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Als sie am Spätnachmittag nach Hause kam, hungrig von der vielen Lauferei ohne Essen, lag ein Brief für sie im Flur. „Bestimmt von einem deiner Kunden“, vermutete ihre Mutter, die in der Küche Kartoffeln und Weißkohl zubereitete. „Wird ja auch Zeit, dass mal einer antwortet.“

Mathilde kannte den Absender nicht. Wieso schrieb ihr ein Herr Kowalsky aus Langensalza im Harz? Voller Spannung öffnete sie den Brief und las:

Werte Frau Kuhrt!

Im freundschaftlichen Auftrage von Ihrem Mann Gustav, der mit mir in russischer Kriegsgefangenschaft war, will ich Ihnen berichten: Ich bin am Sonnabend aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt und zwar deshalb, weil ich Kriegsbeschädigter bin. Ihr Mann musste zwar noch dableiben, ich hoffe jedoch, dass auch er bald bei Ihnen sein wird. Durch mich nun nehmen Sie die allerherzlichsten Grüße von Ihrem Mann entgegen. Er war eine Zeitlang krank gewesen, als ich ihn verließ, war er jedoch auf dem Wege der Besserung. Seien Sie darum ohne Sorge, auch für Sie kommt einmal der Tag. Ich bin ein Ostpreuße und laufe nun mittellos in der Welt herum. Erlaube mir Sie auf’s freundschaftlichste zu grüßen und dass Sie Ihren Mann bald in den Armen halten werden.

Ihr Werner Kowalsky

Mathilde konnte es kaum glauben: Gustav lebte! Aufgeregt lief sie in die Küche, umarmte ihre Mutter voller Freude und rief: „Gustav, Gustav lebt!“. Der Vater kam aus dem Nebenzimmer und alle drei lagen sich weinend in den Armen.

„Wo ist er denn?“, fragte die Mutter. Mathilde las den Brief noch einmal und stellte fest, dass darüber nichts drin stand. Offenbar war es für den Schreiber nicht wichtig. Aber er hatte seine Adresse angegeben. Sofort setzte sie sich an die alte Schreibmaschine und schrieb an Herrn Kowalsky. Sie wollte wissen, in welcher Gegend sich Gustav aufhielt, woran er erkrankt war oder ob er verwundet in Gefangenschaft geraten war. Schließlich legte sie ein paar Briefmarken in den Umschlag, damit Herr Kowalsky keine Extra-Ausgaben hatte.

Am nächsten Tag ging sie zur Post, schickte ein Telegramm an ihre Schwiegermutter an der Ostsee „Kamerad hat Gustav gesehen“ und warf den Brief in den Briefkasten. Wie lange würde eine Antwort wohl dauern? Zwei Wochen mindestens. Hoffentlich erreichte ihre Nachricht den Empfänger, das war nicht selbstverständlich. Neulich hatte ihre Schwiegermutter die Antwort auf ihren Brief vom September angemahnt, den Mathilde nie erhalten hatte. So bekam sie eine wichtige Nachricht mit Verspätung: Ihr Schwager Wilhelm war aus dem Lager in Frankreich nach Bamberg zum älteren Bruder entlassen worden. Das lag in der amerikanischen Zone, wo die Versorgung besser sein sollte. Jetzt hatte er Schwierigkeiten, zu seiner Mutter in die russische Zone zu reisen. Aber er war in Sicherheit und die Familie wusste, wo er war. Wenn sie das nur von Gustav sagen könnte! Am Ende war er doch nach Sibirien gekommen? Fast ein Todesurteil. Aber nein, so durfte sie nicht denken. Er musste wiederkommen, wenn sie nur fest daran glaubte und ihn in ihre Gebete einschloss.

Sie setzte ihre Suche nach früheren Kunden und Lieferanten fort, Tag für Tag, bei Sonne, Regen und Schnee. Sie war schon in Jugendjahren viel gelaufen, um das Geld für die Straßenbahn zu sparen. Das machte sich jetzt positiv bemerkbar. Ihre gute Ortskenntnis half ihr, sich auch dort zurechtzufinden, wo der Bombenkrieg nur Verwüstung hinterlassen hatte. Das war nicht überall so. Dom und Schloss standen noch, wenn auch schwer beschädigt. Das würde die Russen bestimmt ärgern, die als Kommunisten gegen Religion und Monarchie waren. Vor dem Brandenburger Tor regelte eine russische Soldatin den Verkehr, der jedoch nur aus ein paar Militärfahrzeugen bestand. Durch die Ruine der Reichskanzlei, einst ein imposantes Gebäude, konnte man hindurchspazieren, was nicht ungefährlich war. Immer wieder fielen Ruinen plötzlich mit einem zischenden Seufzer in sich zusammen oder eine alleinstehende Mauer krachte zu Boden. Mathilde hatte schon von spielenden Kindern gehört, die davon erschlagen worden waren.

