müdigkeit, die auf jeder Muskelfaser, jedem Knochen lastete. Dann öffnete er seine wirklichen Augen und sah Pereos verschwitztes und besorgtes Gesicht über sich. Sein Kopf dröhnte, ihm war schwindelig.

Er setzte sich ächzend auf und sah vor sich die Körper von Wölfen liegen und zuckte zurück.

»Keine Sorgen, bleib ganz ruhig! Die beiden hier habe ich erledigt. Dir ist nichts weiter geschehen. Ein Holzteil der Tür ist dir an den Schädel geflogen und du bist hart auf den Boden aufgeschlagen. Hat dir dein Licht ausgeschaltet, wie es scheint.«

Ein gutmütiges Lächeln huschte über das verhärmte Gesicht des Kriegers. Mühsam stand Tyark auf und wurde dabei von Pereo gestützt.

Er blickte sich um. Hinter ihm lag ein weiterer Wolf mit blutüberströmtem Fell. Jobdan saß neben ihm am Boden, seine Lederrüstung hatte er abgelegt und Zaja säuberte eine böse aussehende Fleischwunde an der Schulter des Jägers. Zaja selbst hatte einige Schrammen abbekommen, ein Kratzer an der linken Seite ihres kahlen Schädels blutete. Der Pferdeschwanz an ihrem Hinterkopf wippte hin und her, als sie Jobdans Wunden pflegte.

Sie wandte sich lächelnd zu Tyark und sagte: »Gut, dass du wieder da bist! Du hast einiges verpasst! Nachdem du umgekippt bist, dauerte es nur wenige Augenblicke, bis die Wölfe sich plötzlich zurückgezogen! Auch die verletzten – trotz der rasenden Angriffe, welche sie zuvor noch verübt haben.«

Ihre Augen bekamen einen prüfenden Blick. »In die Flucht geschlagen haben wir sie jedenfalls nicht. Es ist fast so, als ob sie ... zurückgerufen worden seien.«

Mit Blick durch den zerschmetterten Teil der Seitenwand neben ihr fuhr sie fort: »Die große Wölfin ist auch verschwunden ... scheinbar ist das Rudel ihr gefolgt.«

Jobdan gab einen Schmerzenslaut vor sich, als Zaja wieder begann, seine Wunde zu reinigen.

Tyark trat aus der zersplitterten Tür und betrachtete die Lichtung, die fast genauso friedlich dalag, wie zu Beginn des Angriffs – bis auf die blutigen Wolfskadaver, die im Sonnenschein lagen und seltsam unwirklich schienen.

Pereo trat hinzu sagte leise: »Ein sehr großes Rudel. Und ihr Verhalten war wie bei unserer ersten Begegnung mit ihnen ... einfach falsch. Tiere benehmen sich so nicht. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Obwohl ich einen –« er zeigte mit seiner behandschuhten Hand auf einen am Waldrand liegenden Kadaver »– sauber aufgeschlitzt habe, hat er weiter angegriffen. Ich musste ihm mit dem Schwertknauf den Schädel zertrümmern. Damit er aufhört nach mir zu schnappen. Verfluchtes Biest!«

Tyark stimmte seinem Gefährten zu. Pereos grauweiße Zöpfchen waren teilweise auseinandergegangen und standen in wirren Strähnen von seinem Kopf ab. Seine schwere Lederrüstung hatte einige neue Kratzer bekommen und war blutverschmiert. Abgesehen von einigen oberflächlichen Wunden schien er aber vollkommen unversehrt geblieben zu sein. Ein starker Blutgeruch lag in der Luft und lockte bereits die ersten Fliegen an.

»Wir sollten die Kadaver in den Wald schaffen. Sie locken nur weiteres Viehzeug an.«

Tyark stimmte Pereo stumm zu und sie begannen, die toten Tiere möglichst weit von der Hütte in den Wald zu werfen. Am frühen Nachmittag hatten sie ihre blutige Arbeit beendet und saßen zusammen vor der Hütte. Pereo stand neben ihnen und beobachtete misstrauisch den Wald. Er war noch nicht so recht überzeugt davon, dass die Wölfe nicht wieder angreifen würden. »Die Wölfe scheinen erst einmal nicht wiederzukommen. Anscheinend haben sie genug von uns. Vorerst.«

Zaja blickte die anderen fragend an und sagte: »Wir sollten uns noch einmal in Ruhe die Hütte Noijanas anschauen, vielleicht finden wir ja irgendwelche Hinweise?«

Jobdan machte eine unschlüssige Handbewegung und blieb mit etwas bleichem Gesicht sitzen. Tyark und Zaja blickten sich unschlüssig an und betraten schließlich die halb verfallene Hütte. Schummriges Sonnenlicht fiel durch zahlreiche Löcher und Spalten auf den Staub im Inneren.

Der einzige Raum der Hütte roch intensiv nach dem Blut der getöteten Wölfe, nach Staub und nach altem Holz. Abgesehen von den frisch zersplitterten Hölzern und den Blutspuren auf den groben Bodenhölzern wirkte die Hütte seit Langem verlassen.

Neben der Eingangstür war ein großer Kamin in die Seitenwand der Hütte eingemauert worden. Die windschiefe Hütte war einst so gebaut worden, dass eine Seitenwand durch eine angrenzende Felswand gebildet wurde, in deren zahlreiche Spalten grobe Regale eingelassen worden waren. Im hinteren Teil stand ein morsches Bett mit halbzerfallenen Decken, gleich gegenüber der primitiven Kochnische und einem groben Tisch, vor dem zwei in Spinnenweben eingesponnene Hocker standen.

Tyark blinzelte in den Staub, der von dem Kampf mit den Wölfen aufgewirbelt worden war und seufzte leise. Interessiert betrachteten er mit Zaja zusammen ein hölzernes Regal, welches an die Kochstelle angrenzte. An ihm hingen Pflanzenbündchen, die allerdings bei Berührung zerbröselten. Sie rochen trotz ihres Alters immer noch würzig. Tyark entdeckte diverse Tiegelchen und Schälchen, in denen vereinzelt die krümeligen Reste von Pflanzen zu sehen waren.

Alles war eingerahmt von zahllosen, eingestaubten Spinnweben und war offenkundig schon viele Jahre nicht mehr berührt worden. Interessiert nahm Zaja einige dieser Gefäße in die Hand und roch prüfend an einigen. Mit einem eigentümlichen Funkeln in den Augen sagte sie: »Dies scheinen alchemistische Zutaten zu sein, wenn ich nicht irre! Einige wenige der Kräuter hier kenne ich ... aber die Bedeutung der anderen Dinge hier kann ich nur erraten.«

Sie beäugte misstrauisch einen Stößel aus glattpoliertem Stein, in den diverse Runen eingraviert worden waren.

Zaja kramte weiter in den halb verfallenen Habseligkeiten der unbekannten Frau, die hier einmal gelebt haben mochte. Auf einem der untersten Regalbretter fand sie schließlich einen kleinen Dolch, den sie mit einem Schulterzucken Tyark zeigte. Der Dolch war verrostet, aber immer noch sehr scharf und ebenfalls mit seltsamen Mustern und Runen versehen. Der Griff war kunstvoll verziert und hatte einen dunklen, glatt polierten Stein im Knauf. Unschlüssig legte Tyark den Dolch zurück und betrachtete ratlos ein weiteres Schälchen mit fast staubigen Pflanzenresten, die einst vielleicht kleine, gelbe Blüten gewesen sein mochten, nun aber bereits bei leichter Berührung zu feinem Staub zerfielen.

Tyark hörte Zaja hinter sich murmeln und sah, wie sie in der Feuerstelle herumstocherte. Plötzlich bemerkte er aus der Richtung des Bettes eine Bewegung, obwohl außer ihm und Zaja niemand anders in der Hütte war. Er zuckte zurück, seine Hand fuhr an den Schwertgriff. Auch Zaja hatte etwas bemerkt und war zusammengezuckt. Hastig richtete sich auf und warf Tyark einen unsicheren Blick zu. Dann runzelte sie die Stirn und ging langsam in Richtung des Bettes. Schließlich schnaufte sie und nahm vorsichtig einen metallenen Gegenstand von der Wand, welcher auf Tyark wie ein kleiner Metallteller wirkte, an den jemand einen schmalen Griff geschmiedet hatte. Etwas darin schien sich zu bewegen – ein kalter Schauer jagte Tyark den Rücken herunter. Doch Zaja lächelte bloß und murmelte etwas Unverständliches. Sie begann, mit dem Ärmel ihrer Kutte auf dem verstaubten Metallteller herumzureiben. Etwas in dem Gegenstand schien sich zu bewegen – dann verstand Tyark, was Zaja in der Hand hielt. Es war ein Spiegel!

Verblüfft trat er näher und bestaunte den kunstvoll verzierten und geriffelten Metallrahmen mit dem darin eingelassenen Glas. Vorsichtig fuhr er mit seinem Finger über die kühle und fast vollkommen glatt wirkende Oberfläche. Sie war lediglich mit dunklem Staub beschlagen und dadurch überall dort blind, wo Zaja nicht mit ihrem Ärmel geputzt hatte. Verzückt fuhr sie mit ihrer Hand über den Metallrahmen und sagte dann: »Ein Spiegel ... wie sonderbar! Ich habe schon vorher den ein oder anderen gesehen, allerdings nur aus glattpoliertem Metall. Der hier scheint tatsächlich aus Glas zu bestehen – er muss ein Vermögen wert sein!«

Sie biss auf ihre Unterlippe und fuhr nachdenklich fort: »Er wirkt wirklich alt! Ich meine, viel älter als diese Hütte hier. Ich frage mich, ob er vielleicht sogar von den Nihilim gefertigt wurde, so kunstfertig, wie er ist! Ein wahrhaft fürstlicher Gegenstand!«

Tyark betrachtete interessiert sein Ebenbild in der reflektierenden Glasoberfläche. Sein Gesicht war trotz des dunklen Teints und der dunklen, buschigen Augenbrauen, die ihn hier nördlich seiner Heimat zuverlässig als Fremden kennzeichneten, fast so fahl wie das von Zaja. Eine große rote Schramme zog sich über seine Stirn. Seine Wangen wirkten hohl und er fühlte die Gewissheit, dass die fast ein Jahr andauernde Flucht ihre Spuren in seinem eigentlich noch jungen Gesicht hinterlassen hatte. Bartstoppeln zogen sich über die Wangen und das Kinn bis an den Hals, Schmutz und Blutspritzer zeugten von dem vergangenen Kampf. Seine Nase schien etwas größer, als er sie sich vorgestellt hatte und unsicher betastete er sie, um das Bild des Spiegels mit der Wirklichkeit zu überprüfen.

Tyark betrachte seine braunen Augen, in denen das heimliche Feuer zu brennen schien, für das die Blutlinie seine Familie einst bekannt gewesen war. Sein Ebenbild erzitterte plötzlich, als Zaja damit begann, an der Rückseite des Spiegels zu kratzen. Erstaunt sagte sie schließlich: »Sie mal was hier hinter dem Spiegel befestigt war.«

Sie zeigte ihm einen kleinen, zu einem kleinen Bündel zusammengeflochtenen Zopf aus Haaren. Er war staubig und schien ebenfalls schon viele Jahre alt zu sein. Tyark sah, dass die Haare einst von einem reinen, goldenen Blond gewesen sein mussten.

»Es scheint fast so eine Art ... Andenken zu sein?«

Zaja blickte Tyark fragend an und rief dann mit einem Stirnrunzeln Jobdan an, der draußen leise mit Pereo redete. Jobdan trat polternd in die Hütte ein und blickte Zaja fragend an. Zaja sagte: »Jobdan, wir haben hier einen keinen Haarzopf gefunden. Hm, weißt du noch, welche Haarfarbe Noijana gehabt hat? War es blond?«

Jobdan überlegte kurz und sagte dann: »Nein, soweit ich noch weiß, soll sie sehr langes, schwarzes Haar gehabt haben.«

Tyark spürte Gänsehaut auf seinem Rücken, während Jobdan nachdenklich fortfuhr: »Aber ihre Schwester soll dafür blondes Haar gehabt haben. Zumindest hat Sirindt, der alte Schafskopf, einmal gesagt, sie hätten viele Tage nach der blonden Schwester Noijanas gesucht, nachdem sie im Dorf aufgetaucht ist.«

Zaja blickte Tyark mit einem vielsagenden Blick an und sagte dann leise: »Anscheinend hat sie ihre Schwester doch noch wiedergefunden. Später.«

Sie seufzte stirnrunzelt und befestigte den Zopf wieder an der Rückseite des Spiegels. Beinahe zärtlich berührte sie den kunstvollen Rahmen, der aus purem Silber zu bestehen schien und sagte zögerlich: »Eine merkwürdige Geschichte. Ich meine, mit Noijana, die einfach aus dem Nichts aufgetaucht ist. Und ihrer Schwester, die sie anscheinend später wiedergefunden hat. Ich frage mich wirklich, was hier passiert ist! Woher ist Noijana gekommen? Wohin ist sie verschwunden? Und was hat sie hier oben all die Jahre getan?«

Sie seufzte. Dann sagte sie munter, während sie den Spiegel vorsichtig Tyark reichte: »Ach ja! Bevor du den Spiegel gefunden hast, hatte ich hier doch etwas gesehen ...«

Sie hockte sich vor die Feuerstelle und stocherte in der harten Asche herum, während sie von Tyark dabei skeptisch beobachtet wurde. Dann lachte sie und hielt Tyark strahlend einen kleinen Gegenstand entgegen – es war ein halb verbranntes und stark verfärbtes Papierstück. Zaja ging zu einem Loch in der Wand und hielt ihren Fund in die fahlen Sonnenstrahlen. Mit zusammengekniffenen Augen untersuchte sie den Zettel und sagte triumphierend: »Hier sind noch einige Worte zu erkennen! Es scheint etwas geschrieben zu sein ... das Pergament zerfällt fast, ich muss vorsichtig sein.«

