Читать книгу Nicht nur am Leben bleiben - Vera Wendt - Страница 5

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Die Briefmarke mit dem Leninkopf fiel Mathilde sofort auf. Post aus der DDR, wo jetzt, 1970, der 100. Geburtstag des Revolutionärs gefeiert wurde. Wer sollte ihr von dort schreiben? Ihre Schwiegermutter war schon gestorben und ihre alte Bekannte, die Blumenhändlerin, schrieb nicht um diese Jahreszeit. Nein, es war ein offizielles Schreiben von der Gemeindeverwaltung Mittendorf. Mathilde betrachtete den Umschlag mit einer Mischung aus Erstaunen und Wehmut. Es kam ihr vor wie eine Botschaft aus vergangenen Zeiten. 1952, vor 18 Jahren, war sie das letzte Mal dort gewesen, wo sie gute Jahre und auch die schlimmste Zeit ihres Lebens erlebt hatte. Sie war Opfer der politischen Verhältnisse geworden, Opfer der deutschen Teilung, Opfer willkürlicher Maßnahmen der DDR-Regierung. Von einem Tag auf den anderen hatte sie als West-Berlinerin nicht mehr in die DDR gedurft, nicht mehr auf ihr Grundstück, nicht mehr in ihren Garten, nicht mehr auf den Friedhof. Was wollte die Behörde wohl von ihr? Eine Einladung war es bestimmt nicht. Am Ende sollte sie für irgendetwas bezahlen, die DDR war ja gierig nach Westgeld. Und woher kannte sie ihre Adresse?

Mathilde griff zum Brieföffner, öffnete den Umschlag und erstarrte. Der Brief war von der Friedhofsverwaltung. Die Liegezeit von 25 Jahren war abgelaufen. Sie musste entscheiden, ob sie das Grab ihrer kleinen Tochter aufgeben oder weitere Jahre bezahlen wollte, Formulare anbei.

25 Jahre – was für eine lange Zeit. Damals, 1945, war es Sommer gewesen, der erste Friedenssommer, der erste Sommer ohne Bomben seit langer Zeit. Und der Sommer, in dem sie den Friedhof in Mittendorf kennen lernte, den sie vorher nie beachtet hatte. In ihrer Erinnerung war er dörflich, mit einem windschiefen hölzernen Kapellchen. Nicht weit davon hatte sie 1945 ihre kleine Tochter begraben müssen. Elsbeth, die große Freude ihres Lebens, war sieben Monate alt, als sie starb.

Bei ihrer Geburt im Dezember 1944 tobte rundherum der längst verlorene Krieg, Bomben hatten die Wohnung der Familie zerstört, Mathildes Mann Gustav war an der Front – aber sie hatte ihr Kind, das ihr strahlend schön erschien, wie vom Herrgott geschickt. Sie konnte gut stillen, das kleine Mädchen gedieh, weinte selten und schien unter den katastrophalen Verhältnissen nicht zu leiden. Die einzige Hoffnung für die Zukunft.

Als auch die Wohnung ihrer Eltern den Bomben zum Opfer fiel, gab es im zerbombten Berlin keine Bleibe mehr für sie. So wich sie im März 1945 mit ihren Eltern und dem Baby in die Laube nach Mittendorf aus. Diese war zwar schlecht heizbar, hatte nur einen Raum und weder fließendes Wasser noch Elektrizität, aber es gab nicht dauernd Bombenalarm, das war das Wichtigste. Warum überhaupt noch Bomben fielen, verstand Mathilde sowieso nicht. Der Krieg war verloren und Deutschland war untergegangen. Was danach kommen würde, wusste niemand, es erschien ihr wie ein schwarzes Loch.

Als die Russen kamen, trat Mathilde ihnen mit dem Kind auf dem Arm entgegen und entging so den üblichen Vergewaltigungen. Viele Soldaten waren sehr kinderlieb, spielten mit der Kleinen und schenkten Mathilde einen Laib Kommissbrot. Die Großmutter hatten sie vorsichtshalber in der Zisterne versteckt.

Im Laufe des Sommers normalisierte sich die Lage ein wenig, soweit man in diesen Zeiten von „normal“ reden konnte. Der Flieder hatte nie so schön geblüht wie in diesem Jahr, die Erdbeeren aus dem Garten schmeckten besonders gut. Ihr Vater hatte sie mit Hingabe gepflegt.