Ihren Vater ermunterte sie, seine Verbindungen zu alten Kriegskameraden wieder aufzunehmen. Er war früher stolzes Mitglied im Kyffhäuserbund gewesen, einer Vereinigung von Veteranen, deren Geschichte sich bis zu Friedrich dem Großen zurückverfolgen ließ. Mathilde erinnerte sich noch gut an den Ausflug zum imposanten Denkmal für Kaiser Wilhelm I und Kaiser Friedrich Barbarossa auf dem Kyffhäuserberg, als sie ein Kind war. Und natürlich hatte sie wie alle deutschen Kinder das Gedicht von Friedrich Rückert über den in einer Höhle schlafenden Barbarossa auswendig gelernt, der eines Tages kommen und das Deutsche Reich zu neuer Größe führen würde. Ein Gedanke, der ihr beim Anblick der Ruinen absurd erschien. Der Vater war zwar wie viele seiner Generation deutschnational gesinnt, interessierte sich jedoch nicht für das politische Wirken des Verbandes, dessen Präsident Hindenburg gewesen war. Er ging regelmäßig zum Veteranen-Stammtisch, auch als er 1933 aus dem Verband austrat und damit der „Gleichschaltung“, die praktisch Eingliederung in das NS-System hieß, zuvorkam. Er hatte früh erkannt, dass es mit Hitler Krieg geben würde, als andere noch voller Bewunderung dafür waren, dass die Arbeitslosen von der Straße verschwanden und Deutschland wieder groß werden sollte. Sein kleiner Kreis von Teilnehmern am Ersten Weltkrieg traf sich unabhängig von den Wirren der Politik. Einige von ihnen waren am Ende des Krieges für den Volkssturm rekrutiert worden, manche waren gestorben, aber es gelang dem Vater, Kameraden ausfindig zu machen, die Kontakte zu Heimkehrern hatten. Der Kyffhäuserbund selbst war von den Nazis nach der Schlacht von Stalingrad 1943 aufgelöst worden und die Alliierten würden einer Neugründung keinesfalls zustimmen. Doch viele Heimkehrer kannten den Namen noch und meldeten sich bei den Veteranen. Der Vater fand heraus, dass die deutschen Einheiten in Ostpreußen sich kurz vor Kriegsende den Russen ergeben hatten. Die meisten von ihnen waren nach Litauen transportiert worden. Damit stiegen die Chancen, dass Gustav nicht in Sibirien gelandet war.

Es war ermüdend, aber nach und nach konnte Mathilde an alte Geschäftsverbindungen anknüpfen. Eines Tages im November kam sie nach Hause und ihre Mutter berichtete ihr, dass Herr Reuter dagewesen war. Er hatte vor dem Krieg eine Fabrik für Küchenzubehör gehabt und wollte nun Töpfe aus alten Stahlhelmen produzieren. Die Besatzungsmacht hatte versprochen, ihn zu unterstützen. Da er teilweise ausgebombt war, brauchte er dringend Beleuchtungskörper für die Fabrikräume. Mathilde war gerührt: Herr Reuter hatte sich an sie erinnert. Gleich morgen würde sie ihn besuchen. Seine Fabrik war in Treptow gewesen, da konnte sie vielleicht sogar mit der Straßenbahn fahren.