Nach einiger Zeit fuhr sie fort: »Es sind Worte in der Kaiserlichen Schrift, es sind nur noch wenige zu sehen, die meisten leider vollkommen unleserlich.«

Sie runzelte die Stirn und fuhr zögerlich fort: »Ein paar Worte kann ich noch entziffern: ‚Ich‘ dann heißt das hier ‚wiedersehen‘. Das hier könnte ‚Freude‘ heißen. Hm, am Schluss steht noch ‚In Liebe‘. Der Name ist leider auf dem verbrannten Teil, natürlich!«

Enttäuscht kehrte sie an die Feuerstelle zurück und suchte nach weiteren Teilen des Papiers, fand aber nichts. Mit schmutzigen Händen und Aschespuren im Gesicht stand sie schließlich auf und lächelte Tyark verschmitzt an: »Das hier ist ein echtes Rätsel, genau das Richtige für mich! Ich würde meinen Pferdeschwanz darauf verwetten, dass dieser Brief von ihrer Schwester stammte! Von der im Übrigen auch dieses lange Haar stammt.«

Mit einem zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht nahm sie sich wieder den Spiegel und betrachtete das Haar auf der Rückseite. Tyark verzog anerkennend das Gesicht und fragte dann: »Offensichtlich konnte Noijana lesen – ich frage mich wirklich, woher sie stammte! Ich meine, ein einfaches Bauernmädchen kann doch nicht lesen! Und hat schon gar nicht einen solch wertvollen Spiegel.«

Zaja biss sich erneut auf die Unterlippe und sagte zustimmend: »Das ist in der Tat äußerst rätselhaft. Sie scheint von gewissem Stand gewesen zu sein, vielleicht die verstoßene Tochter eines Adligen?!«

Mit forschenden Blick fragte sie: »Wo wir gerade von der Abstammung sprechen – wo hast eigentlich du das Lesen gelernt? Oder haben wir etwa jemanden von Stand unter uns ... ?«

Sie blinzelte schelmisch mit einem Auge und Tyark musste unwillkürlich schmunzeln. »Nein, von Stand bin ich nicht wirklich. Mein Vater hat allerdings für die Präfektur des Salbatan Tal Ramadat, dem Fürsten von Nai’Alabat gearbeitet. Das Lesen ist bei den Turkmin, so nennt sich mein Volk, nicht so, äh, exklusiv, wie es hier zu sein scheint. Auch Menschen niedrigeren Standes erhalten oft eine gewisse Schulbildung, sofern es der ihnen zugeteilte Beruf erfordert. Und mein Beruf wäre der eines –« er suchte nach der passenden Übersetzung »– eines ... Handelskorrespondenten gewesen.«

Er verzog das Gesicht zu einem schiefen Lächeln. »Dabei hatte ich als Kind immer davon geträumt, in die Schlacht zu ziehen und Abenteuer zu erleben. Feinde zu erschlagen, Pferde zu reiten und so weiter ...«

Die Erinnerungen an seine Flucht verdunkelten sein Gesicht und er sagte leise: »Als Kind konnte ich mir natürlich nicht vorstellen, was es heißt, wirklich in eine Schlacht ziehen zu müssen.«

Er bemühte sich, zuversichtlich zu klingen, was ihm aber nur teilweise gelang. »Aber Abenteuer habe ich dann doch noch genug erlebt. Auch wenn mir ein Sprichwort meines Volkes nicht mehr aus dem Kopf gehen will: Gelobt seien langweilige Zeiten, auf dass sie ewig anhalten mögen!«

Zaja lächelte traurig und nickte. Ihre dunklen Augen ruhten in einer Art und Weise auf seinem Gesicht, die ihn aus irgendeinem Grund unruhig machte. Das fahle Licht in der Hütte verdunkelte sich weiter, als die Silhouette Pereos neben der Jobdans auftauchte. »Was ist denn hier los? Welche Geheimnisse habt ihr dieser modrigen Bretterbude entlockt?«

Als Zaja und Tyark zu Pereo blickten, bemerkte Tyark etwas im Augenwinkel, das ihm plötzlich die Haare sträuben ließ. Im Spiegel waren deutlich die dunklen Gestalten von ihm und Zaja zu sehen, ebenso wie die Seitenwand der ärmlichen Hütte im Hintergrund. Als er aber den Kopf in Richtung der Tür gewandt hatte, war er sich sicher gewesen, kurz die dunklen Umrisse einer dritten Gestalt gesehen zu haben, die scheinbar zwischen ihm und Zaja gestanden hatte. Mit klopfendem Herzen hatte er rasch wieder in den Spiegel geschaut – doch dort hatte ihm nur sein eigenes Antlitz entgegen gestarrt.

Bei Sonnenuntergang hatten sie die Hütte soweit in Stand gebracht, dass sie zumindest kurzfristig einem neuerlichen Angriff würde standhalten können. Tyark bezweifelte allerdings insgeheim, dass sie weitere Angriffe der Wölfe zu befürchten hatte. Die Gründe hierfür behielt er allerdings für sich, auch wenn er in Zajas Gesicht deutlich lesen konnte, dass sie misstrauisch war, dass die Wölfe sich so plötzlich zurückgezogen hatten.

Pereo und Tyark waren bis auf kleinere Kratzer unverletzt geblieben. Zajas rechter Fuß hatte eine nicht sonderliche tiefe Bisswunde abbekommen, ihr Lederstiefel hatte das meiste abgehalten. Jobdan wiederum hatte nicht nur eine tiefe Wunde an der Schulter, sondern auch diverse tiefe Kratzer und einen Biss am Oberschenkel davongetragen. Zaja war schließlich mit Begleitung von Pereo in den nahen Wald gestiegen und hatte nach nützlichen Heilkräutern gesucht.

Ihre Ausbeute war beachtlich gewesen, da sie recht bald über einzelne, völlig verwilderte Pflanzungen gestolpert war, die wahrscheinlich noch von Noijana angelegt worden waren.

Staunend und mit fast abergläubischer Furcht hatten Pereo und Jobdan den Spiegel betrachtet. Pereo hatte ihn vorsichtig in seine großen Pranken genommen und auf seine Waffentauglichkeit überprüft, ihn dann aber mit einem verächtlichen Schulterzucken Zaja zurückgegeben. Tyark war allerdings aufgefallen, dass der Krieger sein eigenes Gesicht sehr lange im Spiegel betrachtet hatte – als ob Pereo einen Fremden gesehen hätte.

Auch Tyark empfand beim Anblick des Spiegels ein Unbehagen, welches er versuchte, mit seiner wahrscheinlich irrtümlichen Wahrnehmung am Nachmittag zu erklären ... immer wieder hatte er einen Blick in den Spiegel geworfen und immer voller Angst, dort etwas zu sehen, was nicht hätte sein dürfen. Doch der Spiegel war ein ganz normaler Spiegel geblieben – und dennoch war er froh, dass Zaja diesen zu gerne in ihre Habseligkeiten übernahm.

»Der Kodex des Ordens verbietet es mir als Schülerin, mehr das zum Leben notwendige mit mir herumzutragen. Ein Spiegel, der sicher einige Dutzend Goldstücke wert sein dürfte, steht mir selbstverständlich nicht zu. Sobald wir in Lindburg angekommen sind, werde ich ihn Bruder Goswin anvertrauen.«

Dennoch erwischte Tyark sie später öfter dabei, wie sie heimlich in den Spiegel blickte und sich selbst betrachtete.

***

In der Nacht hatten Tyark und Pereo sich beim Wachehalten abgewechselt, doch abgesehen von irgendwelchen Kleintieren, die sich an den Wolfskadavern zu schaffen machten, gab es keinerlei Auffälligkeiten. Einmal in den frühen Morgenstunden hatte Tyark allerdings den deutlichen Eindruck gehabt, aus dem Dunkel des Waldes aus beobachtet worden zu sein. Er war vorsichtig einige Schritte in Richtung der nahen Baumgrenze gegangen, doch nichts war zu sehen gewesen. Am nächsten Morgen suchte er mit einem recht bleichen Jobdan die Stelle auf und sie entdeckten in der Tat Wolfsspuren – da allerdings überall um die Lichtung herum solche Spuren zu entdecken waren, ließ sich unmöglich sagen, ob diese letzte Nacht oder bereits davor entstanden waren.

Noch am Vormittag brachen sie auf, Pereo hatte darauf bestanden, dass alle ihre Rüstungen anlegten, damit sie auf eventuelle Angriffe vorbereitet seien. Jobdan führte sie über den steilen Felshang, der das Ende der Lichtung markierte, hinauf in karstige Felsen, Spalten und kleinere Täler, in denen nur selten größere Flächen bewaldet waren. Seiner Einschätzung nach würden sie den Abhang, an dem sein Freund in den Tod gestürzt – oder gesprungen? – war, am frühen Nachmittag erreichen.

Jobdan hatte Schmerzen und wirkte sehr nervös. Am Abend stellte Zaja besorgt ein leichtes Fieber bei ihm fest. Als sie die Wunde an seiner Schulter untersuchte, konnte Tyark sehen, dass sie sich bereits entzündet hatte.

Der nächste Tag wurde bestimmt von ihrer mühevollen Wanderung über die schroffen und scharfkantigen Felsen. Oft genug mussten sie sich über Geröllfelder hangeln, an deren Ende ein jäher Sturz drohte.

Selbst Tyark kam seine leichte Lederrüstung unendlich schwer vor, er schwitzte Bäche, obwohl die Sonne bereits gegen Mittag hinter dicken Wolken verschwunden war. Er glaubt schon fast nicht mehr daran, dass sie jemals ankommen würden, als Jobdan endlich seine Hand hob und erschöpft ausrief: »Da vorne ist es!«

Vor ihnen lag ein ödes und steiles Geröllfeld, an dessen Ende eine tiefe Schlucht ins Bodenlose zu fallen schien. Es war deutlich, dass dieser Felssturz erst wenige Wochen alt sein konnte.

Völlig erschöpft ließ sich Tyark neben Zaja fallen, während Pereo und Jobdan vorsichtig die Seite des losen Geröllfeldes abschritten. Obwohl Tyark nicht verstehen konnte, was die beiden besprachen, wirkte Jobdan sehr aufgeregt. Verschwitzt und ermattet kamen die beiden schließlich zurück. Ächzend setzte sich Jobdan hin und lehnte sich an einen großen Felsen hinter sich. »Der Durchgang ist nicht mehr da!«

Mit leicht geröteten Augen blickte er Tyark und Zaja an. Vorsichtig fragte Tyark: »Bist du sicher, dass dies die richtige Stelle ist?«

Mit großer Bestimmtheit antwortete Jobdan: »Ja. Ich bin mir vollkommen sicher, dass es hier war! Ich erkenne die Stelle, niemals könnte ich sie vergessen! hundert Meter weiter unten habe ich Steine auf den Leichnam meines Freundes geschichtet. Es war hier. Der Durchgang war genau dort.«

Er zeigte mit einer leicht zitternden Hand auf eine Stelle im Geröllhang, etwa vierzig Meter von ihnen entfernt. Tyark konnte nichts erkennen, der Geröllhang sah für ihn allerdings auch überall gleich aus.

Pereo trat hinzu und erklärte auf einen Fels gestützt: »Wahrscheinlich hat es einen erneuten Bergsturz gegeben. Der Eingang wird wieder verschlossen worden sein. Es wäre zu gefährlich, in diesem Geröllhaufen danach zu suchen. Der Berg kann jederzeit wieder ins Rutschen kommen – dieses Geröll ist tückisch.«

Leise fragte Zaja: »Wo sollen wir weiter suchen? Meinst du, die Kinder sind durch diesen Durchgang gegangen?«

Jobdan ließ mit zusammengekniffenen Lippen seinen Blick über die Geröllhalde schweifen und blieb dann bei den majestätisch in den Himmel ragenden Felsspitzen der höchsten Gipfel stehen. »Ich weiß es nicht. Als ich mit Frade hier war, hatte es einen Felssturz gegeben – ob der Eingang nicht schon vorher dagewesen ist, kann ich nicht sagen. Auszuschließen ist es nicht. In diesem Teil der Grate kommt es häufig zu Felsstürzen, man muss sehr vorsichtig sein – wir nennen die Hänge hier deshalb auch die Felsenflüsse. Wo heute noch ein Weg war, kann morgen schon alles für viele Jahre verschüttet sein. Oder Übermorgen bereits ganz anders aussehen ... wir sollten in der Nähe nach Spuren der Kinder suchen. Allerdings bezweifle ich, dass wir nach so langer Zeit noch welche finden werden – aber eine andere Idee habe ich nicht.«

Sie hatten den gesamten Nachmittag damit verbracht, die Gegend um diesen Hang nach weiteren Spuren der Kinder abzusuchen. Doch sie fanden nichts.

Entweder, das Wetter hatte die Spuren verwischt oder die Kinder waren tatsächlich durch den Tunnel gegangen, den auch Jobdan und sein Freund gefunden hatten. Betreten saßen sie später an einem kärglichen Feuer, welches im kräftigen Wind hier oben knisterte und flackerte.

Ihre Zelte hatten sie an einem verkrüppelten Baum befestigt, der seine knotigen Wurzeln zwischen die dunkeln Felsbrocken gebohrt hatte und zumindest etwas Schutz vor den Angriffen des Windes bot.

Anerkennend klopfte Pereo an den Stamm des Baumes und erklärte: »Ich mag Bäume, die sich an solchen Stellen behaupten können. Er ist zwar nicht sehr groß, aber kann dennoch gut hundert oder mehr Sommer alt sein! An den Felsenflüssen wächst normalerweise nicht viel. Und was die Felsstürze überlebt, wird normalerweise schnell vom Wind erledigt.«

Zweifelnd betrachtete Tyark die knorrige Rinde des Baumes, doch Pereos Begeisterung mochte nicht so recht auf ihn überspringen.

