Читать книгу Marie Heim-Vögtlin - Die erste Schweizer Ärztin (1845-1916) - Verena E. Müller - Страница 14

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Marie Ritter, die verlässliche Vertraute

Einzig ihre Schwester Anna begleitete Marie länger durchs Leben als die treue, gescheite Glarner Freundin Marie Ritter (1842–1933). Wie ein roter Faden zieht sich die jahrzehntelange Beziehung der beiden Maries durch ihre Biografien. Während den turbulenten Monaten des Abschieds von Fritz und des Entscheids zum Studium war Marie Ritter vermutlich die einzige Person, die Maries intimste Geheimnisse kannte. Stets begleitete und ermunterte Marie Ritter liebevoll-kritisch Marie auf ihrem Weg. Die Briefe aus Schwanden sind verloren, dagegen existieren Maries Antworten aus der Studienzeit. Neben den Briefen an Vater Julius sind sie die wichtigste Quelle für Maries Schicksalsjahre. In zwei Anläufen, im Alter von 81 und 86 Jahren, verfasste Marie Ritter einen Rückblick auf ihr Leben. Dank dieser Arbeit ist ihre Stimme nicht ganz verstummt.

Die um drei Jahre ältere Glarner Freundin blieb ledig. Ihr Werdegang ist beispielhaft für eine hochbegabte Frau, die auf ihre Weise – ähnlich wie Marie – nicht in ein vorgegebenes Lebensmuster passte. Selbst an der Abdankung war ihr Zivilstand ein Thema: «Man möchte vielleicht das Schicksal anklagen, das einem solchen tiefangelegten Menschen, in dem ein starker Familiensinn gewachsen war, die Gründung einer eigenen Familie versagte, aber gerade im Leben unserer Verstorbenen ist offenbar geworden, dass auch im Dasein der Ehelosen die feinsten, zartesten Lebensäusserungen sich entfalten können, dass auch ein solches Leben ein überaus reiches, gesegnetes und beglückendes werden kann.»1

Die Voraussetzungen der beiden Maries waren ähnlich. Die Väter Julius Vögtlin und Johann Georg Ritter hatten miteinander in Basel und Berlin studiert. Beide führten ein Pfarramt auf dem Land, waren theologisch der konservativen Richtung verpflichtet und intellektuell sehr interessiert. Pfarrer Ritters Eltern hatten ihr Vermögen verloren, in seiner Jugend lebte er in engen wirtschaftlichen Verhältnissen. Das Geld für sein Studium streckte ihm ein Onkel aus Diessenhofen vor, «mit sehr wenig Aussicht, es wieder zu erhalten.»2 Als Johann Georg Ritter die erste Pfarrstelle antrat, nahm er seine Eltern zu sich. Während Marie Ritters Kindheit lebte die Grossmutter noch immer im Haushalt des Sohnes.

1845 zogen Ritters nach Schwanden. Hier verbrachte Marie Ritter, mit Ausnahme einiger weniger Jahre in Montmirail und Elm, den Rest ihres ausserordentlich langen Lebens. Sie erlebte tief greifende politische und wirtschaftliche Umbrüche. Als Fünfjährige fieberte sie 1847 im Sonderbundskrieg mit: «Die allgemeine Aufregung ergriff auch mich; ich stand auf der Fensterbank im Stillstandzimmer und sah zu, wie die Soldaten in ihren engen Fräcken und Tschakkos fortmarschierten.»3 Marie Ritter starb im Januar 1933, im selben Monat wurde Adolf Hitler in Deutschland Reichskanzler, und in der Sowjetunion wütete Stalin. Statt zu Fuss oder mit der Postkutsche reiste man nun mit der Eisenbahn oder im Flugzeug, abends versammelte sich die Familie nicht mehr um eine einzige Kerze, in den Häusern gab es Elektrizität und fliessendes Wasser.