Ihre Stimmung stieg erheblich: Nachricht von Gustav und alte Kundschaft, es ging voran. Sogar ihre Mutter hatte die Fortschritte bemerkt und ihren Widerstand gegen Mathildes Aktivitäten aufgegeben. Sie hielt ihr zu Hause den Rücken frei, kochte mit dem Wenigen, was da war, flickte und stopfte selbst halb zerrissene Kleidungsstücke, wusch die Wäsche der Familie usw. Ihr Vater arbeitete wieder als Kellner aushilfsweise an wechselnden Stellen und übernahm geduldig vor allem das ewige Anstehen nach Lebensmitteln, das trotz vorhandener Marken oft vergeblich war. Sie war sehr dankbar für die Unterstützung der Eltern. Wenn nur Herr Kowalsky endlich schreiben würde! Jetzt waren schon vier Wochen vergangen, jeden Tag hoffte sie, einen Brief von ihm vorzufinden, aber es kam keiner. Vielleicht war er verloren gegangen. Zum Glück hatte sie wie immer einen Durchschlag gemacht und so konnte sie den Brief noch einmal schreiben.

Es kamen die winterlichen Jahrestage, die diesmal besonders schwer zu ertragen waren. Gustavs 39.Geburtstag im November – wo er ihn wohl erlebte, wenn überhaupt – ihr 38. Geburtstag, der sie weiter von ihrem Traum von Familie entfernen würde, und der traurigste: Elsbeths 1. Geburtstag. An Feiern war nicht zu denken. Immerhin sorgte Auguste dafür, dass die Ihren an diesen Tagen nicht hungrig ins Bett gehen mussten. Die „falschen Bratwürste“ aus Weißkohl, Kartoffeln und Brotresten schmeckten ungewöhnlich, stillten aber den Hunger.

„Am Nikolaustag fahre ich nach Mittendorf“, verkündete Mathilde ihren Eltern einige Tage vorher. „Ihr müsst nicht mitkommen.“ Die Eltern verstanden, dass sie allein sein wollte und waren auch froh, dass sie beide bei dem nasskalten Wetter nicht die beschwerliche Zugfahrt antreten mussten. „Ich kann dir leider nur ein kleines Stück Brot mitgeben, es gab nicht genug für alle beim Bäcker“, sagte ihre Mutter traurig. „Vater stellt sich nachher wieder an.“

Mathilde schlug sich in einem wie üblich rappelvollen Zug nach Mittendorf durch. Zwischen dem Harken des letzten Laubes im November und dem Beschneiden der Bäume im Februar war sie während des Krieges nie im Garten gewesen, hatte aber brieflichen Kontakt zu den Nachbarn gehalten.

Als sie aus dem Zug stieg, fing es an zu regnen – passend zu ihrer Stimmung. Der Garten sah gepflegt aus, auch traurig, wie Mathilde fand. Im Winter war nichts Anderes zu erwarten. Mit Schnee und Sonne wäre der Anblick schöner gewesen. Im Schuppen war nicht eingebrochen worden, wie sie befürchtet hatte, sodass sie den Spaten holen konnte. Der Vorteil der über Null liegenden Temperaturen war, dass sie damit gut durch die Erde kam, um die Kartoffeln auszubuddeln, die sie hier in der letzten Nacht vor ihrem Umzug vergraben hatte. Wie würden sich die Eltern über diese Überraschung freuen!

Auf dem Weg zum Friedhof hörte es auf zu regnen. Das Grab war mit Tanne abgedeckt. Die beiden Stechpalmenzweige mit ihren roten Beeren, die ihr ein Nachbar geschenkt hatte, waren weg. Mathilde suchte ein paar bunte Ahornblätter aus den Laubhaufen heraus und steckte sie zwischen die Tannenzweige, sodass zumindest das Grab nicht mehr ganz so trostlos erschien.

Doch in ihr sah es immer noch dunkel aus. Sie dachte an die leidvollen Tage von Elsbeths Krankheit, an ihre Ohnmacht, dem Kind nicht helfen zu können. Diese Bilder standen deutlich vor ihrem geistigen Auge und quälten sie, wenn sie nachts aufwachte. Ob sie langsam verblassen würden? Sie versuchte, an den friedlichen Anblick ihres toten Kindes zu denken, das von allen Leiden befreit war. Es wollte nicht ganz gelingen. Sicher, Elsbeths Tod war eine Erlösung gewesen. Blind und in geistiger Umnachtung hätte sie unter den gegebenen Umständen nicht weiterleben können. Doch Mathilde fiel es schwer, im Tod ihrer Tochter eine göttliche Fügung zu erkennen. Ob sich das je ändern würde?

Es fing wieder an zu regnen. Mathildes für die Witterung zu dünner Mantel war bereits völlig durchnässt und den Schuhen drohte das gleiche Schicksal. Verdammte Diebe, die alle Wintersachen gestohlen hatten! Sie musste den Heimweg antreten.