Zaja, die in einen der auf der Lichtung gepflückten Äpfel biss, fragte: »Wir haben nichts gefunden. Ich denke, die Kinder sind durch diesen Durchgang gegangen, es erscheint mir auch ... logisch. Egal was Rynn getrieben hat – er muss mit großer Eile hier heraufgestiegen sein. Und er hatte sieben Kinder bei sich! Es ist sowieso vollkommen erstaunlich, dass er es überhaupt geschafft hat, ohne in den Tod zu stürzen ... ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er noch viel weiter gekonnt hätte.«

Jobdan entgegnete erschöpft: »Vielleicht hatte er ... Hilfe? Ein normaler Mann hätte keinen Grund, eine solch schreckliche Tat zu vollbringen. Es sei denn, er handelt im Auftrag von etwas ... anderem.«

Jobdan warf Zaja einen dunklen Seitenblick zu. Zaja runzelte die Stirn und sagte dann aufgebracht: »Ohne Beweise verbitte ich mir, dass du Rynn unterstellst, mit dunklen Mächten im Bunde gewesen zu sein! Es war immerhin ein Bruder des Ordens! Und wir wissen nicht, was mit den Kindern ist. Auch wenn die Indizien gegen Rynn sprechen, so verlange ich im Namen des Ordens die Achtung, die jedem Bruder so lange zusteht!«

Leise fügte sie hinzu: »Wenigstens so lange, bis seine Schuld zweifelsfrei bewiesen ist.«

Jobdan wollte etwas entgegnen, wurde aber durch Pereo unterbrochen, der seine Hand auf Jobdans Schulter sinken ließ.

Zaja beruhigte sich etwas und sagte dann versöhnlich: »Allerdings stimme ich dir zu – hier ist etwas im Gange, das ganz und gar nicht dem Herzen eines einzigen Mannes entspringen konnte! Die Spuren, die wir in seiner Hütte fanden deuten ja darauf hin, dass er ... in irgendeiner Verbindung zu jemand anderem stand. Da ihr aber damals keine anderen Spuren gefunden habt, müssen wir zunächst annehmen, dass keine weiteren Helfer zugegen waren, als Rynn mit den Kindern hier herumkletterte. Ob ... andere Kräfte im Spiel waren, ist letztlich eine Frage, deren Antwort uns verborgen bleiben muss. Zumindest vorläufig. Die Frage, die uns jetzt interessieren sollte, ist, wie wir weitermachen. Ich möchte die Suche keinesfalls abbrechen, wo wir so weit gekommen sind!«

Darin stimmten ihr alle zu, auch Jobdan nickte missmutig. In die ersten Regentropfen hinein fragte Tyark: »Wohin mag dieser Gang eigentlich geführt haben? Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand einfach nur einen Gang in den Felsen gräbt, ohne dass dieser irgendwo endet ... vielleicht gibt es noch einen anderen Einstieg?«

Unschlüssig hatte Jobdan seinen Kopf in den Nacken gelegt und presste eine Hand leise stöhnend auf seine Schulterwunde. Ächzend sagte er: »Du magst recht haben, Tyark. Ich hatte damals auch den Eindruck, dass dieser Gang ... zu einem größeren Bauwerk im Berg gehörte.«

Leise fügte er hinzu: »Vielleicht einer alten Festungsanlage der Nihilim, wenn die Göt ... äh, die Großen Alten uns weiter prüfen wollen ...«

Tyark ließ seinen Blick über die mächtigen Flanken des Berges streifen. Er biss sich auf die Lippe und nickte stumm zu sich selbst. Dann sagte er: »Ich denke, dies ist der einzige Anhaltspunkt, den wir momentan haben, oder nicht? Wo könnten wir einen weiteren Eingang finden? Eine Festung hat doch immer mehrere Eingänge!«

Eine Weile war nur der Wind zu hören, wie er sich an den scharfkantigen Felsen brach. Dann sagte Jobdan leise: »Ich weiß es nicht. In diesem Teil der Grate sind mir keine Festungen bekannt, auch wenn es sie mit Sicherheit geben wird. Manche behaupten, die gesamten Grate seien eine einzige große Festung der Nihilim ... Aber ich jage Wild und keine Schätze oder irgendwelche –« er schüttelte abfällig mit der Hand »– Artefakte oder wie Zaja das genannt hat! Wenn es hier irgendwelche anderen Eingänge gibt, so weiß ich nichts davon. Hätte ich davon gewusst, wäre ich schon damals in einen gestiegen und hätte das aufgespürt, was Frade sein Leben gekostet hat.«

Tyark sah deutlich, wie diese letzte Lüge noch einige Momente auf Jobdans Gesicht verweilte, bis sie schließlich vom Regen davongewaschen wurde.

»Ich glaube, ich weiß, an wen wir uns wenden könnten.«

Erstaunt blickten sie Pereo an, der ruhig aufgestanden war und mit leerem Blick die Rinde des Baumes begutachtete, den er bereits vorhin bestaunt hatte. Dann wandte er sich um und blickte sie mit funkelnden Augen an. Mit einer ausladenden Geste zeigte er auf einen fernen, von dichtem Wald umsäumten Gipfel, dessen Spitze von Wolkenfetzen umhüllt wurde. Er brummte: »Der Trollbauch. Soweit ich weiß, graben an seinem Fuß stets eine Handvoll wagemutiger Männer nach Gold und Karfunkeln. Ich denke, sie haben sogar kleinere Stollen angelegt. Leben den ganzen Sommer hier oben und kehren Winters heim in ihre Dörfer. In Felsquell habe ich mal einen von ihnen in der Gastwirtschaft getroffen. Ziemlich harter Hund. So verrückt wie mutig, wenn ihr mich fragt ...«

Jobdan stand hastig auf und sagte mit fiebrigen Augen: »Ja ... sie müssten den Berg gut kennen! Besser als wir vielleicht sogar! Wenn hier Eingänge in irgendwelche alten Festungen zu finden sind, dann wissen sie vielleicht davon. Wir sollten ihr Lager aufsuchen und fragen!«

Pereo ergänzte: »Es sollten von hier etwa zwei Tagesreisen sein, wir müssen über den Großen Troll gehen.«

Er zeigte auf eine halb in den Wolken liegende Gebirgsformation: »Zunächst am Fuß herauf, dann über den Arm und schließlich sollten wir gut zum Trollbauch gelangen ...«

Der Regen wurde heftiger und mit einer Mischung aus Hoffnung und Angst vor dem beschwerlichen Aufstieg blickte Tyark auf das vor ihm liegende Gebirge.

Er konnte sich kaum vorstellen, wie jemand hier oben freiwillig seine Sommer verbringen mochte. War es Mut oder schlichte Verzweiflung, die Menschen zu brachte, hier nach Schätzen zu suchen?

Tyark seufzte, als er wieder an die Kinder denken musste. Was war hier, an den finsteren Kämmen der Riesengrate geschehen? Wie wahrscheinlich war es noch, dass die Kinder noch lebten?

Aber vielleicht kam es auch nicht unbedingt darauf an, sie lebend wiederzufinden. Vielleicht war es für die Eltern schon eine Wohltat, wenigstens ihren Tod bestätigt zu wissen.

***

Der Weg zum Großen Troll erwies sich als beschwerlicher, als sie erwartet hatten. Als habe sich das Wetter gegen sie verschworen, regnete und stürmte es häufig, dazu breitete sich abends und nachts eine bittere Kälte in ihren klammen Kleidern aus.

Einen Tag lang machten sie in einem tiefen und dicht bewachsenen Tal Rast, um ihre Vorräte durch Beeren und Frischfleisch zu ergänzen, sie fingen aber nur drei magere Hasen.

Die dichten Wälder verwandelten sich vielerorts in schlammige und sumpfige Feuchtgebiete, oft brauchten sie einen halben Tag für eine Strecke, die bei gutem Wetter in viel weniger zu schaffen gewesen wäre. Es gab allerdings keine weiteren Wolfattacken und auch sonst hielten sie die zahlreichen Wesen der Grate zurück, die sich hier verstecken mochten.

Tyark hatte während der vergangenen Tage immer wieder das nagende Gefühl gehabt, beobachtet zu werden. Einmal bildete er sich sogar ein, einen dunklen Schatten durch das Unterholz huschen zu sehen, aber in den Regenschleiern war das unmöglich mit Bestimmtheit zu sagen gewesen.

Sie waren schließlich bereits drei Tage unterwegs. Die letzte Nacht hatten sie einer kleinen, kalten Höhle verbracht, in der sie zahlreiche Knochen kleinerer Tiere gefunden hatten – jedoch keine Spuren von Pratanen mit ihren langen Fangfäden. Die Wurzeln zahlreicher Bäume waren durch die Höhlendecke gebrochen und hingen gespenstisch von der Decke. Wasser lief an ihnen herab und das rhythmische Geräusch der fallenden Wassertropfen war allgegenwärtig. »Morgen dürften wir endlich am Trollbauch ankommen.«

Pereo hielt sich an einer der Wurzeln fest und blickte mit undurchdringlichem Blick in den Nebel, der draußen vor der Höhle die Regenschleier abgelöst hatte. Jobdan hustete krampfhaft und murmelte etwas Unverständliches. Er war die letzten Tage immer kränker geworden und hatte manchmal sogar Schüttelfrost gehabt. Dennoch hatte er darauf bestanden, die Reise fortzusetzen. Der Jäger hatte eine Zähigkeit an sich, die wohl allen Bewohnern der Grate eigen war und die Tyark früher auch schon an Pereo aufgefallen war. Wahrscheinlich war diese Zähigkeit eine Voraussetzung, um überhaupt hier überleben zu können.

Zaja kümmerte sich aufopfernd um ihn und in einer haarsträubenden Aktion sammelte sie von einem dürren Baum, der sich bedrohlich über eine tiefe Schlucht neigte, sogar irgendwelche Früchte, von der sie sich eine heilende Wirkung versprach.

Später saßen sie zu dritt am qualmenden Feuer, welches sie am Eingang der kleinen Höhle angezündet hatten. Jobdan hatte sich früh zurückgezogen und lag nun in unruhigem Schlaf in einer der hinteren Ecken zwischen zwei großen Felsbrocken.

»Es geht ihm nicht gut.«, sagte Zaja mit bedrücktem Blick in den hinteren Teil der Höhle.

»Die Wunde ist stark gerötet und ständig kommt Eiter heraus. Auch einige der tiefen Kratzer haben sich entzündet. Es ist gut, dass wir morgen bei den Bergleuten ankommen, er braucht dringend Ruhe! Den Alten sei Dank wurden wir nicht weiter von diesen Biestern angegriffen.«

Sie war einen schnellen Seitenblick auf Tyark. Vor zwei Tagen hatte er ihr von seiner seltsamen Begegnung mit dem Wolf im Zwielicht erzählt, während sein Körper betäubt am Boden gelegen hatte. Zaja hatte interessiert zugehört und schließlich darauf bestanden, so schnell wie möglich zu ihrem Mentor Goswin zu gehen, sobald sie wieder in der Stadt Lindburg sein würden.

Besonders verwirrend war es für Tyark, dass er so plötzlich und aus heiterem Himmel diese Fähigkeit bekommen hatte. Nie zuvor war er diese Art von Träumen gehabt oder etwas Ähnliches erlebt. Als er Zaja darauf angesprochen hatte, war auch sie ratlos geblieben. »Ich ... weiß hier leider auch keinen Rat. Der Orden interessiert sich zwar sehr für die Beschaffenheit der Seele und auch die Krankheiten, welche die Seele befallen können. Aber deine ... Erlebnisse gehen, gelinde gesagt, weit darüber hinaus. Ich bin mir aber sicher, dass Goswin Rat wissen wird! Er ist ein sehr gelehrter Mann und ich bin immer wieder überrascht, über welches Wissen er verfügt!«

Tyark erinnerte sich noch gut an ihren warmen Blick, als sie gesagt hatte: »Vielleicht ist deine Gabe ein Geschenk der Großen Alten, Tyark! Vielleicht kannst du sie einsetzen, um Gutes zu tun – so wie du es anscheinend bereits getan hast!«

Die nächste Nacht verlief ruhig, nur Jobdan schien sich nicht richtig erholt zu haben und war bleicher als am Abend zuvor. Dennoch bestand er darauf, noch an diesem Tag den Aufstieg zu beginnen.

Während sie den Trollbauch bestiegen, musste Pereo Jobdan manchmal stützen, da dessen Knie nachzugeben drohten.

»Er wird immer schwächer. Hoffentlich erreichen wir das Berglager heute noch. Mitten in den Graten kann eine solche Infektion schnell das Ende bedeuten.«, sagte Zaja, als sie gegen Mittag unter zwei großen, alten Nadelbäumen Rast machten, die ineinander verwachsen waren.

Pereo, der seine Hand an einen der Stämme gelegt hatte, sagte brummend: »Das sind die beiden Liebenden. Das Berglager müsste dort oben sein.«

Mit einer vagen Handbewegung zeigte er in Richtung einer scharfkantigen Felsformation in der Ferne und fuhr fort: »Dahinter beginnt das Trollbauchtal. Das ist der letzte Ort, von dem ich noch weiß. Was weiter im Norden kommt, weiß niemand. Am Ende des Tals finden wir das Lager. Dort vorne ist ein kleiner Bach. Füllt eure Wasserschläuche nach. Wir brechen bald wieder auf.«

Tyark wollte die Gelegenheit nutzen, sich das erste Mal seit vielen Tagen gründlich zu waschen. Nachdem er seine Ausrüstung ausgebessert hatte und Jobdan dabei geholfen hatte, zu sehr verdorbenes Obst aus ihrem Vorrat zu sortieren, brach er zu dem nahegelegenen Bächlein auf.

