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Eine durchaus gediegene Mädchenbildung

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«Ich wage nun […] dennoch vor Sie hinzutreten, indem ich Sie erinnere an die grossen Schwierigkeiten, welche einem Mädchen in den Weg treten, das sich eine Bildung zu verschaffen wünscht, ähnlich derjenigen, zu deren Erlangung den jungen Männern alle Thüren offen stehen. Wäre mir früher Gelegenheit geboten worden, ein Gymnasium zu besuchen, so hätte ich mich glücklich genug geschätzt, dies zu thun und in diesem Falle würde ich auch keine Schwierigkeit gehabt haben, allen Forderungen einer normalen Maturitätsprüfung zu entsprechen.» 1

Mit deutlichen Worten beklagte sich Marie in ihrem Gesuch um Zulassung zur Maturitätsprüfung an der Kantonsschule Aarau über die fehlenden Bildungschancen für Mädchen. Sie wusste, dass ein Pfarrerssohn mit ihrer Begabung das Gymnasium besucht hätte. Ihre spontane intellektuelle Neugier liess sie früh Fragen stellen, auf die eine traditionelle Mädchenbildung keine Antwort hatte. Vor allem vermisste sie gründliche naturwissenschaftliche Kenntnisse. Nach dem Entscheid zum Studium verbrachte Marie Jahre damit, Lücken in ihrem Allgemeinwissen zu stopfen.

Bei ihren Zeitgenossen hätten Maries Bemerkungen Kopfschütteln ausgelöst, denn in deren Augen schien ihre Bildung richtig «gediegen». Die Eltern Vögtlin hatten sich redlich bemüht, der Tochter einen soliden schulischen Rucksack auf den Lebensweg mitzugeben, und dafür weder Aufwand noch Kosten gescheut. In den modernen Fremdsprachen Französisch und Englisch beispielsweise war sie jungen Männern überlegen. Allerdings sollte sie ihre Schulung nicht auf wissenschaftliches Denken oder einen Beruf, sondern auf das Leben einer Ehefrau ihrer Gesellschaftsschicht vorbereiten. Dazu gehörten handwerkliche Fertigkeiten wie Nähen, Stricken, Flicken, Sticken, Kochen, aber auch Fremdsprachenkenntnisse und eine gewisse musikalische Bildung. In den Jahrhunderten vor Radio und Schallplatte hörte man nur Musik, die man selbst machte. Einzig in Städten gab es ein bescheidenes Konzertleben. Marie spielte Klavier und in der Kirche Harmonium;2 auch in späteren Jahren sang sie häufig und offensichtlich gerne. Doch all das war der jungen Frau zu wenig.

Aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts fällt auf, dass Marie stets privat unterrichtet wurde. An der Universität nutzte sie erstmals das Angebot einer öffentlichen Institution. Über ihre Grundausbildung berichtet sie: «Bis zum zwölften Jahr wurde ich aber nicht zu strenger Arbeit angehalten, sondern trieb mit aller Musse die Elementarfächer entsprechend den Stadtschulen für Kinder meines Alters. Mein Vater lehrte mich Deutsch und Rechnen, meine Mutter Französisch und Clavier, und bei meinem Lehrer, der die übrigen Schulfächer übernommen hatte, trieb ich mit vorzüglicher Freude Schweizergeographie, Singen und Zeichnen.»3 Interessant ist der Hinweis auf die Stadtschulen. Offenbar hatte die Familie Vögtlin Vorbehalte gegen die Bözener Dorfschule und setzte die Latte für ihre Tochter etwas höher. Ob es in einer Aargauer Dorfschule zuging wie auf den Bildern Albert Ankers?

Siebel glaubte, die schwächliche Gesundheit der Mutter sowie Konflikte zwischen den beiden Schwestern Marie und Anna hätten die Eltern veranlasst, die Zwölfjährige zur weiteren Ausbildung zu Jakob Immanuel Hunziker und seiner Frau ins Pfarrhaus in Thalheim zu schicken.4 In Maries Thalheimer Zeit fällt Annas Welschlandaufenthalt in Montmirail 1859.

In einer grosszügigen Liegenschaft aus dem 18. Jahrhundert betrieben Hunzikers eine kleine Pension.5 Marie beschreibt diese erste Internatszeit: «Mit zwölf Jahren kam ich, da in unserem kleinen Dorf keine Gelegenheit zu weiterer Ausbildung geboten war, in eine kleine Privatmädchenanstalt im Aargau, wo ich während der folgenden 3½ Jahre unterrichtet wurde. Hier fing ich an, Englisch zu lernen, und da wir nur abwechselnd Französisch und Englisch sprechen durften, so lernte ich rasch, mich etwas in diesen Sprachen zu unterhalten. Ich genoss guten Unterricht in allen Schulfächern; Naturwissenschaft trat in den Hintergrund, dagegen trieb ich mit grosser Freude allgemeine Weltgeschichte, Geographie, Rechnen, Zeichnen und Musik. Unsere Anstalt war in einem völlig abgeschlossenen Dorf, wir hatten keine Gelegenheit, mit anderen Mädchen zusammen zu kommen, um so grössere Freude hatten wir am Lesen, und ich werde nie den tiefen Eindruck vergessen von den Abenden, als uns zuerst Götz von Berlechingen, Schillers Wallenstein und Jung frau von Orléans vorgelesen wurde. An den Sonntagen pflegten wir die Kinder des Dorfes zu versammeln und hielten ihnen, in viele Classen abgetheilt, Schule.»6


Im Pfarrhaus in Thalheim AG besuchte Marie mit zwölf Jahren als Internatsschülerin den Unterricht bei Pfarrer Jakob Imanuel Hunziker und seiner Gattin.