Es war ihr gelungen, im Dorf Milch aufzutreiben, die Elsbeth offenbar gut vertrug. Sie musste nicht mehr ständig stillen. So beschloss sie, Ende Juni für zwei Tage nach Berlin zu fahren. Das Haus im Bezirk Tiergarten, in dem sie selbst bis 1943 gewohnt hatte, war nur noch Schutt und Asche, das wusste sie. Aber bei der 1½-Zimmer Wohnung der Eltern in Prenzlauer Berg war bloß eine Wand des Hauses zusammengebrochen. Wenn es möglich war, sie wiederaufzubauen, konnten sie vielleicht im Herbst dorthin zurück, denn die Laube war nicht winterfest zu machen. Das wollte sie erkunden und ein paar Freundinnen von früher suchen, um zu sehen, ob sie noch lebten. Irgendwo würde sie schon übernachten können. Es war unmöglich, genaue Pläne zu machen, aber sie hoffte, am übernächsten Tag wieder zurück zu können, so lange würde das Brot in ihrem Rucksack als Verpflegung reichen.

Seit die Russen ihr Rad geklaut hatten, musste sie immer zu Fuß laufen. Der Weg zur Bahn dauerte so eine Dreiviertelstunde. Sie hätte das Rad sowieso nicht mehr wie früher in den Zug mitnehmen können. Zum Glück war der Bahnhof ohne Bombenschaden davongekommen und die Züge fuhren, wenn auch selten und ohne Fahrplan. Wie üblich waren die Waggons total überfüllt, aber sie schaffte es, sich in einen Wagen hineinzudrängen. In dem Verbindungsstück zwischen zwei Waggons musste sie sich zwar gut festhalten, aber sie wäre weich gefallen, weil das Gedränge groß war.

Das Zentrum Berlins schien auf den ersten Blick nur aus Schutt und Ruinen zu bestehen. Ganze Straßenzüge waren ausgelöscht, viele Häuser zu Trümmerbergen geworden, von anderen waren nur noch Teile vorhanden. Es herrschte eine unheimliche Stille, wie in einer Totenstadt. Mathilde hatte Monate zuvor nach dem Bombenangriff auf das Haus ihrer Eltern Berlin fluchtartig verlassen, jetzt begriff sie, wie stark die Stadt als Ganzes getroffen worden war. Sie musste an Schillers „Glocke“ denken: „Aus den öden Fensterhöhlen scheint das Grauen …“ und auch an den folgenden Vers: „und sieh, ihm fehlt kein treues Haupt“. Ihr fehlte zwar Gustav, aber sie hatte ihre Eltern und ihre Tochter, dafür galt es dankbar zu sein.

Als sie von der Innenstadt in Richtung Prenzlauer Berg lief, sah sie mehrere Häuser, die nur teilweise zerstört waren. Manchmal war nur eine Wand weggesprengt, sodass das Innere der Wohnungen wie bei einer Puppenstube sichtbar war. „Schloss Sperlingslust“ nannte der Volksmund diesen Zustand. So fand sie auch die elterliche Wohnung vor. Die Wand zum Hof war weggesprengt, und sie konnte die Inneneinrichtung von dort aus sehen. Ihre 1 1/2 kleinen Zimmer mit Küche im dritten Stock sahen von unten unversehrt aus, als ob jemand sie gerade verlassen hätte. Sie waren dick mit Schutt und Staub bedeckt, dennoch wirkten sie ordentlich und aufgeräumt, wie ihre Mutter es gerne hatte.

Unter normalen Umständen wäre das Betreten des Hauses verboten gewesen, aber es gab keine Normalität mehr. Sie sah, dass im ersten Stock jemand wohnte. Ob das wohl die alte Frau Winterstein war? Mathilde hatte ihr ganzes Leben bis zu ihrer Heirat vor vier Jahren in diesem Haus verbracht und war zurückgekommen, als sie in Tiergarten ausgebombt wurde. Sie kannte alle Bewohner, wusste aber nicht, wer den Bombenangriff überlebt hatte und wer nicht. Frau Winterstein hatte sie schon als Kind fasziniert, es ging etwas Geheimnisvolles von ihr aus. Sie musste schon lange Witwe sein und die Nachbarn fragten sich, wovon sie lebte. Es hatte wohl etwas mit den häufigen Besuchern, Frauen und manchmal auch Männern aller Altersstufen zu tun.