Die Sonne blinzelte ab und zu durch die dichten Wolken und Tyark genoss die frische Luft hier im Gebirge, auch wenn er teilweise mit einer seltsamen Atemnot zu kämpfen hatte, die laut Pereo normal war, wenn ein »Flachländer« in die Grate hinaufstieg. Nach einigen Monaten habe man sich aber an die dünne Luft hier oben gewöhnt. Tyark hoffte allerdings, schon vor Ablauf dieser Zeit wieder heraus aus diesem Gebirge zu sein!

Plötzlich blieb er stehen. Etwas war anders – dann bemerkte er, wie seine Handflächen kribbelten. Tyark brauchte einige Augenblicke, bis er wusste, was es war. Er hörte plötzlich keine Vögel mehr singen, die sonst im ganzen Wald ihren leisen Gesang ertönen ließen. Der Wald war auf einmal totenstill geworden, die Natur schien den Atem anzuhalten.

Er ging einige Schritte weiter und als er durch das dichte Unterholz brach, blieb er auf einer kleinen Lichtung stehen, die ein umgestürzter Baumriese gerissen hatte.

Dann sah er sie. Mehrere Krähen saßen auf dem gewaltigen Baumstamm, im umringenden Buschwerk und auf niedrigen Ästen. Tyark blieb stehen. Die Krähen blinzelten ihn an und erneut hatte Tyark das Gefühl, dass hinter diesen schwarzen Augen etwas Fremdes saß, das ihn anblickte. Wie schwarzes Glas. Und dahinter ... ein Beobachter schoss es ihm durch den Kopf.

Als ob sie seine Gedanken gelesen hätten, begannen die Krähen laut zu Krächzen und flatterten mit den Flügeln, blieben aber alle auf ihren Zweigen sitzen. Tyark bekam eine Gänsehaut. In den Augen der Krähen lächelte es, fast wirkte ihr Krächzen jetzt wie ein Lachen. Tyark sah sich um und erblickte unweit von ihm einen kleinen Felsbrocken. Er bückte sich und nahm den Felsen in die Hand, prüfte das Gewicht. Die Krähen saßen still auf ihren Ästen und beobachteten ihn aufmerksam aus ihren kleinen schwarzen Äuglein.

Tyark trat näher an sie heran, den Fels drohend in der Hand. Die Tiere zeigten sich immer noch vollkommen unbeeindruckt. Tyark gab drohende Laute von sich und wedelte mit den Armen, den Fels zum Wurf bereit. Doch die Krähen zeigten keine Reaktion, mit zur Seite gedrehten Köpfen starrten sie ihn stumm an.

Tyark warf. Der Wurf war nicht schlecht gezielt, dennoch flog das Felsstück knapp über die Köpfe einer kleinen Gruppe von Krähen und polterte in einen Busch. Bis auf das Rollen des Felsens irgendwo im Unterholz gab es keine weiteren Geräusche. Die Krähen saßen weiterhin da, nur ein schwaches Krächzen war die höhnische Antwort.

Tyark jagte ein Schauer den Rücken hinunter. Jetzt war er sich sicher, dass die Tiere, oder etwas, ihn geradezu auslachten. Hastig sah er sich um und entdeckt einen weiteren Stein, der sich zum Werfen eignete. Er hob ihn auf und zielte diesmal genauer. Er warf – doch bevor der Stein sein Ziel treffen konnte – und das hätte er diesmal getan – flogen die Krähen blitzartig auf und flatterten laut krächzend in den Himmel. Der Stein streifte noch den Flügel einer der Krähen und verschwand dann im Unterholz. Mit rasendem Herzen sah Tyark den Tieren nach, während sie hinter den Baumwipfeln verschwanden.

Er wartete einige Augenblicke, bis sich sein Herz beruhigt hatte. Hatten diese Krähen etwas mit ihr zu tun? War es mit diesen Vögeln wie mit den Wölfen? Ihm graute es vor dem, was er als bloße Ahnung hinter den arglistigen Augen dieser Tiere gesehen hatte ... oder was auf ihn von dort zurückgeblickt hatte!

Er sah sich um, konnte aber keine weiteren Krähen mehr sehen. Nun war auch wieder Vogelgesang zu hören, zaghaft zunächst, aber rasch lauter werdend, die Natur schien auszuatmen.

Es brauchte eine Weile, bis seine Knie wieder sicher auftreten konnten, ohne zu zittern. Die letzten Meter zum Bach schaffte er ohne weitere Probleme und fast wäre ins Wasser des kleinen Baches gefallen, welcher sich versteckt zwischen den Wurzeln der Bäume und groben Felsbrocken durch den Wald schlängelte.

Aus dem Augenwinkel sah er eine Bewegung und war einen Augenblick lang überzeugt, dass weitere Krähen dort saßen ... und diesmal nicht nur beobachten würden. Diesmal würden sie ihre scharfen Schnäbel benutzen und ihm ins Gesicht fahren ... Doch dann erkannte er Zaja, die mit dem Rücken zu ihm hinter einer Biegung des Baches im Wasser stand. Sie war unbekleidet und hatte ihn anscheinend nicht gehört. Eigentlich hätte er ihr zurufen sollen, um sich bemerkbar zu machen, doch er blieb einfach nur stehen und beobachtete die Bewegungen ihres schlanken Körpers, als sie ihren Pferdeschwanz wusch und wieder hinter dem Kopf zusammenknotete. Auf ihrem Rücken waren deutlich einige vernarbten Striemen zu sehen, die sie während ihrer Gefangenschaft im Kerker zugezogen haben musste.

Als sie begann aus dem Wasser zu waten, konnte Tyark sehen, dass sie um die Hand– und Fußgelenke ebenfalls vernarbte Male hatte. War sie sogar einmal längere Zeit angekettet gewesen?

Zaja war mittlerweile am Ufer angekommen und begann, ihre Gewandung anzuziehen. Die Reise über die Grate hatte deutliche Spuren hinterlassen. Ihr drahtiger Körper war von blauen Flecken, Striemen und verkrusteten Wunden überzogen. Doch seltsamerweise erschien gerade das reizvoll für Tyark. Von ihren flachen Brüsten tropfte Wasser, als sie ihre Haare auswrang. Tief in sich spürte Tyark ein Verlangen, das er fast schon vergessen hatte. Er spürte einen Stich in der Magengegend. War es Verrat an Mayra, dass er so über eine andere dachte?

Tyarks Blick wurde glasig. Wie ein leiser Windhauch wehte ein fremdartiger Gedanke in seinem Kopf umher. Es war die Gewissheit, wie sehr Zaja doch verblasste ... im Glanze der ewigen, perfekten Schönheit, die er in der unheimlichen Frau gesehen hatte. Eine Kerze, die man vor die Sonne gestellt hat: so klein, so voller Makel ... und so zerbrechlich ... so schwach! flüsterte es in seinem Kopf. So menschlich.

Er runzelte seine Stirn und schalt sich selbst. Wie konnte er so etwas über Zaja denken! Tyark zwang sich dazu, an die tiefe und grausame Schwärze zu denken, die er doch ebenfalls in dieser Frau, oder was auch immer sie war, gespürt hatte! Dort war nicht nur zeitlose Schönheit und Anmut gewesen! Dort war auch etwas, das nur darauf wartete, ihm die Seele zu zerfetzen!

Er blickte Zaja an – diese stutzte und blickte ihn direkt ins Gesicht. Etwas zuckte um ihre Augen und ohne Hast bückte sich nach ihrer Gewandung und kleidete sie sich weiter an. Tyark fühlte sich wie ein kleiner Junge, der bei etwas Schändlichem ertappt worden war. Beschämt grüßte er Zaja und trat unsicher von einem Bein aufs andere.

Zaja kam auf ihn zu und während Tyark nur eine schwache Entschuldigung murmeln konnte, sagte sie schlicht: »Ich bin fertig, du brauchst nicht länger warten. Der Bach gehört ganz dir.«

Tyark spürte, wie er rot wurde. Doch Zaja war längst an ihm vorbeigegangen und verschwand ohne weitere Worte in Richtung des Lagers.

***

Es war bereits früher Nachmittag, als sie endlich am Beginn des Trollbauchtales angekommen waren. Der Regen hatte aufgehört, war aber dafür von einer drückenden Schwüle abgelöst worden. Schwere, unheilvolle Wolkentürme waren bereits am Horizont zu erkennen und wirkten auf Tyark wie Zeigefinger, die drohend im Himmel standen.

Fliegen und blutsaugende Insekten umschwärmte die kleine Gruppe, als sie auf einer kleinen, grasbewachsenen Anhöhe stehend den unter ihnen liegenden Wald überblickten. Am Ende des Waldes erhob sich ein steiler Abhang in Richtung des Gipfels und verschwand zwischen bizarren Felszacken. »Dort hinten – ich glaube, man kann dort ein Haus erkennen?«

Zaja blinzelte in Richtung des Trollbauches, der sich dunkel und riesig am Ende des Tales in den Himmel erhob. Pereo nickte und sagte: »Ja, ich denke auch, dass es ein Haus ist. Ich meine sogar, irgendwelche Holzgerüste zu erkennen. Sie scheinen an der Flanke des Berges aufgebaut zu sein.«

Jobdan hustete schwach und sagte leise: »Ja, dort muss es sein. Wir haben es geschafft, endlich ... Wir müssen im Tal aufpassen. Am Trollbauch soll es eine große Styga geben ... Und schon die erste hat gereicht, bei den Alten ...«

Jobdan warf noch einen Blick auf die anderen und schritt dann unsicher die Anhöhe herab in den Wald.

Wie von Pereo angenommen, führte ein kleiner Pfad durch das Trollbauchtal, der allerdings meist nicht viel mehr war, als lose zusammenhängende Wildpfade. Die Bergleute benutzten wohl weiter östlich liegende Wege für ihre Reise, wie Pereo vermutete. Am Fuße einer mächtigen Kiefer stießen sie jedoch bald auf eine schon lange verlassene Feuerstelle und die Überreste eines Holgestells, welches einmal eine Stütze für Zeltplanen gewesen sein könnte.

Pereo stocherte im dichten Gras des Waldbodens und zeigte den anderen ein kleines, verrostetes Schnitzmesser, welches er halb in der Erde versunken gefunden hatte. »Zumindest sind vor einiger Zeit Menschen hier vorbeigekommen. Immerhin.«

Tyark betrachtete das kleine Messerchen, als wäre es ein kleiner Schatz – war es doch immerhin der erste Hinweis auf andere Menschen, seit sie vor einer gefühlten Ewigkeit aufgebrochen waren! Die halbverfaulten Äste des Gestells wiesen allerdings darauf hin, dass sie schon lange keine Menschen mehr gesehen haben konnten.

Den Pfad betrachtend sagte Jobdan: »Mir scheint, der Pfad führt südöstlich der Grate herunter. Wahrscheinlich am Gor’gata–Moor vorbei. Ich denke, dass Menschen hier zuletzt vor einigen Monaten vorbeigekommen sein müssen. Dort hinten habe ich auch Knochen gefunden, die von Hühnern zu stammen scheinen.«

Sie rasteten nicht lange und so schnell es Jobdans angeschlagene Gesundheit zuließ, eilten sie durch das Trollbauchtal, der Flanke des Berges entgegen. Während die spärlichen Sonnenstrahlen die Hänge und Felsen in helles, warmes Licht tauchten, waren die Schatten hier im Wald so kühl, dass Tyark unvermittelt frösteln musste. Auch Zaja schien es nicht anders zu gehen. Vor einigen Tagen hatte sie laut über diese verdammte Kälte geflucht und Tyark gesagt, dass sie ihn um seine südliche Herkunft beneide.

Tyark musste unwillkürlich lächeln, als er an das staunende Gesicht Zajas dachte, das sie gemacht hatte, als er ihr vom roten Sand der Wüste Nafratan erzählt hatte. Als Kind war er über die bis zu dreißig Meter hohen Dünen geritten und hatte mit seinem Vater zusammen die bizarren Felsformationen bestaunt, die der immerwährende, scharfe Wind geformt hatte.

Er hatte immer davon geträumt, eine der gelben Nafratan’Ibis zu finden. Sonnentöchter, wie sie in der Sprache seines Volkes genannt wurden. Kleine gelbe Blumen, von denen nur sehr wenige Menschen behaupten konnten, sie vielleicht schon einmal gesehen zu haben. Sie wuchsen ausschließlich in der Wüste und blühten nur manchmal, nach dem seltenen Regen, der durchaus zwanzig Jahre oder länger auf sich warten lassen konnte. Ihnen wurde die Fähigkeit zugeschrieben, einen geheimen Wunsch des Finders erfüllen zu können und die Sagen seines Volkes waren voll von Geschichten, in denen Wünsche in Erfüllung gingen, von denen der Wünschende nicht einmal geahnt hatte – vielleicht deshalb nicht immer mit glücklichem Ende. Tyark betrachtete Zajas schönes Gesicht, als er ihr davon erzählte. Er fragte sich unwillkürlich, was er sich wohl wünschen würde, sollte er in diesem Augenblick eine der sagenumwobenen Blüten in der Hand halten ...

Plötzlich zupfte Zaja ihn an seinem Ärmel und Tyark hielt inne. Auch Pereo und Jobdan hatten angehalten und musterten den Wald zu ihrer Linken. Tyark brauchte nur wenige Augenblicke, um zu sehen, was die Aufmerksamkeit seiner Gefährten geweckt hatte. Ein Teil des Waldes auf der linken Seite sah anders aus. Die Bäume waren etwas kleiner als die im restlichen Wald, außerdem waren die Blätter etwas heller. Auch schienen sie mehr unter Krankheiten zu leiden, was zahlreiche holzige Geschwulste bezeugten. Ohne Zweifel war hier erneut eine Styga in der Nähe. »Wir sind hier wieder am Rand einer Zone. Man kann es wirklich gut an den Bäumen erkennen – Glück für uns.«

Zaja versuchte, durch das Dickicht zu spähen und blickte dann Tyark an. »Aber versuche bitte diesmal nicht, das Zentrum der Zone zu finden! Auch wenn dort angeblich manchmal Kobolde ihre Goldschätze verstecken ...«

Tyark lächelte gequält. Bei dem Gedanken an die letzte Styga lief es ihm immer noch kalt den Rücken runter, auch schien er sich immer noch nicht recht erholt zu haben. Am eindringlichsten aber erklang in ihm immer noch das Krächzen der Krähe, während sie auf diesem seltsamen Quader hockte, der aus der Erde geragt hatte. Eine Krähe, die selbst im Sterben noch versucht hatte, ihn in die Falle zu locken ...