Mitte Dezember kam die Antwort von Herrn Kowalsky. Gustavs Einheit hatte wie vermutet kurz vor Kriegsende vor den Russen kapituliert. Wer noch laufen konnte, war in die Gefangenschaft gegangen. Gustav war unverletzt geblieben. Über seine Erkrankung konnte Herr Kowalsky nichts sagen, nur, dass Gustav wegen Fiebers auf der Krankenstation gelegen hatte. In russischen Lagern kannte man als Krankheiten nur Fieber und Durchfall, sonst mussten die Gefangenen weiterarbeiten. Seine Angaben über den Ort halfen Mathilde nicht weiter. Herr Kowalsky war mit Gustav in Litauen gewesen, doch sollte das Lager aufgelöst und die Insassen in die Ukraine geschickt werden. Deshalb war er entlassen worden.

Diese Informationen stimmten weitgehend mit dem überein, was Mathilde bisher erfahren hatte. Allerdings hielten es die meisten für unwahrscheinlich, dass Gefangene von Litauen in die Ukraine geschickt wurden. Mathilde hörte auch, dass die Männer in der Ukraine in den Sümpfen arbeiten mussten und viele das Klima und die harte Arbeit nicht aushielten. Die Männer, die auf Bauernhöfen arbeiteten, hatten es meist besser als die in den Lagern, zumindest was die Versorgung betraf. Dafür gab es dort keinerlei Möglichkeiten, Post zu bekommen oder zu versenden.

Das erste Friedensweihnachten war ein dunkles Fest. Vater hatte von einem alten Bekannten Kerzen besorgt und Mutter hatte aus Ersatz-Zutaten einen Kuchen gebacken. Sie saßen um den Tisch herum und sangen Weihnachtslieder, aber irgendwann fing Mathilde an zu weinen. Sie dachte an das letzte Christfest, an dem sie noch ein kleines Christkind in der Wiege zu liegen hatten. Ihre Eltern hatten wohl den gleichen Gedanken, denn sie weinten spontan mit. Schließlich sagte die Mutter:

„Wir dürfen uns nicht so hängen lassen. Alle Deutschen haben Opfer bringen müssen. Wir sind am Leben, Gustav wahrscheinlich auch. Und es kann nur besser werden. Wir dürfen unseren festen Glauben und unser Gottvertrauen nicht verlieren.“

Gegen Abend gingen sie in die überfüllte Kirche. Der Pfarrer dankte Gott für den Frieden, und betete für die Kriegsgefangenen. Mathilde war nicht die einzige, die immer wieder schluchzte. Das altbekannte „Stille Nacht“ tat ihrer Seele gut, aber die Erinnerung an Elsbeth überwältigte sie. Alle gingen still nach Hause und legten sich sofort schlafen.

Im Januar gab Mathilde eine Suchanzeige für Gustav bei der Inneren Mission am Bahnhof Zoo auf. Wenn er noch lebte – und daran glaubte sie fest - musste es doch möglich sein, eine Postadresse rauszukriegen. Die Sachbearbeiterin machte ihr nicht viel Hoffnung auf ein baldiges Ergebnis. Mit allen anderen Alliierten gab es inzwischen eine gute Kooperation, doch die sowjetischen Behörden arbeiteten sehr schwerfällig, wenn überhaupt.

Es gelang ihr, eine Ladung Lampen von der Fabrik zu Herrn Reuter transportieren zu lassen. Sie war sehr stolz auf das erste selbst organisierte Geschäft. Am gleichen Tag kam wie in alten Zeiten der Katalog der Samenhandlung „Säende Hand“ und sie bestellte von ihrem kleinen Verdienst Samen für Erbsen und anderes Gemüse. Auch ein paar Blumen waren dabei. Bohnensamen und Steckzwiebeln wurden nicht angeboten, die musste sie wohl gegen Zigaretten tauschen. Wie freute sie sich auf die Rückkehr in den Garten! Raus aus der kleinen Wohnung, nah an der Natur sein, nah am Grab von Elsbeth und auch nah an Gott, jedenfalls stellte sie es sich so vor.