Zuerst suchte Mathilde ihre alte Toilette auf halber Treppe auf und stellte fest, dass das Wasser wieder funktionierte und auch das Licht. Danach klopfte sie an der Wohnung im ersten Stock. Frau Winterstein freute sich sehr sie zu sehen. Ihre Wohnung hatte noch ein Zimmer zur Straßenseite, in dem sie derzeit wohnte, sodass sie nicht auf der offenen Hofseite wie auf dem Präsentierteller sitzen mussten.

„Ach Mathildchen – ich darf doch noch so sagen, nicht wahr? – wie schön, dass Sie leben! Wie geht es Ihren Eltern und der kleinen Elsbeth? Sie war wirklich ein besonders süßes Baby! Und immer so fröhlich trotz der Verhältnisse.“

Mathilde versicherte ihr, dass alle noch am Leben und wohlauf waren. Frau Winterstein erzählte betrübt, dass ihre beiden schwarzen Katzen Opfer der Bombenangriffe geworden waren und sie diese sehr vermisste. Es gab auch eine gute Nachricht: Die sowjetische Militärverwaltung hatte Mittel in Aussicht gestellt, um noch vor Wintereinbruch teilzerstörte Häuser notdürftig zu reparieren und ihres würde dazugehören.

„Haben Sie schon etwas von Ihrem Mann gehört?“, fragte die alte Dame voller Anteilnahme.

„Leider nein, er war zuletzt an der Ostfront. Vielleicht hat er überlebt und ist in Gefangenschaft, aber ich habe keinerlei Nachricht“, antwortete Mathilde traurig. Sie merkte, wie ihr die Tränen hochstiegen. Immer, wenn sie an Gustav dachte, standen die schrecklichen Erzählungen von sowjetischen Kriegsgefangenenlagern vor ihrem inneren Auge. Oder sie malte sich aus, wie er in den russischen Weiten umgekommen war. Zum Glück hatte sie meistens viel mit der Versorgung der Familie und der Fürsorge für ihre Tochter zu tun, sodass sie abends todmüde ins Bett fiel und nicht ständig grübelte. Aber oft, wenn sie ihre Tochter so fröhlich sah, fragte sie sich, wie lange sie wohl ohne Vater aufwachsen musste.

„Ich kann mir vorstellen, dass die Ungewissheit Ihnen zu schaffen macht“, sagte Frau Winterstein und streichelte Ihre Hand. „Aber vielleicht kann ich etwas für Sie tun. Es funktioniert nicht immer, aber manchmal kann ich Dinge sehen, die andere nicht sehen.“

„Wie meinen Sie das?“, fragte Mathilde erstaunt.

„Nun, es gibt Menschen, die - wie soll ich sagen – bestimmte Schwingungen aufnehmen können so wie die Antenne beim Radio. Ich habe diese Gabe. Wie Sie wissen, ist mein Mann schon vor vielen Jahren und viel zu früh gestorben, ich hatte nur eine kleine Rente und da habe ich diese Fähigkeiten genutzt und vervollkommnet.“

„Dann sind Sie also so eine Art – Wahrsagerin?“, fragte Mathilde erstaunt.

„So kann man es nennen. Ich ziehe allerdings den Ausdruck „seelische Beraterin“ vor. Die Zukunft kann ich nicht voraussagen, aber ich kann manchmal Hinweise geben, und das war vielen Leuten etwas wert.“

„Und wie können sie mir dadurch helfen?“ Mathilde war immer noch total verwirrt.

„Wenn Sie einverstanden sind, würde ich in eine Glaskugel sehen. Ich habe es lange nicht mehr gemacht, seit dem Tod meiner Katzen nicht mehr. Die Kugel hatte ich versteckt und zum Glück haben die Russen sie nicht gefunden, als sie hier herummarodierten. Versprechen kann ich Ihnen nichts, aber wir können probieren, ob ich etwas sehe. Geld nehme ich von Ihnen nicht dafür, Sie und Ihre Eltern waren immer so nett zu mir und außerdem – wer hat heute schon Geld?“

Mathilde konnte sich zwar nicht vorstellen, wie das funktionieren sollte, aber ihre Neugier war geweckt und sie erklärte sich einverstanden.

Frau Winterstein zog die Vorhänge zu und zündete einige Kerzen an. „Vorkriegsware, war auch versteckt“, flüsterte sie. Dann holte sie ein Kästchen aus einem verschlossenen Schrank. Sie nahm einen in grünes Tuch eingepackten Gegenstand heraus, entfernte den Stoff und legte die Glaskugel auf ein Tuch aus rotem Samt. Der Stoff und die Kerzen spiegelten sich im Glas und gaben der Kugel ein farbiges und geheimnisvolles Aussehen. Mathilde war erstaunt, wie schnell die Außenwelt mit all ihrer Zerstörung für sie verschwand und eine weihevolle Stimmung von ihr Besitz ergriff.