Ein fernes Donnern, seltsam lange nachhallend, scheuchte die Gefährten auf. Jobdan mahnte sogleich zu Eile, sein fiebriger Blick suchte den dunklen Himmel ab, von dem zwischen den Bäumen aber nur ein schmaler Ausschnitt zu sehen war. Er ächzte laut, als er versuchte, den Arm der verletzten Schulter zu bewegen.

Tyark hatte das Unwetter noch gut in Erinnerung, welches sie vor ein paar Tagen auf dem Felsplateau erlebt hatte. Fast instinktiv suchten seine Augen nach Anzeichen von Kyrasfeuern, doch es waren keine zu sehen. Heftige Windböen ließen die Bäume rauschen und fuhren ihnen rau in die Kleidung. Zajas Haarzopf flatterte wild im Wind, als sie sich weiter in die Richtung des vermuteten Berglagers kämpften.

Die ersten schweren Regentropfen zerplatzen bereits auf ihrer Kleidung, als sie endlich am Waldrand ankamen. Der Pfad trat nun deutlicher aus dem Unterholz hervor und führte über einen felsigen Hang direkt in Richtung von zwei größeren Häusern, die halb verborgen zwischen Felsformationen lagen. Zu ihrer Rechten war eine kleine Wiese, die von einem sehr einfachen Zaun umgeben war. Dahinter lagen weitere kleine Felder, Tyark erkannte in einem davon ein ärmliches Weizenfeld, die teilweise stark ramponierten Pflanzen schaukelten in den heftiger werdenden Windstößen. Das neue Unwetter war nun schon sehr nah. Ein heller Blitz durchschnitt diese Dämmerung hinter ihnen, bald gefolgt von einem ohrenbetäubenden, mächtigen Donnergrollen.

Tyark und Zaja zuckten merklich zusammen, nur Pereo stand eisern vor der brodelnden Natur. Das Regenwasser rann an ihm herab und er erinnerte Tyark unwillkürlich an die Statue eines mächtigen Kriegers. Tyark schreckte beinahe auf, als sich diese Statue ihm plötzlich zuwandte und Pereos dringlich klingende Stimme zu hören war: »Wie müssen uns beeilen! Rasch, zum Haus!«

Als ob die Natur auf dieses Signal gewartet hätte, begann der Gewittersturm nun erst richtig zu toben. Zunächst erschien es Tyark, als ob jemand mit einem kleinen Steinchen nach ihm geworfen hätte – doch bald begannen Myriaden von Hagelkörner zu fallen, durchmischt von Regen und begleitet von Donnerschlägen, die den Berg unter ihnen scheinbar erschütterten. Gleich einer bizarren Musik prallten die Hagelkörner mit hellen Tönen gegen die metallenen Rüstungsbeschläge Pereos. Die letzten hundert Meter rannten sie alle.

Als sie endlich auf der Höhe des Haupthauses angekommen waren, war es bereits so dunkel, als sei es mitten in der Nacht. Eisregen bohrte sich wie Nadeln in Tyarks Gesicht, als er es wagte, das Haus zu betrachten, vor dem sie standen. Alle Fenster waren dunkel und er konnte keine Anzeichen dafür erkennen, dass hier irgendwer wohnte.

Auch fiel ihm nun ein, was ihn schon die ganze Zeit beschäftigt hatte: Er hatte bereits vorhin keinerlei Rauch gesehen. Wenn die Bergleute hier Erze oder Edelsteine suchten, brauchten sie Feuer dazu. Doch alles an diesem Ort lag dunkel und trotz des Unwetters wenig einladend vor ihnen.

Auch Zaja schien dieselben Gedanken zu haben, denn sie schien im Lauf zu stocken. Pereo war trotz seiner Größe und seiner schweren Ausrüstung als erster an der Eingangstür zum Haupthaus angelangt. Diese war aus schweren Bohlen zweckmäßig zusammengezimmert und schien ihren Zweck gut zu erfüllen.

Das Haus selbst hatte ein solides Fundament aus großen, dunklen Steinen, die vor langer Zeit geschickt aufeinander gestapelt worden waren. Darauf war ein stabiles Fachwerk errichtet worden, welches zwar teilweise von Moosen bewachsen, aber dennoch in überraschend gutem Zustand schien. Das Dach selbst war mit hölzernen Schindeln gedeckt, von denen allerdings einige fehlten wie Tyark aus der Nähe sehen konnte.

Er sah nun auch ein weiteres, viel kleineres Gebäude, das abseits lag und in den dunklen Regenschleiern fast verschwand. Nur während der hellen Blitze konnte Tyark erkennen, dass es keine Fenster hatte und lediglich aus Holzbrettern gezimmert schien – wie Tyark vermutete, diente dieses Gebäude eher der Arbeit denn dem Wohnen.

Die um sie herum tobende Natur fraß alle anderen Geräusche und so konnte Tyark nur sehen, dass Pereo, während er gegen die Tür klopfte, zu rufen schien. Und er konnte einen Moment einen verdutzten Blick in Pereos Auge sehen, als die Tür sogleich einen Spalt weit aufsprang.

Vorsichtig trat Pereo in den dahinterliegenden, dunklen Raum ein. Tyark drängte mit Zaja und Pereo nach, durchnässt bist auf die Knochen und frierend. Zaja schloss als letzte die Tür hinter sich, welche nur angelehnt gewesen sein mochte.

Jobdan sank sofort mit einem leisen Stöhnen neben der Tür zusammen und blieb mit geschlossenen Augen und leise zitternd auf der Türschwelle hocken.

Draußen schien die Welt nun geradezu unterzugehen. Der Sturm war schnell zu einem regelrechten Orkan angewachsen und heulte durch die Ritzen im Mauerwerk und die geschlossenen Fensterläden. Triefend und zitternd brüllte Pereo gegen die Natur an: »Das ist ein echter Buran! Uns bleibt auch wirklich gar nichts erspart, fürwahr!«

Das hölzerne Skelett des Hauses knirschte, als die schweren Böen dagegen anbrandeten. Im hinteren Teil des Hauses hörte Tyark Wasser laufen, wahrscheinlich durch eines der Löcher, die Tyark draußen gesehen hatte. Von draußen drang kaum Licht hinein und so standen sie tropfend im dunklen Eingangsbereich des Hauses und sahen voneinander nur dunkle Schatten – sie schienen alleine hier zu sein. Überall war nur gähnende Dunkelheit und außer der tosenden Melodie des Windes war kein anderes Geräusch zu hören.

»Wo sind die Bergleute?«, sagte Zaja hinter ihm, als ob sie seine Gedanken erraten hätte.

»Ich weiß es nicht.«

»Vielleicht haben sie sich in den Berg zurückgezogen? Um sich vor diesem Wetter zu schützen?«

Tyark versuchte, zuversichtlich zu klingen – obwohl er den Eindruck hatte, dass in dieser Dunkelheit so etwas wie ein Geruch lag. Etwas, das ihm bekannt vorkam und nichts Gutes zu bedeuten hatte.

Pereo begann, mit seinem Feuerstein Funken zu erzeugen und bald erleuchtete eine kümmerliche Kerze, die in einer Halterung neben der Tür angebracht gewesen war, den Eingangsbereich. Die kleine Flamme knisterte und flackerte bedrohlich in den Windstößen, welche von der Tür her wehten.

Tyark konnte die Anspannung in Pereos Stimme hören, als dieser brummte: »Wir müssen die Feuerstelle suchen und uns wärmen. Und wir brauchen Licht. Ich frage mich wirklich, wo die Bergleute geblieben sind!«

Er blickte die anderen mit funkelndem Auge an, auch in seinem Gesicht lag tiefe Sorge. Sie schritten durch den Durchgang zu ihrer Linken und kamen in einen großzügig bemessenen Raum, der mit mehreren groben Tischen und Hockern vollgestellt war. An den Wänden waren spärliche Regale befestigt und über der wuchtigen, aus groben Felsen gemauerten Feuerstelle war ein schäbig aussehendes Wolfsfell angebracht.

Während Jobdan eine zweite Kerze anzündete, die er aus einer weiteren Halterung neben dem Eingang zu diesem Raum genommen hatte, lauschte Tyark in dunkler Faszination in das Toben des Sturms und das Knarren des Holzes.

Ansonsten war im Haus nichts zu hören und der Staub, welcher überall auf den Möbeln lag, ließ nicht vermuten, dass in letzter Zeit hier jemand gewesen war. Er trat an einen der Tische und betrachtete die Gegenstände, die darauf standen. Er sah vier Teller aus Holz sowie drei irdene Krüge – als er sich hinüberbeugte, konnte er auch graue Reste von Staub und Schimmel auf etwas entdecken, das wohl einmal Nahrung gewesen sein mochte.

Tyark schluckte und sah sich in dem dunkeln Raum um. Jobdan hatte inzwischen eine zweite kümmerliche Kerze angezündet. Ihr Licht schickte unruhige Schatten in den Raum, die um sie herum zu tanzen schienen, als Jobdan einen Hustenanfall mühsam zu unterdrücken versuchte. Pereo machte sich in der Zwischenzeit an der Feuerstelle zu schaffen und große Erleichterung durchflutete Tyark, als endlich die ersten Flammenzungen zaghaft begannen, das Holz zu umzüngeln. Als das knisternde Feuer an Größe gewann, wurde der Raum vom tröstlichen Schein des Feuers ausgeleuchtet.

Zaja hatte sich fröstelnd neben den Kamin gestellt und versuchte, ihre durchfrorenen Glieder zu wärmen. Ihre Augen starrten dunkel in das unruhige Feuer. »Wir sollten alle Räume durchsuchen ... um sicherzugehen, dass keiner hier ist.«

Pereos dunkles Auge schien undurchdringlich. Tyark nickte ihm wortlos zu. Jobdan winkte ab und verkündete hustend, dass er besser hier am Feuer bleiben wolle. Kaum hatte er das gesagt, schloss er bereits seine Augen und sank total erschöpft am Feuer nieder. Zaja kniete sich sofort nieder und kümmerte sich sanft um den Verletzten.

Tyark schritt derweil den großen Raum ab, doch mehr als ein weiteres Essgeschirr mit zu Staub zerfallenem Essen und einem kleinen Bündel Kleidung konnte er nicht entdecken. Am anderen Ende des Raumes war eine große Schnitzerei an der Wand befestigt. Jemand hatte in mehrere große Holzbretter durchaus kunstvoll eine Jagdszene geschnitzt.

Da schepperte etwas laut und alle zuckten kurz zusammen. Mit seinem Fuß hatte Tyark versehentlich einen Gegenstand umgestoßen, der auf den groben Bohlen des Bodens gelegen hatte. Er hob ihn auf – es war eine kleine Öllampe. Tyark schüttelte sie vorsichtig und stellte fest, dass noch Öl im Bauch der Lampe übriggeblieben war. Er entzündete die Lampe und ging in den kleinen Eingangsbereich zurück, wo Pereo die Eingangstür mit einem schweren Riegel verrammelt hatte.

Wie ein rasendes Tier rüttelte der Orkan draußen an den Brettern der Tür und kurz fürchtete Tyark, sie würde vielleicht nicht standhalten. Er folgte Pereo durch den Durchgang zu ihrer Rechten in einen Raum, aus dem es schon vorher nach verdorbenen Lebensmitteln gerochen hatte.

Wie Tyark vermutet hatte, war hier die Küche dieser kleinen Siedlung untergebracht. In diesem kleinen Raum herrschte großes Durcheinander: Überall lagen Töpfe, Pfannen und Essgeschirr umher, dazwischen waren vollkommen verdorbene Lebensmittel zu finden.

Ratlos blickten Pereo und er sich an, keiner von ihnen brauchte auszusprechen, was sie alle befürchteten. Sie sind weg – nein, sie sind hastig aufgebrochen. Haben alles zurückgelassen ... dachte Tyark verwirrt, während er das kleine zitternde Flämmchen der Lampe im Raum umherschwenkte. Pereo deutete auf einen dunklen Schatten im Boden. Eine offen gelassene Lucke führte direkt in einen finsteren Schacht, nur eine hölzerne Leiter führte hinunter.

Tyark zuckte zusammen, als Zaja von hinten an sie herantrat. Leise sagte sie: »Jobdan geht es sehr schlecht. Seine Wunde sieht böse aus – ich müsste wieder Kräuter suchen gehen, aber in diesem Inferno da draußen würde ich wohl kaum dieses Haus wiederfinden!«

Sie seufzte und lauschte einen Moment dem Heulen des Sturmes. Dann rümpfte sie die Nase und fragte: »Täusche ich mich, oder riecht es hier nach Verwesung?«

Pereo nickte stumm und zeigte auf den dunklen Schacht, der sich unter der Lucke im Küchenboden auftat. Tyark warf einen Blick hinein, doch er konnte nur Dunkelheit sehen. Ratlos blickte er Pereo an, der ebenfalls unschlüssig in den Abgrund vor ihnen stierte. »Einer von uns ...«

Tyark brach ab, er brauchte den Satz nicht beenden. Pereo schüttelte heftig den Kopf. Mit ungewohnt unruhiger Stimme sagte er rasch: »Ich ... nein, ich kann das nicht. Es ist so eng da unten. Ich ... habe Probleme mit kleinen, engen Räumen, seit ...«

Er sprach nicht weiter, trat aber schnell einen Schritt zurück und fuhr mit heiserer Stimme fort: »Ich war lange genug ... eingesperrt in einem Kerker. Die Horde hatte mich mit einigen anderen Soldaten gefangengenommen. Zum Verhör. Oder wie auch immer man das nennen möchte. Ich war ... der letzte von uns. Tagelang oder wochenlang haben sie mich in einem kleinen Verlies eingepfercht. Wie ein Tier. Ich konnte mich kaum bewegen. Die Luft war knapp.«

Pereo war fast an der Wand hinter sich angelangt und tastete mit einer Hand an ihr entlang. Tyark spürte einen Kloß im Hals und beruhigte seinen Gefährten schnell: »Ich werde gehen, kein Problem. Wartet hier oben.«

Er spürte Zajas Hand auf seiner Schulter. »Sei vorsichtig da unten.«

Er nickte ihr kurz zu und warf beim Hinunterklettern einen letzten Blick auf Pereo, der mit weit aufgerissenem Auge beobachtete, wie Tyark die knarzende Leiter hinunterstieg.

