Читать книгу Marie Heim-Vögtlin - Die erste Schweizer Ärztin (1845-1916) - Verena E. Müller - Страница 10

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Rudolfine oder die grosse, städtische Welt

Zurück in Bözen zeigte sich der Ernst des Lebens zunächst in Form von gelangweilter Verlorenheit. Modern ausgedrückt: Marie erlebte einen kleinen Kulturschock: «Nach einem Jahr kam ich in meine Heimat zurück. Hier fühlte ich schmerzlich den Mangel an Gelegenheit, das was ich gelernt hatte, weiter auszudehnen, ich fand nicht die Bücher, welche meinem Standpunkte entsprachen, und so war ich genöthigt, neben den häuslichen Arbeiten mich auf Musik und Italienisch, worin ich mir am besten allein helfen konnte, zu beschränken.»1 Die «alten Freunde Blumen und Thiere», tröstende Gefährten während der Ferien in der Thalheimer Zeit, reichten nicht mehr aus. Zu viele geistige Türen hatte der Aufenthalt in Montmirail aufgestossen.

Nach Siebel rieben sich auch die beiden Schwestern Anna und Marie aneinander: «Räumlich getrennt, doch durch regen Briefwechsel verbunden, fühlten sich die Schwestern immer einander näher, als im täglichen, ihre Gegensätze offener aufdeckenden Beisammensein.» Ablenkung fand Marie am Klavier: «Am liebsten versenkte sie sich in die Werke Beethovens.»2

Maries kränkliche Mutter war inzwischen 60 Jahre alt. Auf engem Raum mit einer unzufriedenen 18-Jährigen zusammenzuleben, strapazierte das Umfeld sowie die betroffene junge Frau. Dank ihrer weitläufigen Familie fand Henriette Vögtlin-Benker einen Ausweg. Sie wandte sich an eine Verwandte in Zürich, Rudolfine Blumer, und bat sie, Marie für einige Zeit bei sich aufzunehmen. Dieser Aufenthalt wurde ein Erfolg: «Dann brachte ich einen Winter in Zürich zu, wo ich zum ersten Mal Gelegenheit hatte, das rege geistige Treiben einer Stadt kennen und schätzen zu lernen.»3 Nach der Natur entdeckte Marie also ein zweites kongeniales Umfeld, die Stadt.

Anna Rudolfina Blumer-Eckenstein (1831–1923), über ihre Mutter Susanne Benker eine direkte Cousine, war nur 14 Jahre älter als Marie. Obschon erfahrene Familienmutter, war sie also noch recht jung. Wie Marie hatte sie ihre Kindheit in einem Aargauer Pfarrhaus verlebt – in ihrem Fall in Reitnau. Ihr Gatte Johannes Blumer, Teilhaber der Seidenstofffabrik «Nägeli, Wild & Blumer», entstammte einer alten Glarner Textildynastie. Die junge Familie war kurz vor Maries Zürcher Aufenthalt aus der französischen Seidenmetropole Lyon in die Schweiz zurückgekehrt.

Beruflich war der Seidenhändler Johannes Blumer international, ja interkontinental vernetzt und entsprechend weltoffen.4 Anders als bei ihren beiden Internatsaufenthalten trat Marie nun erstmals wirklich aus dem Schatten des Pfarrhauses heraus. Die neue Umgebung nutzte ein städtisches Kulturangebot und verfügte über ganz andere finanzielle Ressourcen als Maries Eltern, selbst wenn man berücksichtigt, dass sich konjunkturelle Hochs und Tiefs unmittelbar auf die Geschäfte auswirkten.

In Bözen – und später in Brugg – hiess es, knappe Mittel möglichst geschickt und sparsam einzusetzen. In Zürich lernte Marie, wie man einen gepflegten Grosshaushalt nach französischem Muster führt, ohne sich von dieser Aufgabe völlig vereinnahmen zu lassen. In den Kreisen, in denen sich Blumers bewegten, waren die gängigen Grundfähigkeiten einer Hausfrau selbstverständliche Voraussetzung. Die Gattin sollte sich jedoch nicht nur auf Kochen, Waschen oder Kindererziehung verstehen, sondern ein offenes, gastfreundliches Haus führen, sich für Kultur aufgeschlossen zeigen sowie sich gelegentlich sozial engagieren. Solch vielfältige Ansprüche setzten grosses organisatorisches Talent voraus. Im Hause Blumer erwarb sich Marie Fertigkeiten, die ihre Chancen auf dem traditionellen Heiratsmarkt enorm verbessert hätten. Obwohl sie schliesslich einen andern Weg einschlug, war der praktizierenden Ärztin das Gelernte bei der Bewältigung von Berufs- und Familienarbeit später sehr nützlich.

Als Marie nach Zürich kam, hatte Rudolfine bereits vier Kinder: Die Töchter Mina (8), Alice (6), Emma (3) und den Sohn Albert (1). In einem Brief vom 11. April 1864 an ihre Familie in Brugg schildert Marie ihren Alltag. Rudolfine war für einige Tage verreist: «Die letzte Woche ist unter den vielen Beschäftigungen, die sie mir brachte, pfeilschnell dahingegangen. Ich bin jetzt also Haushälterin und als solche habe ich manches zu denken und zu besorgen; es ist aber bisher alles auf ’s Beste gegangen und ich bin schon sehr fröhlich und vergnügt bei meinen Geschäften, obschon ich mich auch wieder herzlich auf unserer rechten Hausmutter Rückkehr freue […]. Alice hat bis morgen Ferien; da habe ich mich auch viel mit ihr abgegeben und sie hat mir recht Freude gemacht. Ich muss mich oft verwundern, wie sie so sehr an mir hängt. Ich glaube, ich könnte alles mit ihr anstellen, ohne dass sie bös auf mich würde. Auch Emma will nun bei niemand anders sein, als bei mir und ich muss sie fast immer tragen oder auf dem Schoss haben. Ich habe aber eine grosse Freude an dieser Anhänglichkeit […]. Am Freitag hatte ich fünf kleine Freundinnen für Alice eingeladen, um ihr eine rechte Ferienfreude zu machen. Ich spielte die ganze Zeit mit den Kindern und wir machten es uns sehr lustig zusammen.»5 Von Mina und dem kleinen Albert hören wir in diesem Brief nichts, vielleicht waren sie in diesen Tagen auswärts.