„Ich muss mich sehr konzentrieren, das fällt mir ohne meine Katzen schwer“, sagte Frau Winterstein leise. „Es wäre gut, wenn Sie versuchen würden, alle Gedanken auszuschalten und in die Kugel zu sehen.“

Mathilde starrte gespannt in die Kugel. Es herrschte eine Weile Schweigen.

„Ich sehe einen Schatten, es ist auf alle Fälle ein Mann, das könnte Ihr Mann sein, er ist weit weg“, sagte Frau Winterstein schließlich und ihre Stimme schien aus einer anderen Welt zu kommen.

„Und ich sehe ein Kind“, fuhr sie fort. „Was sagten Sie, wo Ihre Tochter jetzt ist?“

„Im Garten in Mittendorf, zusammen mit meinen Eltern“, antwortete Mathilde. Etwas in der Stimme der alten Dame machte ihr Angst.

„Das Kind ist in Gefahr. Es gibt einen bedrohlichen Schatten in seiner Nähe, keine Person, aber etwas, was der Kleinen schadet. Ich kann keine Einzelheiten sehen, aber es sieht so aus, als ob Ihr Kind Sie dringend braucht.“

Frau Winterstein bedeckte die Kugel wieder mit dem grünen Tuch und lehnte sich in ihren Sessel zurück. Sie machte einen erschöpften Eindruck.

Mathilde fror, ihre Hände zitterten und an ihren Armen machte sich Gänsehaut breit. Sie konnte den Schatten fast fühlen und eine unbändige Angst kroch in ihr hoch. Ihre kleine Elsbeth – sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihr etwas passieren könnte. Sie war bei ihren Eltern in guten Händen und der Bombenkrieg war vorbei. Vielleicht war das alles Humbug, vielleicht machte Frau Winterstein sich nur wichtig - wäre sie doch bloß nicht zu ihr gegangen!

„Sind Sie ganz sicher?“, fragte sie angstvoll.

„Sicher ist in dieser Welt gar nichts. Ich bin überzeugt, dass ein Kind in Gefahr ist, das mit Ihnen zu tun hat. Gesichter kann ich nicht sehen. Aber ich würde an Ihrer Stelle sofort dorthin fahren, wo Ihr Kind ist.“

Die Ernsthaftigkeit im Tonfall beeindruckte Mathilde. „Dann laufe ich jetzt zum Bahnhof und fahre zurück“, sagte sie entschlossen.

„Ich kann Ihnen nur alles Gute wünschen“, verabschiedete sich Frau Winterstein. „Grüßen Sie Ihre Eltern und besuchen Sie mich, wenn Sie wieder in Berlin sind. Sie finden hinaus, ich kann noch nicht aufstehen, die Sitzung hat mich viel Kraft gekostet.“

Mathilde nahm ihren Rucksack und schloss leise die Tür. Dann eilte sie hinaus zur nächsten Straßenbahnhaltestelle und schlug sich bis zum Bahnhof durch. Die Vorortbahn nach Mittendorf sollte nach Auskunft des Bahnhofswärters zwei Stunden später fahren, aber es wurden drei Stunden. Sie hatte zwar noch Brot in ihrem Rucksack, aber sie konnte nichts essen. Die Sorge um ihr Kind bestimmte alle ihre Gedanken. Nein, es durfte nicht sein, dass Frau Wintersteins Ahnung zutraf, das wäre sehr ungerecht vom Schicksal. Sie hatte zwei Jahre zuvor schon ein Kind tot gebären müssen. Das ständige Hoch und Runter aus dem 5. Stock wegen Bombenalarms, der stundenlange schlaflose Aufenthalt im Keller, die schlechte Versorgungslage und schließlich der Zusammenbruch des Hauses nach einem Treffer, all das war dem kleinen Jungen wohl zu viel gewesen. Alle im Luftschutzkeller hatten überlebt, aber er verabschiedete sich von dieser Welt, bevor er sie erreichte. Mathilde hatte gefühlt, dass etwas nicht stimmte, das Kind sich nicht mehr bewegte, und lief zu Fuß von Prenzlauer Berg zur Charité, die trotz Bombenangriffen einen Notdienst aufrechterhielt. Dort musste sie stundenlang warten, man kümmerte sich offenbar erst einmal um die Frau eines Parteibonzen, wie ihr der Pförtner mit Bitterkeit verriet. Schließlich stellte die Hebamme fest, dass das Kind tot war und man gab ihr wehenfördernde Mittel. Die mühsame Geburt im 7. Monat hatte sie noch in schrecklichster Erinnerung. Sie hatte protestiert, als die Schwestern ihn einfach wegbringen wollten. Er sah so lebendig aus, im Gesicht Gustav ähnlich, wie sie fand, aber die graue Farbe seiner Haut war die der Verwesung. Schließlich nahmen sie ihn ihr weg und gaben ihr ein Schlafmittel. Als sie aufwachte, war er nicht mehr da, sie vermutete, längst im Medizinmüll gelandet. Sie hatte drei Tage lang nicht mit dem Weinen aufhören können.

