Читать книгу Nicht nur am Leben bleiben - Vera Wendt - Страница 6
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Aber sie war nicht allein. Da waren noch die Eltern, die in den schweren Zeiten immer für sie da gewesen waren und auch jetzt alles taten, um ihr das Leben leichter zu machen. Sie fühlte sich verantwortlich für sie. Daher zwang sie sich weiterzuleben, was ihr oft schwer fiel. Tagsüber ließ sie sich nichts anmerken, doch der Gedanke, dieses nutzlos gewordene Leben ohne Zukunft aufzugeben und einfach einzuschlafen ohne wieder aufzuwachen, kam ihr in schlaflosen Nächten immer wieder. Doch ihre Eltern brauchten sie und würden sie mit zunehmendem Alter noch mehr brauchen. Mit Anfang 60 fiel ihnen die Gartenarbeit schwerer als früher. Beim Vater machte sich zudem seine Verletzung aus dem Ersten Weltkrieg stärker bemerkbar. Er war im Schützengraben verschüttet gewesen und litt seitdem unter Schwindel- und Ohnmachtsanfällen, die unvorhersehbar und auch keiner bestimmten Situation zuzuordnen waren. Deshalb hatte er nach dem Krieg nicht in den erlernten Beruf als Konditormeister zurückkehren können, sondern die Familie mühsam mit unregelmäßigen Anstellungen als Kellner oder Küchenhilfe über Wasser gehalten. Die Heimarbeit ihrer Mutter, die auf der alten, schmiedeeisernen Nähmaschine Stofftiere nähte, sicherte ein kleines regelmäßiges Einkommen, sodass sie trotz Inflation und Weltwirtschaftskrise keinen schlimmen Hunger leiden mussten. Aber Geld war immer knapp gewesen und es gab deswegen auch viel Streit zwischen den Eltern.
Obwohl es zuhause sehr ärmlich zuging, hatte Mathilde Abitur machen können. Den Freiplatz auf dem Lyzeum, wie man damals die Mädchengymnasien nannte, musste sie sich jedes Jahr wieder durch gute Noten erarbeiten und mit der modischen Kleidung der Mitschülerinnen konnte sie nie mithalten. Nach dem Abitur wäre sie gerne Ärztin geworden, aber ein Studium war finanziell unmöglich. So lernte sie Stenografie und Maschineschreiben und arbeitete in diversen Büros, bis sie Gustav heiratete und in seiner Firma anfing. Obwohl sie nicht studieren konnte, betrachtete sie die Jahre auf dem Lyzeum als wertvoll. Sie hatte die Gelegenheit gehabt, Sprachen zu lernen und Bücher zu lesen. Durch ihre Mitschülerinnen erfuhr sie von einem Leben jenseits der winzigen Eineinhalb-Zimmer-Wohnung mit Toilette auf halber Treppe im Seitenflügel, einem Leben ohne finanzielle Sorgen, von dem sie seither träumte. Und sie hatte drei Freundinnen gewonnen, die mit ihr Abitur gemacht hatten. Wo mochten sie jetzt wohl sein?
Ihre Bildung half ihr im Moment nicht beim Überleben, der Garten dafür umso mehr. Sie und die Eltern steckten alle Kraft in den Anbau von Obst und Gemüse, denn es war nicht zu erwarten, dass sich die Versorgung im Winter bessern würde. Zum Glück trugen die alten Apfelbäume reichlich Früchte, die zum großen Teil lagerfähig waren. Die anderen verarbeitete sie mit ihrer Mutter zu Apfelmus und Kompott, wofür sie ihre gesamte Zuckerration verbrauchten. Oder sie tauschte sie bei Besuchen in Berlin gegen andere Lebensmittel ein.
Immerhin gab es inzwischen regelmäßig Brot auf Marken. Sie hatte den Garten schon vor dem Krieg erworben und in diesen Jahren gute Kontakte zur Nachbarschaft und den Bauern im Dorf aufgebaut. Das half ihr jetzt, Kartoffeln und andere Nahrungsmittel zu besorgen. Wie das im Winter werden sollte, konnte sie sich noch nicht vorstellen. Sie musste eine Möglichkeit finden, Kartoffeln zentnerweise einzukellern, sonst würden sie verhungern.