Vor dem Krieg war Gustavs Organisationstalent oft bewundert worden und sie selbst hatte sich als helfende Stütze im Innendienst gesehen. Aber nun stellte sie fest, dass sie sehr wohl in der Lage war, Kontakte zu Kunden und Lieferanten wieder aufzubauen und mit ihnen Geschäftsbeziehungen zu pflegen. Es machte ihr sogar Spaß und bot die Möglichkeit, die Wohnung zu verlassen und mit vielen Menschen zu reden.

Anfang März gingen die im Keller eingelagerten Kartoffeln zu Ende. Die Eltern hatten Verwandte in Anhalt, zu denen der Kontakt bisher nicht sehr eng gewesen war. Schließlich lebten sie schon seit Beginn des Jahrhunderts in Berlin. Aber jetzt schrieb der Vater an einen seiner vielen Brüder – sie waren 16 Geschwister gewesen, von denen acht das Erwachsenenalter erreicht hatten - und bat um die Vermittlung der Adresse eines Bauern, der Kartoffeln verkaufte. Sie hatten zwar kein Geld, aber ein paar Teile von dem Silberbesteck, das sie zur Hochzeit geschenkt bekommen hatten, waren noch da. An einem Frühlingstag stiegen sie in einen übervollen Zug und kamen am Abend ohne Silber aber mit drei Rucksäcken voller Kartoffeln zurück.

Die stundenlange Fahrt auf den Trittbrettern des Zuges war allerdings so anstrengend, dass die Mutter hinterher eine Woche mit Fieber im Bett lag. Dabei konnten sie noch von Glück sagen, dass sie nicht von der Polizei erwischt worden waren, die ihnen mit Sicherheit das bisschen, was sie hatten ergattern und tragen können, abgenommen hätte. Und Mathilde würde nie das triumphierende Lachen des Bauern vergessen, der vor ihren Augen ein halbes Pfund Butter in die Pfanne geworfen hatte.

Die Strapazen dieser Hamsterfahrten erschienen ihnen so groß, dass sie beschlossen, in Zukunft noch weniger zu essen und dafür länger zu schlafen. Mathilde konnte das nicht immer so machen, denn ihre Geschäfte wurden langsam mehr. Der Verdienst war nicht groß, aber am Ende des Winters konnte sie damit an die Verlegung von Wasser und Strom im Garten denken. Sie schrieb eine Postkarte an Herrn Wolter im Nachbardorf, der vor dem Krieg solche Arbeiten erledigt hatte. Er antwortete mit „zeitgemäßer Verzögerung“, sagte grundsätzlich zu, wies aber auf die Schwierigkeiten hin, einen Zähler zu bekommen. Und dann schrieb er noch: „Leider schreiben Sie nur im Singular? Sollte das Schicksal auch in ihr Leben gegriffen haben?“ Mathilde war gerührt und die Tränen traten ihr in die Augen wie immer, wenn sie an Elsbeths Tod erinnert wurde. Ihr Vater, der auch am Wohnzimmertisch saß, legte ihr sanft eine Hand auf den Arm.

„Du darfst dich nicht so gehen lassen“, mahnte ihre Mutter, die gerade ins Wohnzimmer kam. „Versuche einfach, nicht mehr so viel daran zu denken. Wir müssen nach vorne sehen.“

„Jetzt lass sie doch mal in Ruhe. Sowas dauert eben“, sagte der Vater in einem für seine Verhältnisse energischen Ton. Auguste verschwand grummelnd in der Küche. Ernst nahm Mathilde in den Arm, sie weinte und weinte. Sie staunte selbst darüber, dass die Worte eines Fremden sie so berührt hatten. Ja, das Schicksal hatte in ihr Leben eingegriffen. Sie befand sich an einem Tiefpunkt, von dem aus sie wieder hochkommen musste. Und sie würde es schaffen, das wusste sie. Wenn sie nur fest daran glaubte, könnte der Herrgott es richten, dass Gustav zurückkehrte und sie vielleicht wieder eine kleine Elsbeth haben konnten.

Mathilde organisierte den Zähler, gab Herrn Wolter, dessen Tochter ihr erstes Kind erwartete, das Geld, das sie hatte, den Kinderwagen und das Wenige, was von Elsbeths Babyausstattung noch übrig war, und versprach ihm Obst und Gemüse aus dem Garten. So konnte sie die Gartensaison mit unerwartetem Luxus beginnen.

Nicht nur am Leben bleiben

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