Als sie nach Gustavs übernächstem Fronturlaub zu ihrer Freude wieder schwanger war, konnte sie die letzten Wochen auf dem Lande in Pommern verbringen, wo keine Bomben fielen. Einer von Gustavs vielen Onkeln war dort Pfarrer. Das Kind kam am Nikolaustag 1944 gesund zur Welt. Und nun sollte es in Gefahr sein – nein, nein, sie wehrte sich gegen diesen Gedanken. Das ganze Getue mit der Glaskugel war Hokuspokus. Aber den ernsten Ton und das spontane Erschrecken der Wahrsagerin konnte sie nicht vergessen.

Energisch setzte sie ihre Ellenbogen ein, um in den Zug zu kommen, ungeachtet der bösen Kommentare von rechts und links. Der Zug hielt auf den Gleisen kurz vor dem Bahnhof und alle mussten aussteigen oder besser gesagt herausspringen. Der Bahnhof war bei der Hinfahrt noch intakt gewesen, aber jetzt war er zerstört. Überall lagen zerbrochene Dachziegel und Glasscherben herum. Es war schon spät, aber noch so hell, dass sie Verwüstungen in den Gärten erkennen konnte, abgeknickte Bäume, Beete, die wie plattgewalzt aussahen, rechteckige Löcher im Mauerwerk, wo vorher Fenster gewesen waren. Doch sie konnte nirgendwo Brandspuren entdecken. Zunehmend alarmiert versuchte sie, so schnell wie möglich die Laube zu erreichen.

Als sie das knarrende Gartentor öffnete, kam ihre Mutter ihr schon aus der Laube entgegengerannt. Sie war einen halben Kopf kleiner als Mathilde, aber trotz ihrer 62 Jahre noch gut zu Fuß. Die strengen Züge ihres Gesichts wurden durch die kurzen, grauen Haare betont. Scharfe Falten hatten sich in den Kriegsjahren vertieft und ließen es noch härter erscheinen. Aber jetzt liefen Tränen über ihr Gesicht und sie schien völlig aufgelöst.

„Gut, dass du kommst“, stammelte sie schluchzend, „wir hatten Dich nicht so früh erwartet. Elsbeth … “ Die Mutter konnte nicht mehr weiterreden.

Mathilde rannte zur Laube, aus der sie schon schreckliches Schreien hörte. Sie sah ihr Kind und wusste, dass Frau Winterstein Recht gehabt hatte. Elsbeth war völlig verändert, hochrot, sie hatte Fieber und ihre Gliedmaßen verkrampften sich immer mehr. Mathilde versuchte sie anzulegen, aber das Kind wollte nicht an der Brust trinken.

„Was ist passiert?“, fragte sie entsetzt.

„Es gab eine schwere Explosion, ich weiß nicht genau, wo“, gab die Mutter Auskunft. „Wir alle spürten die Druckwelle. Seitdem schreit sie so schrecklich und lässt sich nicht beruhigen, sie will auch nichts trinken. Vater ist schon vor zwei Stunden ins Dorf gelaufen, er hofft, einen Arzt zu finden, der nicht für den Kriegseinsatz verpflichtet wurde.“

Mathilde versuchte, ihre Tochter zu beruhigen und in den Schlaf zu wiegen, sie trug sie herum, ging mit ihr durch den Garten, legte sie wieder an – nichts half.