Der tägliche Kampf um Nahrungsmittel erforderte viele Fußmärsche und kostete sie all ihre Kraft. Dennoch fand sie immer noch ein Eckchen im Garten, wo Blumen für Elsbeths Grab gediehen. Ihre geliebten Rosen hatte sie für das Gemüse geopfert, aber für ein paar Dahlien, Sonnenblumen und Astern musste Platz sein. Mathilde grübelte oft lange, nachts, wenn die Eltern schliefen. Sie beweinte die düsteren Zukunftsaussichten und ihr totes Kind. Manchmal konnte sie mit dem Weinen lange nicht aufhören. Doch der Kampf ums Überleben ging jeden Tag weiter.
Mathilde erledigte nun viele Arbeiten, die vor dem Krieg Gustav und später ihr Vater gemacht hatten. Beim Umsetzen des Komposts dachte sie, dass sie es nicht schaffen würde. Aber sie wusste, ohne Komposterde würde es keinen Dünger für die Pflanzen geben, also musste sie weitermachen. An diesem Abend fiel sie erschöpft ins Bett und schlief sofort ein. Nachts musste sie an Gustav denken und konnte dann nicht schlafen. Ob er noch lebte? Die letzte Nachricht war vom April und er hatte sie in der Nähe von Danzig geschrieben.
Im Laufe des Septembers wurde wieder eine Briefzustellung eingerichtet. Mathilde hatte nach Elsbeths Tod keine Anzeigen verschicken können, aber an einige wenige Verwandte geschrieben. Offenbar waren die Briefe bei ihren Adressaten angekommen, denn sie erhielt einige Beileidsschreiben. Zuerst machte sie den Brief von Erna auf, ihrer Schwiegermutter von der Ostsee. Sie schrieb teilnahmsvoll über den Tod von Elsbeth und voller Sorge um Gustav und ihren jüngsten Sohn Wilhelm, der an der Westfront in einem Lazarett gedient hatte. Es gab unbestätigte Nachrichten von ehemaligen Kameraden, dass er sich in französischer Gefangenschaft befand. Von Ernas sieben Geschwistern hatten sich auch noch nicht alle wieder gemeldet. Aber ihre größte Sorge galt Gustav. „Man trifft ab und zu schon Heimkehrer, die in der Nähe von Danzig waren“, schrieb sie, „die als Kranke in die Heimat zurückgeschickt worden sind. Aber die Gesunden haben die Russen doch weiter weg nach Sibirien gebracht, sodass sie kaum Nachricht geben können.“ Das klang nicht ermutigend.
Bis 1943, als die häufigen Bombenangriffe begannen, war Mathildes Schwiegermutter regelmäßig in Berlin gewesen. Danach erschien Erna Reisen zu gefährlich, sie blieb lieber auf dem Lande, wo keine Bomben fielen.
Seit dem plötzlichen Tod von Gustavs Vater im Jahre 1928 wohnte Erna in Bogenhagen, einem Dorf an der mecklenburgischen Küste, das jetzt zur sowjetisch besetzten Zone gehörte. Von dem kleinen Erbe hatte sie das frühere Sommerhaus winterfest gemacht, sodass sie dort mit der schmalen Witwenrente erträglich leben konnte. Zusätzlich betrieb sie eine kleine Nähstube, obwohl sie selber weder geschickt in Handarbeiten noch im Wirtschaften war. Für das Eine hatte sie Näherinnen aus dem Ort, für das Andere ihren Sohn Wilhelm. Sie „machte die Honneurs“, wie man früher sagte, holte Aufträge ran, redete mit den Leuten und hielt Kontakte. Die Kunden kamen gerne, denn sie war eine gute Unterhalterin und konnte sehr liebenswürdig sein. Als Wilhelm eingezogen wurde, musste sie sich selbst um Einkauf, Buchführung und Lohnzahlungen kümmern, was ihr sehr schwer fiel. Durch den Krieg und die folgenden Notzeiten kam das Geschäft zum Erliegen. Mühsam überlebte sie den Krieg. Mathilde hatte immer Briefkontakt mit ihr und dabei würde es wohl vorerst bleiben, denn an Reisen war nicht zu denken.