Gerade die «Jungfrau von Orléans» war Marie aus nahe liegenden Gründen ans Herz gewachsen: eine junge Frau, die ihrer Berufung folgt und Grosses leistet. In ihrem Maturitätsaufsatz über die Rolle der Frauen in der Geschichte schreibt sie: «AUS DEM VOLKE sind keine Frauen hervorgegangen, welche DIREKT ihrem Staat in der Administration desselben Dienste geleistet haben, selten solche, welche ihrem Vaterland durch ihren Arm gedient haben. Die grösste und unvergesslichste Frau, welche, von reiner Vaterlandsliebe getrieben, das letztere gethan hat, ist Jeanne d’Arc.»7

Das Vorlesen spielte früher eine ähnliche Rolle wie heute der gemeinsame Fernsehkonsum. Bücher waren so teuer, dass sich selbst bürgerliche Familien höchstens eine bescheidene Bibliothek leisten konnten. Vortragen mit verteilten Rollen oder Lesungen des Familienvaters, während sich die Frauen mit Handarbeiten nützlich machten, waren klassische Abendvergnügungen. Zuhörerinnen und Zuhörer sassen oft im Dunkeln, Elektrizität gab es keine, Petrollampen oder Kerzen spendeten kärgliches Licht.

Während der Thalheimer Jahre verbrachte Marie ihre Ferien nach wie vor in Bözen: «In den Ferien, die ich zu Hause zubrachte, eilte ich dann wieder meinen alten Freunden unter Blumen und Thieren in Wald und Feld nach.»8 Über das Familienleben erfahren wir nichts.

Die Beziehung zu den «Thalheimern» hielt mindestens bis in die Zürcher Zeit. Im Mai 1869 erhielt die Studentin Besuch von der «alten treuen Luise». Im Brief an ihre Schwester Anna lässt sie durchblicken, dass Hunzikers noch immer wenig Verständnis für ihren Berufsentscheid haben. «Ihr [Luises] Besuch hat mich herzlich gefreut […], sie schien auch über mein Leben etc. beruhigt, als sie mich so gesund und frisch und zufrieden fand, dass hoffentlich ihr Befund in Thalheim ein kleines Gewicht in die Waagschale zu meinen Gunsten legen kann.»9

Das Welschlandjahr galt als Höhepunkt eines traditionellen Jungmädchenlebens. Erstmals war die Grundschulabsolventin weit von zu Hause fort, sie erhielt den letzten intellektuellen und gesellschaftlichen Schliff und schloss oftmals Freundschaften für das Leben. Marie besuchte – wie zahllose Pfarr- und Bürgerstöchter vor und nach ihr – das Herrenhuter Internat Montmirail bei Neuenburg, eine Schule mit internationalem Ruf.

Kern der malerischen Anlage ist ein Schloss aus dem Jahr 1618. 1766 übernahm die Herrenhuter Brüder-Sozietät das Anwesen. Das Gegenstück für junge Männer befand sich im Schloss Prangins in der Nähe von Nyon, dem heutigen Westschweizer Landesmuseum. Kurz bevor Marie in Montmirail eintrat, waren neue Bauten entstanden, so 1853 ein Haus für die Pensionärinnen.10 Die Bildungsstätte überlebte bis 1991, als die Brüder-Sozietät das Institut aufgab und die Liegenschaft umnutzte.

«Während dieser Jahre wurde ich in den Schulfächern so weit gefördert, dass, wie ich im sechzehnten Jahr in ein grösseres Internat im Ct. Neuenburg eintrat, ich mit den höhern Classen folgen konnte. Hier wurde die Abwechslung zwischen französischer und englischer Conversation fortgesetzt, so dass ich bald mit diesen Sprachen völlig vertraut war. Ich fing nun auch Italienisch zu lernen an, trieb mit grossem Eifer alle übrigen Fächer, namentlich Musik und Zeichnen.» 11

Maries spätere Freundin Marie Ritter schildert in ihren Lebenserinnerungen das Leben im Internat: «Es gab so viel Neues zu erleben, dass ich nicht dazu kam Heimweh zu haben […]. Ich kam ins 5te Zimmer […]. Im Zimmer waren 15 Mädchen und 2 Lehrerinnen. Es waren im Ganzen 5 Zimmer und ein Haufen Lehrerinnen zum Theil recht gute.»12

In Montmirail wurde Marie am 22. Dezember 1861 konfirmiert.13 Das heisst, sie hatte auch ausgedehnten Religionsunterricht besucht, was sie jedoch in ihrem Lebenslauf unterschlägt. War ein Hinweis darauf in einem offiziellen Bewerbungsschreiben überflüssig, oder hatte sie sich innerlich bereits so sehr von der Kirche entfernt, dass sie nicht mehr darüber sprechen mochte?

Religiös mündig verabschiedete sich Marie von Montmirail. Das Niveau ihrer Allgemeinbildung war für eine Frau überdurchschnittlich gut. Für Alltag und Erwachsenenleben gerüstet, konnte sie sich dem Ernst des Lebens stellen.

Marie Heim-Vögtlin - Die erste Schweizer Ärztin (1845-1916)

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