Gegen Mitternacht hörte sie Schritte im Garten. Ihr Vater kam, offensichtlich erschöpft, denn er schlurfte und ging langsam. Obwohl genauso alt wie die Mutter, erschien er deutlich schwächer und weniger ausdauernd als sie. Seine Glatze und die Brillengläser glänzten im schwachen Licht der Petroleumlampe. Hinter ihm ging ein gebeugter, weißhaariger Herr mit einem kleinen Köfferchen.

„In Mittendorf gibt es keinen Arzt mehr. Ich musste zwei Dörfer weiter gehen, um Dr. Bartels zu finden“, stöhnte der Vater. Tiefe Besorgnis spiegelte sich in seinem Gesicht, das normalerweise einen sanften und gütigen Ausdruck hatte.

„Wegen meines fortgeschrittenen Alters praktiziere ich seit 10 Jahren nicht mehr“, erklärte der Doktor, „aber vielleicht kann ich Ihnen trotzdem behilflich sein.“

Der Arzt betrachtete Elsbeth, hörte sie ab, untersuchte ihre Reflexe und Mathilde merkte, wie er mit den Tränen kämpfte. Seine Diagnose war eindeutig.

„Bei Babys in diesem Alter ist die große Fontanelle noch nicht vollständig geschlossen, die Explosion hat deshalb Teile des Gehirns zerstört, die nicht zu ersetzen sind. Vermutlich sind das Schlaf- und das Wachstumszentrum unwiederbringlich verloren, und es könnte auch andere Regionen betreffen.“

„Wird sie sterben?“, fragte Mathilde mit Bangigkeit in der Stimme.

„Vermutlich ja. Wenn sie überlebt, was sehr unwahrscheinlich ist, wird sie blind und geistig behindert bleiben. Aber ich glaube, sie ist nicht zu retten. Wenn ich Medikamente hätte, könnte ich ihr etwas zur Beruhigung und zur Linderung der Krämpfe geben, aber ich habe keine. Es ist alles für die Front und die Lazarette requiriert worden. So kann ich nichts zur Verbesserung der Lage tun und, glauben Sie mir, das ist für einen alten Mediziner sehr bitter.“

Mathilde sagte nichts mehr. Der Arzt berichtete von dem Gerücht, dass die Russen einen vom Krieg übrig gebliebenen deutschen Munitionszug auf einem Abstellgleis versehentlich gesprengt hätten, weil sie die deutschen Zünder nicht kannten. Es sollten später noch viele Gerüchte über die Ursache der Explosion in Umlauf kommen, sie interessierten Mathilde nicht.

Doktor Bartels verabschiedete sich, strich Mathilde sanft übers Haar und sagte: „Ich mache mich auf den Weg, denn ich habe noch einen Fußmarsch von zwei Stunden vor mir und ich kann Ihnen nicht helfen. Sie sind jung und können noch mehr Kinder kriegen, aber ich weiß, das ist jetzt kein Trost und in dieser Zeit erst recht nicht. Jedenfalls wünsche ich Ihnen Gottes Segen.“

Mathilde schluchzte. Von wegen jung! Ihr 37. Geburtstag nahte, sie wusste nicht, ob ihr Mann überhaupt noch lebte und wenn, wann und in welchem Zustand er zu ihr zurückkehren würde. Sie würde nur noch wenige Jahre in der Lage sein, Kinder zu bekommen. War es ihr von Gott bestimmtes Schicksal, kinderlos zu bleiben? Bisher hatte sie trotz all dem Elend um sie herum Haltung bewahrt, aber jetzt ergriff sie Verzweiflung. Sie weinte haltlos und konnte nicht aufhören. Ihre Mutter versuchte vergeblich, sie zu trösten und zu beruhigen.

Elsbeth starb nach neun Tagen. Aus ihrem Schreien wurde ein Wimmern. Sie litt sichtbar schlimme Schmerzen und ihre Krampfanfälle waren so furchtbar, dass Mathilde in ihren Gebeten Gott darum bat, sie bald zu sich zu holen.

Sie begruben das kleine Wesen in einem schlichten Holzsarg unter einer alten Linde. Der Pfarrer sprach von der Herrlichkeit Gottes, bei der die kleine Elsbeth nun weilte, von den Prüfungen, die der Herr den Seinen auferlegt, und vom festen Glauben, der die Menschen bei Schicksalsschlägen tröstet und aufrichtet. Mathilde hörte es wie von ferne. Ihre Zukunft erschien ihr als eine endlose Reihe von grauen, traurigen Tagen, ohne Hoffnung auf bessere Zeiten.

Nicht nur am Leben bleiben

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