Auch die meisten anderen Briefe waren Kondolenzschreiben. In wohl gewählten oder ungeschickten Worten drückten die Absender ihre ehrliche Anteilnahme am „Heimgang Eures über alles geliebten Schatzels“ aus und zeigten sich zuversichtlich, dass Gustav heimkehren würde. Für Mathilde gab es keinen Trost, aber sie war gerührt. Nur der Brief von Gustavs Tante Magdalena, die mit dem Pfarrer in Pommern verheiratet war, irritierte sie. Diese schrieb: „Wenn wir ganz uneigennützig in unserer Liebe wären, könnten wir uns ja freuen, dass solch ein liebes Seelchen sich nun entfalten darf, ohne die Rauheit der Sünde zu schmecken.“ Tante Magdalena hatte ursprünglich 12 Kinder haben wollen – lutherisches Pfarrhaus eben - doch es war bei dreien geblieben, die inzwischen erwachsen waren. Mathilde fragte sich, ob die Tante wohl auch so geschrieben hätte, wenn eines ihrer Kinder umgekommen wäre. Sie war gläubig, obwohl sie mit der demütigen Annahme von Gottes Willen im Moment ihre Probleme hatte, aber diese jenseits gerichtete Denkweise war ihr fremd. Ihr Gottvertrauen, das immer noch da war, richtete sich auf das Diesseits, da gab es genug zu tun.
Gustavs Bruder Walther aus Bayern schrieb, dass Wilhelm, der jüngste Bruder, sich wie vermutet in einem Gefangenenlager in Frankreich befand. Eine Nachbarin bekam eine Karte von ihrem Mann, der in England gelandet war, der Mann einer anderen arbeitete in den USA auf den Baumwollfeldern. Nur aus Russland hörte man gar nichts. Aus einer der ersten Zeitungen erfuhr Mathilde, dass das Rote Kreuz sich um die Gefangenen kümmern und außerdem einen Suchdienst aufbauen wollte, um die durch den Krieg auseinandergerissenen Familien wieder zusammen zu führen. Sie selbst hatte wenige Verwandte, aber Gustavs Familie war groß und die Kontaktpflege war ihm immer wichtig gewesen. Zum Glück hatte sie bisher noch keine Todesnachricht bekommen und sie wusste von vielen Verwandten, wo sie sich befanden. Gustav war der Einzige, dessen Schicksal ungeklärt war.
Das Leben im Garten stärkte sie, obwohl es Tage und Nächte gab, in denen die Verzweiflung von ihr Besitz ergriff und sie sich in den Schlaf weinte. Körperlich ging es ihr erstaunlich gut. Natürlich hatte sie wie jeder durch die jahrelange Notzeit stark abgenommen. Ihre Kleider und Röcke aus der Vorkriegszeit – und andere hatte sie nicht - musste sie mit einem Gürtel zusammenhalten. Dennoch glaubte sie, dass sie nicht verhungert aussah. Nachprüfen konnte sie das nicht, denn ein Spiegel gehörte nicht zu den Einrichtungsgegenständen, die sie in der Laube für notwendig hielt. Um ihre feinen, halblangen Haare zu einem Dutt zu binden, brauchte sie ihn nicht. Unter dem Kopftuch war sowieso nichts zu sehen.