Der Fäulnisgeruch war hier unten viel intensiver als in der Küche selbst. Der Schacht selbst war vielleicht drei Meter tief und schon bald hatte Tyark den felsigen Boden erreicht. Er schwenkte die Lampe umher und tastete nach dem Griff seines Kurzschwertes. Der Schacht schien direkt in den Fels gegraben worden zu sein. Erde und grobe, unbehauene Felsen bildeten die Wand. Etwa zwei Meter vor ihm machte der Schacht einen Knick nach links, von dort schien der starke Fäulnisgeruch zu kommen.

Hier unten war der Orkan nur schwach zu vernehmen, er konnte hören, wie Zaja oben leise zu Pereo sprach. Ihre Stimme hörte sich beruhigend und eindringlich an – und besorgt. Obwohl es in diesem dunklen Schacht sehr kühl war, spürte Tyark schon bald den Schweiß auf der Stirn.

Vorsichtig ging er weiter den Schacht hinunter, der Geruch wurde fast unerträglich intensiv. Mit rasendem Herzen leuchtete er vorsichtig um die Ecke – obwohl er keine Geräusche vernehmen konnte, rechnete er fast damit, gleich irgendein Scheusal, ein Monster zu sehen, welches die Bergmänner nach hier unten geschleppt hatte, wo es sich nun seit Wochen an ihren Knochen vergnügte. Sie sind bei mir ... sie existieren hier, für immer ... schweben in meiner grenzenlosen Liebe flüsterte es plötzlich in seinem Kopf und Tyark zuckte zusammen. Er kniff die Augen zusammen und zwang sich, ruhiger zu atmen. Das alles bildete er sich nur ein – er musste jetzt ruhig bleiben!

Als er seine Augen wieder öffnete, waren seine Gedanken wieder frei und er erblickte einen kleinen Raum, nur schwach von seiner zitternden Lampe erhellt. Grobe Regale säumten die Wände, auch hier waren Obst und andere Lebensmittel untergebracht gewesen. Wuchernde Pilze hatten sich über das Holz ausgebreitet und verströmten einen modrigen Geruch. An einem Haken in der Decke baumelte eine grobe, unförmige Masse – der starke Verwesungsgeruch ging eindeutig von hier aus.

Angewidert und mit Angst im Herzen trat Tyark näher und sah schließlich erleichtert, dass nur eine verweste Schweinehälfte vor ihm hing – einen kurzen Moment lang hatte er gedacht, es sei vielleicht ein Mensch, den man hier aufgehängt hatte.

Tyark blickte sich rasch in der winzigen Kammer um – vielleicht war ja noch etwas nicht ganz verdorben und für sie von Nutzen? Er fand einen staubigen, aus Rindenstreifen geflochtenen Korb mit wohl zwei Dutzend getrockneten Äpfeln darin, daneben standen drei größere verschlossene Töpfe, die vielleicht – wie Tyark hoffte – eingelegtes Obst oder Marmelade enthielten. Sorgsam in Stoff eingewickelt fand er auch gut ein Dutzend Stücke Dörrfleisch, die noch nicht verdorben schienen. Hoffentlich ist der Gestank des Schweines nicht überall eingezogen, dachte er.

Eine drückende Beklemmung überkam ihn und plötzlich hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Hastig wandte er sich um – ihn erfüllte das unerträgliche Gefühl, dass etwas hinter ihm war. Dass sich gerade in diesem Moment ein paar Augen in seinen Rücken bohrten und gleich vielleicht scharfe Krallen ... Mit großer Mühe beruhigte er sein rasendes Herz. Außer ihm war niemand in der winzigen Kammer – es gab keinen Grund für diese Ängste!

Mit großer Überwindung bewegte er sich betont langsam zur Leiter und legte dort die gefunden Nahrungsmittel ab. Mit kratziger Stimme rief er nach Zaja. Einen Augenblick lang war er überzeugt, dass kein Gesicht zu sehen sein würde ... dass sie ihn alle verlassen hatten, während er dort unten gewesen war.

Doch dann tauchte das in Schatten liegende Gesicht Zajas über der Kante auf und große Erleichterung durchflutete ihn. Er rief nach oben: »Hier unten ist nur verdorbenes Fleisch! Ich habe hier vielleicht noch was gefunden, das wohl nicht verdorben ist. Hoffe ich jedenfalls. Helft mir mal eben, ich möchte schnell aus diesem Loch heraus ... !«

Er lächelte etwas kläglich. Niemand kann dich lieben wie ich dich lieben werde – für immer!

Tyark fuhr herum, beinahe wäre ihm die Lampe aus der Hand gefallen. Es war sie gewesen! Er hatte sie so deutlich gehört, als würde sie hinter ihm stehen. Doch hinter ihm war nur das Dunkel des Schachtes.

»Tyark? Alles in Ordnung da unten? Ist dort was?«

Zajas Stimmte klang besorgt. Sein Herz raste – war dieses Flüstern wieder nur Einbildung gewesen? Oder war es wirklich sie gewesen?

Er starrte angestrengt in das Dunkle des Schachts, doch bis auf den Orkan draußen war nichts zu hören und auch nichts zu sehen. Und wieder spürte er diesen eigenartigen Zwiespalt in seiner Seele: Ein Teil von ihm sehnte sich merkwürdigerweise geradezu danach, sie zu hören, sie zu spüren. Dieser Teil würde sich ihr sofort ergeben, sollte sie es von ihm verlangen ... Und doch war dort noch der andere, stärkere Teil von ihm, der wusste, dass die Frau in Wirklichkeit etwas ganz anderes war, als sie vorgab zu sein. Dieser Teil von Tyark hatte den Hunger der Frau gespürt.

Tyark seufzte schwer. Hastig begann er, die Lebensmittel nach oben zu reichen und mit jeder Sprosse fühlte sich sein Herz leichter an und die Erinnerung an das Flüstern in seinem Kopf verblasste rasch.

Nachdem Sie die Nahrungsmittel bei Jobdan untergebracht hatten, durchsuchten sie den Rest des Hauses. Neben dem Aufenthaltsraum und der Küche führte lediglich eine knarrende Holztreppe unters Dach, wo sich sechs einfache, strohgedeckte Betten unter das schräge Dach duckten.

Tyark und Zaja stiegen als erstes die Treppe zur Schlafstatt hinauf. Das Licht der kleinen Öllampe vermochte den Raum, der über die ganze Länge des Hauses reichte, nur spärlich zu erleuchten. Neben manchen Betten standen flache Tische und einzelne Hocker, an den Wänden waren drei größere Bauernschränke untergebracht. Bei manchen standen die Türen offen und gaben den Blick frei auf staubige und oft von Schimmel fleckige Kleidung, die teilweise achtlos aus den Schränken heraushing.

Pereo hatte sich unten an der Treppe postiert, war aber nicht weiter hinaufgestiegen, als er die Enge des Dachbodens gesehen hatte – Tyark konnte es ihm nicht verübeln. Er fragte sich heimlich und schaudernd, was Pereo erlebt haben musste, dass er trotz seines Mutes und seiner Stärke Angst vor so etwas Harmlosen wie engen Räumen hatte!

Durch mehrere Stellen im Dach tropfte Wasser hinein, durch ein kleines Dachfenster am anderen Ende des Raumes drang zuckend das Licht der im Orkan tobenden Blitze.

»Alles voller Staub hier ...«, murmelte Zaja, während sie sich an den ersten Betten zu schaffen machte.

»Die Decken liegen wild verteilt herum, hier hat sich niemand die Mühe gemacht, aufzuräumen ...«

Sie stockte und hustete, als eine Staubwolke aus einer der Decken aufwallte. »Es scheint, als seien sie in aller Eile aufgebrochen. Zu ihr

Tyark hatte es gedankenverloren mehr zu sich selbst gesprochen und fast fühlte er sich ertappt, als er Zaja zusammenzucken sah. Sie richtete sich auf und blickte Tyark erstaunt an. Leise fragte sie: »Zur ihr? Hast du wieder was geträumt? Oder hier etwas gesehen ... oder gespürt? Sag es mir, es könnte wichtig sein!«

Tyark wich ihrem Blick aus und trat verlegen von einem Bein aufs andere. Schließlich antwortete er leise: »Ich ... glaube, ich spüre sie. Manchmal habe ich den Eindruck, als ... als spräche sie zu mir. Wobei es meine eigene Stimme ist, die ich in meinem Kopf höre – aber es sind nicht meine Worte, nicht meine Gefühle, verstehst du? Vielleicht bin ich auch einfach schon zu lange unterwegs ...«

Er versuchte zu grinsen, doch Zajas forschender Blick ließ ihn schließlich weiterreden: »Diese Stimme hat mir gesagt, die Bergleute wären bei ihr. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Aber jedenfalls scheint hier alles so, als seien die Bergleute plötzlich aufgebrochen ... Ich meine, unten steht noch Essen auf dem Tisch ...«

Zaja trat an ihn heran und umarmte ihn fest. Er spürte, wie sich ihre festen Brüste gegen seinen Körper drückten.

»Du brauchst keine Angst haben, Tyark! Du bist nicht allein! Wir werden dir helfen – und wir werden herausfinden, was hier passiert ist!«

Wie von alleine fand seine Hand in ihre und einen kurzen Moment schienen sie sich inmitten der tosenden Natur aneinander festzuhalten. Dann hatte ihm Zaja einen sanften Kuss auf den Mundwinkel gegeben. Ein langer Blitz erhellte ihr Gesicht. Bevor er reagieren konnten, trat sie unvermittelt einen Schritt zurück.

»Du hast von Gefühlen gesprochen ... wenn sie zu dir spricht – was genau meinst du? Was fühlst du?«

Tyark zuckte verwirrt mit den Schultern. Wie gerne hätte er ihr gesagt, dass ein Teil seines Herzens sich nach ihrer Stimme verzehrte. Dass dieser Teil von ihm wusste, dass ihre Liebe mehr war, als ein einzelner Mensch in seinem ganzen Leben erfahren könnte ... Sag ihr, dass du mich liebst – und dass du alles tun wirst, um diese Liebe zu erhalten! schoss es ihm durch den Kopf.

Er biss die Zähne aufeinander und antwortete schließlich: »Ich fühle ... große Angst. Angst vor ihr. Und fast noch mehr Angst vor dem, was dort hinter dieser Frauengestalt lauert ... nein, was dort wartet. Und, hm, ich spüre eine Art Liebe. Sie ist hier oben stärker als im Dorf. Ich weiß daher, dass sie in der Nähe ist, Zaja. Wir müssen vorsichtig sein.«

Fast ängstlich forschte er in Zajas Augen nach Anzeichen von Misstrauen. Aber sie trat nur schweigend näher und umarmte ihn nochmals fest. Er spürte erneut ihren drahtigen Körper durch die nasse Gewandung. Er schloss die Augen, atmete bewusst ihren Geruch ein. Als er seinen Arm um Zaja legen wollte, entwand sie sich geschickt. In ihren Augen mischte sich Sorge mit einem Funken Angst, den Tyark sich nicht erklären konnte.

»Ich werde dich in meine Gebete an die Großen Alten einschließen, Tyark. Es wird dir nichts passieren.«

Sie lächelte ihn tapfer an und Tyark musste unwillkürlich lächeln. »Ich danke dir, Zaja. Lass uns hier bald fertig werden, ich bin unglaublich müde.«

Sie nickte zur Bestätigung und nachdem sie den bereits unruhigen Pereo beruhigt hatten, suchten sie weiter nach einem Hinweis, was hier oben passiert sein mochte.

Die Suche gestaltete sich allerdings als schwierig. Der Orkan tobte mit unverminderter Stärke und oft hatte Tyark Sorge, das Dach des Hauses könnte einfach hinfortgerissen werden.

Doch bis auf verstaubte und teilweise vermoderte Kleidung, kleinere Habseligkeiten und verdorbene Essensreste fanden sie nichts – draußen wurde die Dunkelheit nur durch unzählige, gleißend helle Blitze unterbrochen. Hagel trommelte ohrenbetäubend laut gegen das Dach.

Sie wollten gerade die Treppe hinuntersteigen, als Zaja nach einem heftigen, ungewöhnlich lang aufleuchtenden Blitz kurz stutzte und über ein Bett stieg. Überrascht blieb Tyark stehen und beobachtete Zaja, wie sie sich auf alle Viere begab und über das raschelnde Stroh des Bettes krabbelte. Angespannt sagte sie: »Hier ist etwas Tyark, leuchte mal bitte ...«

Als er sich mit der Öllampe neben sie setzte, sah er, was ihre Aufmerksamkeit geweckt hatte. Im Staub, der überall auf dem Bett lag, zeichneten sich Holzspäne ab, die überall auf dem Bett verstreut waren.