Doch zurück zur kleinen Marie Ritter: «Sie hatten bestimmt einen Buben erwartet […], es war eine sehr strenge Zangengeburt […]. Natürlich waren dann alle froh, wenn’s auch nur ein ganz mageres Mädchen war. Aber weil Alle so bestimmt auf einen Buben gerechnet hatten, so ist das wohl der Grund, dass ich mein Leben lang mehr Freude an Bubenbeschäftigungen hatte.»4

Marie Ritter besuchte die Primar- und Sekundarschule an ihrem Wohnort Schwanden. Das Lernen fiel ihr leicht. Da immer zwei Klassen gemeinsam unterrichtet wurden, schaffte sie die Unterstufe im Eiltempo, mit 10½ Jahren (statt mit dreizehn) kam sie in die Sekundarschule. Das unterforderte Mädchen sorgte offenbar für Betrieb und liess sich, nachdem sie ihre erste Schüchternheit überwunden hatte, immer wieder neue Streiche einfallen. «Übermut und Frechheit kamen in volle Blüte.» Dieses Verhalten wurde im Pfarrhaus wenig geschätzt: «[…] daheim wartete meiner gewöhnlich die Ruthe. Die machte aber auch nicht den gewünschten Eindruck auf mich. Ich dachte, ich wolle es machen wie der berühmte Römer Mucius Scaevola, der Schmerzen erduldete ohne zu muksen. Ich liess also drauf los schlagen ohne einen Laut und dachte, es sei ja eigentlich gleich, ob ich mich so oder so aufführe, die Ruthe werde ich ja so wie so bekommen.»5 Der kleine Bruder Hans dagegen verhielt sich unauffällig und angepasst und blieb von Schlägen verschont.


Während den kritischen Monaten des Entscheids zum Studium war die Glarner Freundin Marie Ritter Maries engste Vertraute.


Marie Ritter, «eine ganz gemütliche alte Jungfer geworden», marschierte noch mit 90 Jahren regelmässig von Schwanden nach Glarus. Die Nachkommen ihres Bruders schätzten sie als hochintelligente, liebenswürdige Persönlichkeit.

Marie Ritter liebte und achtete ihre Eltern, und doch war ihre Kindheit keine Idylle: «Ich war überhaupt als Kind gar nicht recht zufrieden. Ich fühlte, dass ich in den meisten Dingen anders denke als das allgemeine Publikum, und stellte mir vor, weil die Mehrheit anders denke, so werde ich wohl nicht recht im Kopf sein. Im späteren Leben habe ich aber noch viele gleichgesinnte Seelen und Bücher gefunden und mich darüber beruhigt, wenn ich nicht ganz mit der öffentlichen Meinung übereinstimmte.»6

Die klassische Frauenrolle war nichts für Marie Ritter: «Die Puppen konnte ich nie ausstehen, sie stiessen mich förmlich ab mit ihren Glotzaugen und ihren steifen, unnatürlichen Leibern, höchstens grübelte ich ihnen etwa die Sägespäne heraus, um zu sehen, was sie eigentlich für Eingeweide haben.»7 Auch Mode war für sie kein Thema: «Mir war schon von Kind auf alle Eleganz ein Gräuel; ich war todunglücklich, wenn ich etwas Neues oder Auffallendes anziehen musste […]. Bei dieser Wertschätzung der Toilette kann man sich denken, dass ich meine Kleider nicht besonders schonte. In allem Schmutz und auf allen Leitern und Bäumen kletterte ich herum.»8 Ihre Mutter reagierte verständnisvoll und sorgte für eine widerstandsfähige Ausrüstung.

Gerne arbeitete Marie Ritter im Stall, täglich holte sie am Dorfbrunnen viele Liter Wasser für die Küche, eine Arbeit, die besonders an Waschtagen streng war, Putzen war ihr lieber als Handarbeiten: «Lismen hatte ich schon ganz früh bei der Mutter gelernt; hätte es auch ganz gut können, that es aber nicht gern. Als ich dann grösser wurde, sollte ich täglich etwa 4 Gänge an meinem Strumpf lismen; wenn ich aber die andern Kinder auf der Gasse hörte, heulte ich so, dass ich vor Thränen die Maschen nicht mehr sah.»9 Mehr als an Textilien war Marie Ritter an Pflanzen und Tieren interessiert. Mit sieben Jahren hatte sie Gelegenheit, auf der Reise zum Onkel in Diessenhofen in Zürich die Naturaliensammlung mit ihren ausgestopften Tieren zu sehen. Der Wissensstand der kleinen Besucherin beeindruckte den Konservator.