Alle zwei Wochen fuhr sie nach Berlin, meistens auf dem Trittbrett des Vorortzuges. Sie versuchte, Freunde und Bekannte aus der Vorkriegszeit wiederzufinden, und sah nach der Wohnung der Eltern. Man konnte immer noch vom Hof aus in die Zimmer sehen. Das Mobiliar hatte sie vom Schutt befreit und so gut es ging in den Flur befördert, der noch erhalten war und Schutz gegen die Witterung bot. Diese Aktion war gefährlich, sie hatte von Leuten gehört, die dabei abgestürzt und von Trümmern erschlagen worden waren. Deshalb versuchte sie, nicht zu nahe an die Abbruchkante zu kommen. Den alten Ohrensessel ihres Vaters ließ sie lieber stehen, er hing mit einem Bein über der Kante und war durch Schutt und Regen ohnehin ramponiert.
Als Mathilde den Eltern von ihrem Besuch berichtete, fragte ihre Mutter nach Einzelheiten. Mathilde reagierte unwirsch: „Ihr habt doch gesehen, dass die eine Wand weg war. Daran hat sich nichts geändert. Mehr als Sachen sichern kann ich auch nicht. Immerhin steht das Haus noch – im Gegensatz zu meiner Wohnung in der Potsdamer Straße. Vielleicht fällt es eines Tages zusammen wegen Schäden, die wir nicht sehen. Da möchte ich nicht dabei sein.“
„Schon gut“, antwortete Auguste, ihre Mutter, „ich weiß ja, dass du alles Menschenmögliche tust. Wo sollen wir bloß hin, wenn der Winter kommt?“
Leider musste Mathilde bei einem ihrer Besuche feststellen, dass jemand in die Wohnung eingebrochen war. Die Wintermäntel und alles feste Schuhwerk waren weg. Solche Dinge waren nicht zu ersetzen. Später erfuhr sie, dass auch in anderen Wohnungen Einbrecher am Werk gewesen waren. Es hieß, dass die sowjetische Besatzungsmacht hart gegen Plünderer vorging, wenn sie welche erwischte. Doch die Not war groß und damit die Versuchung, leichte Beute zu machen. Ihre Wintersachen waren vermutlich längst auf dem Schwarzmarkt gelandet, wo man alles bekam, nur zu astronomischen Preisen und gegen Zigaretten oder im Tauschhandel. Mathilde konnte nur hoffen, dass sie vor dem Winter im Verwandten- oder Freundeskreis Winterbekleidung bekommen könnte. Mit den Größen durfte man nicht pingelig sein.
Im Auftrag der sowjetischen Besatzungsmacht begannen die deutschen Kommunisten, eine zivile Verwaltung aufzubauen. Früher hatte Mathilde diese politische Richtung immer abgelehnt, aber jetzt erschienen sie ihr sehr rührig. Sie organisierten Hausversammlungen, informierten zuverlässig und bauten tatsächlich die zerstörte Wand wieder auf. Allerdings war der Jargon nach wie vor nicht ihr Fall und das ständige Gerede von der „ruhmreichen Sowjetunion“ ging ihr auf die Nerven. Doch sie zogen alle drei im Oktober wieder in die alte Wohnung ihrer Eltern, darauf kam es erstmal an. Sie hatten schon befürchtet, endgültig obdachlos zu werden und in eines der Lager zu müssen, so wie die zahllosen Flüchtlinge aus den Ostteilen des einstigen Deutschen Reiches. Einquartierungen hatten sie bei eineinhalb Zimmern für drei Erwachsene nicht zu befürchten.
Mathilde wollte gerne Frau Winterstein besuchen. Allerdings hatte sie bemerkt, dass an der Tür ein kleiner Zettel mit Buchstaben in der alten deutschen Sütterlin-Schrift angebracht war, die im Reich seit 1941 nicht mehr gelehrt worden war. Mühsam entzifferte sie einen Namen mit „von“ am Anfang. Sie klingelte und es öffnete eine ihr unbekannte Frau, die dem Dialekt nach aus Ostpreußen kam, wo die „Arbschen vons Messerchen kullerten“, wie ihr Vater zu sagen pflegte.