Eine Hausmutter musste improvisieren können: «Gestern war ich in einem argen Pech. Ich kam eben von einer wundervollen Predigt von Dr. Held zurück; da hiess es, ein Lyoner Freund von Herrn Blumer sei hier gewesen und werde wahrscheinlich hier bleiben; ich hatte schon viel von ihm gehört, als dem vornehmsten und reichsten von all den befreundeten Lyonern […], um 11 Uhr endlich liess man mir sagen, Herr Dobler werde bei uns zu Mittag essen und zwar gleich nach zwölf […], stellt Euch meine Verlegenheit vor; ich hatte ein ganz einfaches Mittagessen bestellt.»6 Offensichtlich beschäftigten Blumers eine Köchin, der Marie in Rudolfines Abwesenheit die entsprechenden Aufgaben zuteilte. Die Bözener Wirklichkeit lag in weiter Ferne.

Marie durfte Blumers zu Gesellschaften begleiten, wo man sie als junge Dame von Welt behandelte, sie wurde auf den Ehrenplatz neben dem Gastgeber platziert: «Donnerstag Abend waren wir in einer grossen Gesellschaft bei Herrn Nüschelers; ich traf wenig Bekannte, hatte aber zum Tischnachbarn den Hausherrn, der sehr amüsant ist und mit dem ich mich auf’s Beste unterhielt. Beim Heimgehen war es sehr kalt; ich hatte einige Tage nachher sehr entzündete Augen, die mir ziemlich Schmerzen machten.»7


Marie als junge Frau, vermutlich kurz nachdem sie bei Rudolfine Blumer die Führung eines Grosshaushaltes gelernt hatte.

Bis ins hohe Alter spielte Rudolfine im Leben der Grossfamilie eine zentrale Rolle. In ihrem Haus herrschte stets ein lebhaftes Kommen und Gehen. Immer wieder drängten sie die Umstände in die Rolle der «Anstandsdame», die ihre ländlichen Verwandten bei ersten Gehversuchen in der Stadt vor allerhand Fallstricken bewahren sollte. Auswärtige Familienangehörige auf Durchreise nutzten ihre Adresse gerne als Hotel.8 So liess sich auch Maries Schwester Anna in Zürich beherbergen, um den Zahnarzt zu besuchen: «Rudolfine ist gerne bereit, Dich zu empfangen, wenn Du kommen willst, das Zimmer sei immer bereit.»9

Rudolfines Heim war Schauplatz einiger biografisch wichtiger Ereignisse und Begegnungen. Hier traf sich Marie immer wieder mit ihrem ersten Verlobten, Friedrich Erismann, und hier kamen die beiden am 3. Januar 1867 überein,10 ihre Beziehung aufzulösen. «Fritz», Henriettes Neffe, war als Cousin mit Rudolfine genau so nahe verwandt wie Marie und profitierte in jungen Jahren häufig von ihrer Gastfreundschaft. – Kurz vor Studienbeginn musste Marie ganz besonders auf ihren guten Ruf achten. Was lag näher, als bei Rudolfine zu logieren, um in Zürich Einzelheiten über die Immatrikulation abzuklären? Nachdem sie in Zürich bereits eine eigene Adresse hatte, lernte Marie im Hause Blumer die Italienischlehrerin Sophie Heim kennen und traf – bei Rudolfine selbstverständlich – erstmals deren Bruder, ihren künftigen Gatten Albert Heim.

Wie sehr sich die Welt der Familie Blumer vom bescheidenen Pfarrhaus in Bözen unterschied, mögen einige Hinweise illustrieren. Wenige Jahre nachdem Marie ihre Praxis in Hottingen eröffnet hatte, bezogen Blumers in ihrer Nachbarschaft eine Mietwohnung an der Zürichbergstrasse,11 für die sie eine Jahresmiete von 3000 Franken bezahlten. Möglicherweise war in dieser Summe die Miete für ein Seidenlager enthalten. Das damals neue Gebäude bot einen herrschaftlichen Wohnkomfort. (Zum Vergleich: Albert Heims Gehalt als junger Professor an der ETH betrug jährlich 3800 Franken.)

Die kleinen Mädchen, die Marie so sehr ans Herz gewachsen waren, heirateten alle erfolgreiche Ehemänner: Mina, die Älteste, wurde die Gattin des damals reichsten Zürchers, Gustav Adolf Tobler, und lebte in der Jugendstilvilla an der Winkelwiese. Alice und Emma lebten in Basel. Alice heiratete den künftigen Präsidenten des Schweizerischen Bankvereins, Emma einen Direktor der Gesellschaft für Chemische Industrie, der späteren Ciba-Geigy. Über die Ehe der kleinen, anschmiegsamen Emma schrieb eine Verwandte: «[…] Emma Blumer, die sehr energisch und streberisch war und ihn [Eduard Ziegler], den ‹Ultragutmütigen›, ganz leitete. Es war aber wirklich zu seinem Glück.»12

Marie Heim-Vögtlin - Die erste Schweizer Ärztin (1845-1916)

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