Er hob seinen Blick und betrachtete mit Zaja zusammen die Holzbohlen der Wand und des Daches, das auf halber Höhe begann. Er entdeckte sofort die unbeholfenen Schnitzereien, die offensichtlich einer der Bergleute hier hinterlassen hatte. Mit seinen Finger fuhr er die tiefen Kerben und Rillen ab, die wohl mit einem kleinen Messer in das alte Holz hineingeschnitten worden waren. Tyark hatte plötzlich das Gefühl, als ziehe ihm jemand den Boden unter sich weg. Noch bevor er etwas sagen konnte, hörte er Zajas heisere Stimme neben sich: »Das ist sie, nicht wahr?«

Wie zur Bestätigung krachte ein Donner so laut, dass das ganze Haus erzitterte. Beide zuckten kurz zusammen. Tyark betrachtete die Schnitzereien an der Wand. Immer wieder war eine Frauengestalt geschnitzt worden. Eine unbekleidete Frau. Kleinere Schnitzereien gruppierten sich um die Frau, die mit weit geöffneten Armen und geschlossenen Beinen geradezu zu schweben schien. Hinter ihrem Kopf schienen in verstörend wirren, schlängelnden Linien Haare angedeutet zu sein. Das Gesicht der Gestalt war seltsamerweise vollkommen leer – als habe sie keines.

Tyark nickte bloß und schluckte; sein Mund schien auf einmal vollkommen trocken zu sein. Dann blickte er auf und begann damit, hastig auch die anderen Schlafstätten nach Zeichnungen zu durchsuchen.

Es dauerte nicht lange. Bei fast allen Bettstätten fand er ähnliche Schnitzereien. Zaja bestätigte seine Annahme, dass sie von unterschiedlichen Personen stammen mussten. Eine von ihnen war besonders filigran und kunstvoll gelungen, sodass Tyark und Zaja annehmen musste, dass es wohl einige Zeit gedauert haben musste, bis der Schöpfer dieses Werks fertig geworden war.

Die Motive von ihr waren immer gleich, wenn auch manchmal recht grob. Die anderen Schnitzereien schienen oft irgendwelche Höhlen oder unterirdische Einrichtungen zu zeigen. Es war schwer, von den in das Holz geschnittenen Linien auf das tatsächlich dargestellte zu schließen. Eine Darstellung aber erzeugte bei Tyark ein leichtes Kribbeln in den Handflächen. Inmitten einer riesigen Halle – nur ein schmaler Ausschnitt schien dargestellt – lag ein großer, quaderförmiger Block, wirre Linien schienen Verzierungen darzustellen.

Auf diesem Block selbst schien etwas angedeutet, das Tyark instinktiv Angst machte, obwohl er nur ahnen konnte, was dort tatsächlich dargestellt war. Etwas Unbeholfen war ein Kreis eingeritzt worden, wobei ein Astloch in der Holzmaserung als Mittelpunkt diente. Offensichtlich hatte der Erzeuger der Schnitzerei sich viel Mühe gegeben, da die Vertiefung des Astlochs mit irgendeiner klebrigen Substanz dunkel gefärbt worden war. Tyark rieb etwas von dieser Substanz auf seinen Finger, im Licht der Öllampe zerfiel sie in kleine dunkle Krümelchen.

»Ist das Blut?«, fragte Zaja, die inzwischen zu ihm getreten war.

Tyark zuckte mit den Schultern – obwohl er sich ziemlich sicher war, dass hier Blut als Farbe genutzt worden war. Beunruhigender waren für ihn die chaotischen und grotesken Schnitzereien, die so angeordnet waren, dass der Eindruck entstand, etwas würde sich etwas aus dem Kreis herauswinden.

»Sie haben Bilder verwendet, da sie nicht schreiben konnten.«, sprach Zaja leise neben ihm.

»Fast alle von ihnen haben etwas in das Holz geritzt ... vielleicht direkt nach dem Aufstehen.«

Tyark blickte sie lange an und sagte: »Direkt nach dem Träumen ...«

In Zajas Gesicht traten die Kiefermuskeln deutlich hervor und sie flüsterte wie zu sich selbst: »Wie bei Rynn. Bei den Alten ... was, wenn ihnen dasselbe passiert ist wie ihm?«

***

Schweigend hockten sie alle vor dem knisternden Kaminfeuer.

Jobdan schien die menschenleere Hütte noch viel mehr mitgenommen zu haben als die anderen. Bleich und schweigsam hatte er sich in eine der Decken vom Dachboden gewickelt, nachdem er von den Schnitzereien über den Betten erfahren hatte.

Tyark durchbrach das Schweigen, das bislang nur vom Lärm des Orkans begleitet worden war: »Hier geht etwas vor. Etwas, das mit einer Frau zu tun hat. Oder vielmehr etwas, dass sich in der Gestalt einer Frau versteckt. Etwas so abgrundtief Böses und Mächtiges, dass es die Menschen sogar in ihren Träumen erreichen kann. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Bergleute nicht mehr hier sind – sie sind fortgegangen. Ich denke, zu dieser Frau

In Zajas Augen spiegelten sich die Flammen des Feuers wider als sie sagte: »Wir müssen diesen Sturm abwarten. Morgen können wir sicher die nähere Umgebung untersuchen – irgendwo müssen die Männer ja sein. Irgendetwas werden wir finden ...«

Pereo brummte zustimmend und sagte dann dunkel: »Da draußen ist ein ausgewachsener Buran. Und zwar ein großer. Diese Orkane können tagelang andauern. Manchmal sogar eine Woche. Ich fürchte, wir sitzen eine Weile in dieser verdammten Hütte fest.«

Jobdan hustete und fügte dann mit heiserer Stimme hinzu: »Es ist gefährlich, in einem Buran herumzustolpern. Manchmal sind sogar Windbräute unterwegs, wenn auch nur die ganz alten und großen – diese Biester lassen sich vom Wind treiben und stürzen sich auf alles, was in dem Regen und Wind nicht aufpasst.«

Zaja nickte und sagte angespannt: »Ja, ich dachte schon, dass ich vorhin ein seltsames Kreischen im Wind gehört habe – es klang fast wie ein Lachen. Ich dachte, meine Sinne spielen verrückt ...«

Sie schluckte. Pereo lachte humorlos: »Ja, sie haben uns schon bei unserer Ankunft im Tal entdeckt. Ich habe nichts gesagt, da ich euch nicht beunruhigen wollte. Sie haben nur auf das ... richtige Wetter gewartet. Vorhin habe ich kurz nach draußen geschaut. Große Schatten im Wind. Es müssen einige wirklich alte Windbräute da draußen sein. Werden immer größer, je älter sie werden.«

Mit Blick auf Tyark erklärte er weiter: »Auf unserer Anreise haben wir nur Jungtiere gesehen. Hier draußen sind die Mütter und sogar Großmütter wie es mir scheint. Habe mal eine gesehen. Hatte sicher eine Spannweite von vier Metern – ein verdammtes Monster!«

Tyark war sich nicht sicher, ob er diese Warnung wirklich hatte hören wollen. Ihm waren bereits die Windbräute, die er bei der Anreise gesehen hatte, genug. Und sie waren ihm auch durchaus groß genug gewesen! Obwohl er sich etwas vor der Frage fürchtete, stellte er sie dennoch: »Du sagtest Mütter und Großmütter. Brauchen Windbräute nicht, äh, ich meine, gibt es keine männlichen Tiere?«

Pereo und sogar Jobdan verzogen die Gesichter zu grimmigen Grimassen und es dauerte einige Augenblicke, bis Jobdan mit schwacher Stimme antwortete: »Tatsächlich hat jeder, den wir kennen, bislang nur weibliche Exemplare gesehen. Kein Mensch weiß, wo sie eigentlich herkommen. Ich meine, Windbräute an sich sind schon eine Ausgeburt der Neunundneunzig Höllen ... aber wie sie sich untereinander paaren, wer weiß. Und was mich angeht: Ich weiß es nicht und will es auch gar nicht wissen. Sie wohnen in tiefen Höhlen und Schluchten nahe der Gipfel der Riesengrate. Keiner wäre so verrückt, dorthin zu klettern und nachzusehen. Wozu auch?«

Pereo nickte und fügte hinzu: »Angeblich wohnen sie auch gar nicht in den Höhlen, sondern in den Tiefen der Riesengrate. Sie klettern nur zum Jagen nach oben. Das würde erklären, warum wir manchmal viele Monate lang keine einzige Windbraut zu Gesicht bekommen. Und dann auf einmal ganze Heerscharen.«

Mit einem schiefen Grinsen fügte er hinzu: »Wobei nicht ganz richtig ist, dass bislang keiner so verrückt gewesen ist, zu den Brutstätten der Windbräute hochzuklettern. Angeblich hat es vor über tausend Sommern eine mächtige Kriegerin geschafft. Die Legende der Harpyrin ist ziemlich eindrucksvoll ...«

Jobdan schnaufte verächtlich und sagte ächzend: »Wir haben Besseres zu tun, als über die solch alte Märchen zu schwafeln!«

Tyark horchte interessiert auf und fragte neugierig: »Wir können doch momentan eh nicht viel tun. Mich interessiert das! Wer war diese Haryprin?«

Pereo nickte zufrieden und erzählte mit ruhiger Stimme: »Angeblich ist vor einer Ewigkeit einmal eine mächtige Kriegerin in den Riesengraten erschienen, die es tatsächlich geschafft hat, nicht nur die Brutstätten der Harpyien, der Windbräute, zu finden, sondern auch zu überleben!«

Erneut schnaufte Jobdan verächtlich, doch Pereo fuhr ungerührt fort: »Aber nicht nur das! Angeblich hat sie Monate unter den Harpyien verbracht und dabei die größten und stärksten von ihnen gezähmt!«

Tyark verzog anerkennend das Gesicht und fragte: »Was ist aus ihr geworden?«

Pereo zuckte mit den Schultern und sagte: »Manche sagen, dass es sich bei dieser Kriegerin in Wirklichkeit um die Wanderin gehandelt haben soll. Sie ist aber dann in den Wirren der Unheiligen Woge verschwunden.«

Als ob damit alles gesagt wäre, biss Pereo zufrieden in einen der getrockneten Äpfel, die Tyark gefunden hatte.

Zaja erklärte lächelnd: »Die Wanderin ist eine sagenumwobene Gestalt, die in den Geschichten und Legenden des West– und Nordreichs vorkommt. Ihr werden große Taten nachgesagt, manchmal aber auch ziemlich niederträchtige – diese Dualität ist eine wesentliche Eigenschaft dieser Figur. Wenn ich mich recht entsinne, soll sie vor etwa hundertfünfzig Jahren durch Teanna gereist sein. Niemand weiß, woher sie kam und wohin sie dann verschwunden ist. Aber hier in den Graten hat sie wohl eine, äh, unklare Rolle bei dem Auftauchen der Unheiligen Woge gespielt.«.

Zajas Lächeln verschwand. »Es war eine Zeit, in der angeblich die Toten über die Erde wandelten und furchtbares Elend über die Bewohner der Grate und die angrenzenden Städte brachte. Eine Zeit, in der Wiedergänger oder verfaulte Skelette über die Erde wandelten! Allerdings ist heute unklar, was davon Legende und was, vielleicht, Wirklichkeit ist ...«

Hustend unterbrach Jobdan Zajas Erzählung: »Legende? Es ist seit über tausend Jahren Brauch in den Graten, dass über die Verstorbenen ein schwerer Stein gewälzt wird. Damit sich so etwas nie wieder wiederholen kann. Das würden die Menschen der Grate kaum ohne Grund machen ...«

Zaja wog beschwichtigend ihren Kopf und fuhr fort: »Jedenfalls, manche sagen, die Wanderin habe dabei geholfen, die Unheilige Woge der Toten zurückzudrängen.«, Zaja runzelte die Stirn, »Andere sagen, die Wanderin sei in Wirklichkeit eine Schwarzmagierin gewesen, welche bei der Entfesselung der Woge sogar geholfen habe!“, sie zuckte mit den Schultern, »Nun, wie auch immer. Ob es so war oder nicht und ob die Wanderin nun tatsächlich Harpyien gezähmt hat, weiß ich nicht. Es gibt, wie gesagt, viele Legenden über sie. Und was davon wahr ist, was übertrieben und was vollkommen erfunden, das vermag nach so langer Zeit niemand mehr zu sagen.«

Sie saßen noch eine Weile am Kamin und unterhielten sich leise über dieses und jenes. Tyarks Blick huschte dabei immer wieder zur Tür. Die Geschichten über Wiedergänger war nichts, das ihn an einem Ort wie diesen beruhigten konnte!

Schließlich bereiteten auf den harten Holzboden der Stube ihre Schlaflager. Keiner von ihnen wollte unter dem Dach schlafen – als hätten die Schnitzereien diesen Ort für immer entweiht. Ihm schauderte es vor dem Schlafengehen – er betete heimlich dafür, nicht zu träumen. Doch schon beim Einschlafen ahnte er, dass ihm seine Götter diesen Wunsch heute nicht erfüllen würden.

***

Die zwei Schwestern, mochten sie vielleicht fünf oder sechs Sommer alt sein, liefen durch den gerade aus dem Winterschlummer erwachten Wald. Sie hielten sich an den Händen, lachten und sprangen durch das zarte Grün des Waldbodens. Zarter Sonnenschein ließ helle Flecken im Schattenwurf der Bäume entstehen, die Mädchen sprangen darüber hinweg.

Beide hatten wehendes, fast hüftlanges Haar. Die eine in einem schönen, satten Schwarz, das fast ins Bläuliche überzugehen schien. Das Haar der anderen war von einem hellen, geradezu goldenen Schein, der im Sonnenschein fast weiß wirkte.

Die Kinder waren wohlgenährt und konnten ihr noch nicht allzu langes Leben voll genießen, lediglich kindliche Sorgen plagten sie von Zeit zu Zeit. Ihr gemeinsames Lachen hallte hell durch den noch recht kühlen Wald und verscheuchte so manchen Vogel aufgeregt von seinem Nest.