„Ich glaube, die Frau, die vorher hier wohnte, hieß Winterstein“, gab die junge Frau Auskunft. „Sie ist gestorben und wir, d. h. meine fünf Kinder und ich, wurden von der Militärkommandantur hier eingewiesen. Mehr weiß ich auch nicht. Sie sind die Erste, die nach ihr fragt.“
Mathilde versuchte, bei anderen Hausbewohnern etwas herauszubekommen. Die Bäckersfrau, immer gut informiert, gab Auskunft, als Mathilde mit ihr alleine im Laden war. Normalerweise standen lange Schlangen davor, aber es hatte gerade ein Gewitter gegeben und die Leute blieben erstmal zu Hause.
“Frau Winterstein wurde tot aufgefunden, es war wohl Selbstmord“, begann die Ladeninhaberin, die im Gegensatz zum Rest der Bevölkerung ein wenig rundlich war. „Man hatte sie aufgefordert, als Trümmerfrau zu arbeiten und das traute sie sich nicht mehr zu. Mich hat das gewundert, denn es wurden nur Frauen zwischen 15 und 50 zwangsverpflichtet und ich hatte immer gedacht, dass sie älter wäre. In letzter Zeit wurde sie ständig dünner, sie sah schlecht aus und klagte über Bauchweh.“
Ein Kunde betrat den Laden und Mathilde war dabei sich zu verabschieden, aber die Bäckersfrau wollte ihr offenbar noch etwas mitteilen.
„Warten Sie noch einen Moment“, bat sie und wandte sich dem Herrn zu. Als er gegangen war, fuhr sie fort: „Sowas erzähle ich natürlich nicht, wenn ein Mann im Raum ist, aber ich glaube, dass sie sich damals was weggeholt hat, als die Russen sie rangenommen haben. Die ersten, die ankamen, waren schlimm, da gab es kein Entkommen. Und beim Arzt war sie bestimmt nicht, es gibt ja auch kaum welche. Schwanger konnte sie wohl nicht mehr werden so wie Mariechen aus der Nummer 33, die hat sich deswegen aus dem 4. Stock gestürzt.“
Mathilde wollte nicht noch mehr Schreckensgeschichten hören und lenkte das Gespräch auf einen anderen Aspekt: „Und Sie meinen, dass man mit Männern nicht darüber reden kann?“
„Das sollte man auf keinen Fall tun. Die können damit nicht umgehen und werden uns am Ende die Schuld geben. Sie werden sehen, diese Seite unserer „Befreier vom Faschismus“ wird in keinem Geschichtsbuch auftauchen, und wir werden auch nicht darüber reden, weil wir uns so schämen.“
Mathilde verließ wortlos die Bäckerei. Der Tod der Katzen war wohl noch das Geringste gewesen, was Frau Winterstein zu verkraften hatte. Die Erfahrung von Gewalt, Demütigung und Ausgeliefertsein, dazu die körperlichen Verletzungen und rundherum Tod und Zerstörung – Mathilde verstand, dass sie keine Perspektive mehr gesehen hatte. Sie war immer allein gewesen und auch so gestorben. Hoffentlich hatte sie einen schmerzfreien Tod gehabt.
Noch schlimmer fand sie die Nachricht, dass Mariechen tot war, obwohl sie diese Nachbarin nur flüchtig gekannt hatte. Sie war erst Anfang 20 gewesen, eine fröhliche junge Frau. Der Verlobte diente an der Afrikafront, wo seit 1943 nicht mehr gekämpft wurde. Was musste es für ein Schock gewesen sein, schwanger von einem unbekannten Vergewaltiger! Abtreibungen hatte es bei den Nazis nicht gegeben, da gab es auch jetzt kaum Möglichkeiten, einen Arzt zu finden. Mathilde wusste außerdem, dass die neu entstandene SPD-Gesundheitsverwaltung Abtreibungen für einen gewissen Zeitraum zulassen wollte, aber die Katholiken und die Kommunisten sich dem strikt verweigert hatten. Die Katholiken, weil sie daran glaubten, dass alles entstehende Leben von Gott gewollt sei, die Kommunisten, weil sie Berichte über Vergewaltigungen als „Propagandalügen“ ansahen und behaupteten, dass ein Sowjetsoldat so etwas nicht täte. Walter Ulbricht, der Führer der Kommunisten, hatte sich jegliche weitere Diskussion über diesen Tagesordnungspunkt verbeten und man wusste ja, dass hinter ihm die Besatzungsmacht stand. Wie würden solche Abstimmungen ausgehen, wenn nur Frauen zu entscheiden hätten? Die arme Marie hatte sich sicher vorgestellt, was ihr Verlobter sagen würde, wenn er nach Jahren heimkam und sie ein solches Kind hätte. Wie verzweifelt musste sie gewesen sein! Mathilde war froh, dass ihr Kind sie vor dieser Erfahrung bewahrt hatte.