Die beiden Schwestern, mochten sie nun wohl zwei Sommer älter sein, saßen auf einer Lichtung. Sie verflochten Blumen zu Kränzen, sprachen viel und hatten nur wenig ihrer kindlichen Freude verloren.

Doch Schatten einer langen, schweren Krankheit lauerten im Gesicht der Blonden. Es war eine Krankheit der Seele, die ohne Fieber war und sich doch immer tiefer im Kind vergrub. Doch hier und an diesem Tag schien dieser lange, schwere Schatten fast verschwunden.

In einem Moment innigster Verbundenheit fassten sie sich an beiden Händen und schworen, einander immer treu zu sein und niemals dem anderen weh zu tun, niemals! Keine von ihnen sollte jemals wieder Angst spüren müssen. Um diesen Pakt zu besiegeln, schenkten sie sich kleine, kunstvoll bearbeitet Steinchen aus Rosenquarz, an einem Lederbändchen aufgehängt. In diesem Moment waren sich ihre Herzen so unendlich nah und wussten doch nicht, dass kein Moment für die Ewigkeit bestimmt ist.

Beide Mädchen, nun vielleicht zehn Sommer alt, tobten erneut durch diesen tiefen, ruhigen Forst ihrer Kindheit. Sie spielten Verstecken, die kleinen Steine schaukelten wie wild an ihren Hälsen.

Die Blätter der Bäume verfärbten sich bereits vereinzelt, der Herbst zeigte seine ersten Spuren, doch noch waren die Tage warm und die Nächte mild.

Die Blonde versteckte sich kichernd hinter einem großen Felsen, ihre Schwester in der Nähe wissend.

Ein kühler Windhauch strich zart über ihren Nacken. Mit einem kindlichen Lächeln drehte sie sich um und entdeckte überrascht, nicht weit von ihr, einen kleinen Höhleneingang. Welch ein wunderbares Versteck! Niemals würde ihre Schwester sie dort finden!

Flink lief sie los, duckte sich und verschwand im Schatten, die Rufe ihrer Schwester hinter sich lassend. Schnell bemerkte sie staunend, dass die Höhle gar keine Höhle war, sondern lediglich ein schmaler Durchgang, welcher bereits nach wenigen Metern in einer düsteren Grotte mündete.

Voller Neugier betrat sie einen recht wunderlich wirkenden Ort. Durch ein großes Loch über dem Kind drang freundliches Tageslicht. Ihre Füße berührten Fels und weiche Moose und das Wasser eines flachen, von Mückchen umschwärmten Tümpels. Seiner Mitte entwuchs eine kränkliche Eiche, die ihre dunklen, uralten Äste dem schmalen Ausschnitt des Himmels entgegenstreckte.

Das Mädchen umkreiste voller Faszination dieses alte Gewächs, darauf achtend, ihre nackten Füße nicht an scharfen Steinen zu verletzen. Der Baum musste sogar älter sein als ihre liebe Großmama!

Den dunklen Stamm hätte vielleicht ihr Vater noch umschlingen können, überall waren Rillen, Kanten und tiefen Einkerbungen, aus denen Moose und Flechten wuchsen.

Mit neugierigen Augen trat die Blonde an den Stamm heran und ließ verträumt ihre Hand an ihm heruntergleiten. Erst dann bemerkte sie, dass der Stamm scheinbar von innen gespalten worden war.

Das Kind hörte wie aus weiter Ferne ihre Schwester rufen, nahm die Sorge in ihrer Stimme aber nicht wahr. Etwas zog sie zu diesem Riss. Etwas war dort, im Herz des Baumes eingewachsen ...

Leichtfüßig kletterte sie hinauf, Splitter bohrten sich in ihre Füße, doch sie bemerkte den Schmerz nicht. War es nicht so, als ob sie ein einladendes Flüstern aus dem Inneren des Baumes hörte? Ein Flüstern, so tröstlich wie ein Frühlingshauch im Monat des Grimmfrostes ...

Ein wohliges Gefühl durchströmte die Blonde. Im hellen Holz sah sie dann, was der Baum in seinem Herz versteckt gehalten hatte: Dort lag, wohl einst fest umwachsen, ein kleiner, dunkler Kubus, nicht viel größer als ihre Faust.

Filigrane Linien und Muster zeichneten sich auf seiner Oberfläche ab, einige formten elegante Wirbel, andere Figuren, die das Kind noch nie gesehen hatte. In einem verwirrenden Spiel aus Form und Schatten überzogen die Gravierungen das Äußere und immer schien es, als änderten sich die Figuren auf magische Weise, wenn das Mädchen gerade nicht hinsah.

Fasziniert von diesem dunklen Spielzeug streckte das Mädchen ihre Hand aus, der Enttäuschung gewiss, den Kubus nicht aus seinem hölzernen Gefängnis befreien zu können. Doch eigenartig leicht konnte sie dieses Spielzeug aus dem Stamm befreien. Die Stimme ihrer Schwester hallte nun in der Grotte, doch die Blonde hatte nur Augen für das wunderschöne Ding in ihrer Hand.

Ein eigenartig warmes Gefühl ging davon aus und intensive Gefühle durchströmten ihr Herz. Wilde Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Gedanken, die ihre Seele nur zu gern aufsog.

Die Blonde spürte doch sofort, dass der Kubus Macht geben konnte. Etwas, nachdem ihr Herz schon immer verlangt hatte, auch wenn ihr noch die Worte dafür gefehlt hatten. Mithilfe dieses Schmuckstückes, das spürte sie, würde sie eines Tages diesen uralten Stamm der Eiche einfach zerspringen lassen können. Oder in den blauen Himmel fliegen, wenn sie es nur wollte. Durch den Wind zu reiten, vielleicht sogar zu den Großen Alten aufzusteigen! Die ganze Welt erschien mit einem Mal in dieses kleine Ding in ihrer Hand zu passen – und es schien ihr das Normalste der Welt zu sein.

Vielleicht wäre alles anders gekommen, hätte nicht sie, sondern ihre Schwester diesen sonderbaren Gegenstand gefunden. Doch wie so oft zeigte das Schicksalsrad in eine andere Richtung. Und so war es das blonde Mädchen, das auf unsichtbaren, verschlungenen Pfaden hierher gefunden hatte.

Die Schwarzhaarige – zunächst glücklich und voller Triumph über das Auffinden der Verschwundenen – bemerkte schnell, dass ihre Schwester etwas in der Hand hielt und mit leerem Blick darin versunken schien.

Der Kubus war ihr sofort unheimlich und dass ihre Schwester auf ihre Rufe nicht antwortete, machte ihr Angst. Mit Tränen in den Augen zog sie verzweifelt an der anderen. Hasste dieses Ding in der Hand der Schwester.

Der Kubus glitt dieser dabei aus der Hand und fiel unerträglich langsam auf den Stamm, prallte ab und blieb dann ruhig auf dem kalten Felsboden liegen. Wartend. Geduldig.

Verwirrt sahen sich die Mädchen an, die Schwarzhaarige zerrte ihre Schwester rasch fort, diese folgte taumelnd, immer wieder verzückt zu diesem hübschen Spielzeug blickend, welches dort im Schatten des Baumes liegen geblieben war. Wieder in der Wärme der Sonne angekommen, musste die Blonde ihrer Schwester in Schwüren versprechen, nie, nie wieder zu diesem Ort zurückzukehren! Die Blonde umarmte voller Liebe ihre Schwester und versprach es ihr unter Tränen.

Nur der undurchdringliche Wald war Zeuge dieser ersten, großen Lüge mit der das Schicksal seinen Anfang nahm – und doch blieb ein leises Flüstern der Blätter die einzige Antwort.

In dieser Nacht schneite es das erste Mal und in der kalten Grotte blieben die ersten zarten Flocken auf den Blättern der alten Eiche liegen, die nun vollständig kahl und ohne Leben war.

***

Ein lautes Krachen riss Tyark aus seinem Traum. Eine heftige Böe hatte einen der Fensterläden aus seiner Verankerung gerissen und ließ diesen nun hilflos im Wind gegen die Wand schlagen. Regen und Wind drangen in die Stube ein und durchnässten den Fußboden innerhalb kürzester Zeit. Tyark schüttelte benommen den Kopf und betrachtete seine schlafenden Gefährten.

Während er leise aufstand und den losen Fensterladen wieder befestigte, dachte er über den seltsamen Traum nach. Wieder hatte er von den beiden Mädchen geträumt. Und wieder hatte er eine seltsame Vertrautheit gespürt, die sogar noch stärker geworden schien.

Kannte er eines der Mädchen? Kannte er beide? Er zermarterte sein Gehirn, aber er fand keine Erinnerung an sie. Auch dieser Traum hatte sich seltsam fremd angefühlt – als wäre es gar nicht sein Traum. Ratlos blickte er auf seine Gefährten und nachdem er sich wieder hingelegt hatte fiel er alsbald in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Am nächsten Morgen hatte der Buran kaum an Stärke eingebüßt. Lediglich das Gewitter hatte sich ausgetobt und auch der Regen legte hin und wieder eine Pause ein. Dennoch war die Natur um sie herum in tobendem Chaos begriffen und obwohl die Sonne bereits aufgegangen war, lag die Welt vor dem Haus in düsterem Grau.

Zaja inspizierte nach dem Aufstehen Jobdans Rückenwunde und teilte schließlich mit: »Die Wunde scheint zu verheilen. Es ist noch recht viel Eiter darin – aber der üble Geruch ist fast verschwunden. Eine hässliche Narbe wird bleiben, aber es sollte kein weiteres Fieber mehr entstehen. Wenn du dich etwas schonst.«

Jobdan wehrte Zajas Einwand mit einer brüsken Handbewegung ab: »Wir müssen die Kinder finden! Und dafür brauchen wir die Bergleute ... oder wir müssen zumindest wissen, was mit ihnen passiert ist.«

Pereo und Tyark begannen bald damit, das Gelände zu durchsuchen. Der Wind blies kräftig um sie herum und oft hatte Tyark das Gefühl, einfach umgeblasen zu werden.

Zunächst gingen sie in das zweite große Gebäude, welches sich als Werkstatt entpuppte. An der ihnen abgewandten Seite war ein großes Wasserrad angebracht. Doch der Bach war durch das Unwetter zu einem reißenden Fluss geworden und hatte viele der Holzschaufeln zertrümmert. Langsam und wie von selbst dreht das Rad im Wind. Sein Holz knarzte unter dem Druck der Elemente und Tyark hatte kurz den Gedanken, es klinge wie ein Schluchzen.

Auf groben Werkbänken lagen zwischen verschiedenen Werkzeugen zahlreiche Steine, Gerätschaften des Bergbaus sowie halb bearbeitete Karfunkel herum. Auch hier schien es, als seien die früheren Bewohner voller Hast aufgebrochen. »Lass uns noch an der Flanke des Trollbauches suchen, dort schienen auch irgendwelche Gerätschaften aufgebaut.«, schlug Tyark vor, als Pereo ratlos einen großen Brocken Erz in die Hand nahm und diesen schließlich in einen Stapel mit alten Säcken warf.

Sie hatten Mühe, sich der Flanke des Berges zu nähern, die Böen hatten wieder an Stärke zugenommen. Schließlich gelangten sie zu den Holzbauten, die sie von der Werkstatt aus gesehen hatten. Ein kleinerer Felssturz schien einige der Balken zerschmettert zu haben. Am Rest lehnten weitere Spitzhacken und Schaufeln. Dahinter gähnte ein Loch in der Flanke des Berges.

»Sie haben hier einen Stollen gegraben!«, brüllte Tyark Pereo zu.

Pereo nickte und trat vorsichtig in den dunklen Schlund – Tyark sah, wie sein Gefährte offensichtlich große Schwierigkeiten hatte, diesem schmalen Durchgang so nahe zu sein. Auch Tyark trat in den Stollen ein, der recht bald scharf nach rechts abknickte. Auch hier war das Toben des Orkans überall zu hören. »Meinst du, sie sind hier im Stollen?«

Pereo trat nur sehr zögerlich in den Stollen ein und brüllte dann zurück: »Da sie hier nirgends zu finden sind ... vielleicht sind sie hier drin?«

Tyark rief einen Gruß in das Dunkel des Stollens, doch nur das Brüllen des Orkans antwortete ihm.

»Wir sollten die anderen holen. Und Lampen und Verpflegung. Wer weiß, wie tief die Männer gegraben haben!«

Tyark konnte in Pereos Gesicht deutlich erkennen, wie sehr dieser mit sich selbst ringen musste, bei dem Gedanken daran, in dieses dunkle, enge Loch im Berg einzusteigen. Pereo musste wahrhaft Schreckliches in Gefangenschaft erlebt haben!

Es dauerte noch bis zum frühen Nachmittag, bis sie alles vorbereitet hatten. Sie hatten in der Werkstatt vier solide aussehende Öllampen gefunden sowie brauchbare Seile. Nahrung und Wasser für eine gute Woche hatten Sie in ihren vollen Rucksäcken verstaut – insgeheim dachte Tyark, dass anscheinend niemand von ihnen ernsthaft damit rechnete, die Kinder oder die Bergleute so einfach zu finden. Doch irgendwo in diesem Berg waren zehn Bergmänner sowie Rynn und die Kinder verschwunden. Vielleicht lag in diesem Stollen endlich das Ende ihrer Suche – Hoffnung und Angst davor hielten sich in Tyarks Herzen die Waage.

Es dauerte lange, bis Pereo sich schweißüberströmt in das Innere des Berges wagte. Lediglich die Hoffnung, endlich etwas über den Verbleib der Kinder zu erfahren, ließ ihn seine eigene Angst überwinden.

Tyark musste trotz aller Tragik grinsen, als er sah, wie der Hüne die zarte Hand Zajas festhielt und sich leiten ließ. Tyark selbst ging als letzter hinein. Er drehte sich noch einmal um und blickte in den sturmumtosten Himmel hinter sich zurück. Dann atmete er tief ein und verschwand ebenfalls im Dunkel des Berges.

Weltenfresser

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