Es war ihr klar, dass man auch sie bald zum Enttrümmern verpflichten würde. Es gab nur eine Möglichkeit, dem zu entgehen: Sie musste eine Anstellung nachweisen. Vor dem Krieg war sie Angestellte gewesen, erst bei diversen Büros, später bei Gustav. Natürlich gab es die Firma in der Realität nicht mehr, aber auf dem Papier war sie noch existent. Und sie hatte zum Glück immer die Karteien der Kunden und Lieferanten mit in den Luftschutzkeller genommen und so gerettet. Das würde ihr vielleicht ermöglichen, den Lampenhandel zumindest teilweise wieder aufzubauen, sodass Gustav, wenn er denn zurückkommen sollte, schon eine Basis für weitere Geschäfte vorfinden würde. Als Angestellte würde sie auch nicht mehr die „Friedhofskarte“ für die nicht arbeitende Bevölkerung bekommen, deren Rationen kaum zum Leben ausreichten. Ihre Lebensmittelkarte würde ihr erlauben, 35 statt 25g Bohnenkaffee im Monat zu bekommen – ein Luxus. Sie würde den Kaffee natürlich nicht trinken, sondern versuchen, ihn auf den Hamsterfahrten in Obst und Gemüse oder auf dem Schwarzmarkt in andere Notwendigkeiten des Alltags umzutauschen. So hätten sie und ihre Eltern vielleicht eine Chance, den bevorstehenden Winter zu überleben.
Sie beantragte erfolgreich die Einstufung als Angestellte und versuchte als ersten Schritt, per Post Kontakt zu einigen Lieferanten aufzunehmen, um festzustellen, ob es überhaupt Lampen gab, die man verkaufen konnte. Nur gut, dass sie auch die Schreibmaschine und ein paar Ersatzschreibbänder immer mit in den Keller genommen hatte. Sie schrieb an alle den gleichen Text, immer ein Original mit zwei Durchschlägen, mehr schaffte ihre kleine Maschine nicht. So erhielten 12 Lieferanten ihre Postkarte:
„Die Wiederaufnahme des Postverkehrs, der Wunsch, wieder aufzubauen, nicht zuletzt aber das Interesse am Ergehen meiner alten Geschäftsfreunde veranlasst mich zu der Bitte, mir mitzuteilen, wie Sie die „schwere Not“ überstanden haben, und ob Sie in der Lage und bereit sind, Ihr Geschäft wieder aufzunehmen. Bejahendenfalls würde ich mich freuen, wieder zu Ihrer Kundschaft zu gehören und im Frühjahr in früherer Weise von Ihnen beliefert zu werden. Dabei gebe ich mich der Hoffnung hin, dass es gemeinsamer Anstrengung gelingen wird, die noch bestehenden Schwierigkeiten im Geschäftsverkehr zu überwinden.
Ich wäre für eine Bestätigung und Beantwortung meiner Anfrage sehr dankbar und zeichne mit allen guten Wünschen für die Zukunft
Hochachtungsvoll
Gustav Kuhrt
Lampenhandel
i.A. Mathilde Kuhrt
„Das hast du sehr schön geschrieben“, kommentierte ihre Mutter skeptisch, „aber ob die Leute noch leben und sich da einer meldet – ich weiß nicht.“
„Es ist ein Anfang, mehr nicht“, antwortete Mathilde.