Zur Ergänzung der Volksschulbildung durfte Marie Ritter bei ihrer Patin, die länger in England gewesen war, Englisch lernen. Als Lehrbuch diente das Prayer Book der High Church. Frisch konfirmiert, reiste Marie Ritter 1859 zur Abrundung ihrer Ausbildung nach Montmirail. In Baden warnten sie zwei Cousinen, diese «schilderten mir Montmirail, wie wenn ich in ein Gefängnis käme.»10 Glücklicherweise kam es anders: «Es gefiel mir alles sehr gut; nur das fehlte mir, dass man auch gar keinen Augenblick, weder Tag noch Nacht allein sein konnte. Da ich im alten Haus schlief, bin ich bisweilen dort auf die Russdiele hinauf gestiegen und habe ganz allein ein wenig zum Fensterchen hinaus geschaut, was aber Niemand wusste.»

Als Marie Ritter am 6. Mai 1859, begleitet von ihrem Vater, im Töchterinternat Montmirail ankam, traf sie noch am selben Abend auf Maries ältere Schwester Anna. «Als ich sie dann einmal in Brugg besuchte, lernte ich auch ihre jüngere Schwester Marie kennen, und da wir in Vielem übereinstimmten, schlossen wir in kurzer Zeit eine grosse Freundschaft und die hat meinem Leben viel Anregung und Freude gebracht.»11

Nach der Heimkehr aus dem Internat muss Marie Ritter eine ähnliche Krise wie Marie durchgemacht haben. Mit Freundinnen gründete sie ein französisches Lesekränzchen, doch eine wirkliche Aufgabe fehlte: «Auch wurde ich wieder mit einer armen, kinderreichen Familie bekannt und einige derselben waren auch täglich bei mir. Daneben half ich ein wenig im Hauswesen, wichtig war es nicht. Strengere Arbeit wäre besser für mich gewesen.»12 Zwischendurch half sie in der Kinderschule aus.

Allmählich verschwanden ihre Freundinnen in die Ehe. 1872 wurde ihr vier Jahre jüngerer Bruder Hans als Pfarrer nach Elm gewählt. Die Geschwister gingen zu Fuss an den neuen Arbeitsort. Bis zu seiner Verheiratung führte Marie Ritter während drei Jahren dem Bruder den Haushalt. Wie sein Vater hatte Johann Ritter an verschiedenen Universitäten studiert und ein Semester in Deutschland, in seinem Fall in Tübingen, verbracht. Was Marie Ritter über die ungleichen Bildungschancen von Frauen und Männern dachte, ist nicht überliefert.

«Bis zum Tode ihrer Mutter waltete die Heimgegangene an der Seite ihrer Mutter; hernach war sie ihrem greisen Vater Stütze und Pflegerin.»13 Zudem betreute Marie Ritter auch fremde Kinder, zweimal nahm sie Kinder mehrere Jahre bei sich auf. Ihren glücklichen Lebensabend verbrachte sie schliesslich mit der Familie eines ihrer Neffen, der 1908 mit seiner jungen Frau in ihr Haus einzog.

Für die Pflege der unterschiedlichsten Freundschaften hatte Marie Ritter eine grosse Begabung. Marie berichtet schwärmerisch über den Anfang der Freundschaft mit Marie Ritter: «[…] als nun wirklich alles von Dir mir aus den Augen gerückt war, da habe ich lebhaft gefühlt wie vor zwei Jahren bei Deiner Abreise; ich denke, wir zwei gehören doch eigentlich zusammen; es besteht zwischen uns die Wahlverwandtschaft, die mir höher steht als die Blutsverwandtschaft, weil es ein rein geistiges Band ist, fern von dem Zwang, von dem blossen Zusammenhalten aus Pflicht, das so oft Verwandte allein aneinander bindet […].»14

Während Maries Studium zeichnete sich eine Krise ab, Marie Ritter fürchtete, sie stehe nun nicht mehr an erster Stelle. Marie stellte richtig: «Und doch fühle ich so lebhaft, wie ferne ich bin von der Veränderung, die Du Dir dachtest; ich fühle, dass ich Dich immer mehr und mehr lieben werde, wenn das sein kann – ich weiss dass keine andere Frau – Mady15 ausgenommen – mir so nahe stehen könnte wie Du.»16

Und an anderer Stelle: «Ich freue mich so sehr, wenn Du früher kommst; aber ist es möglich, dass Du nicht bei mir wohnen willst? Was kann dich zu diesem Entschluss bewegen? Ich wundere mich, ob doch zu innerst in Deinem Herzen ein Gefühl steckt, wie wenn mein jetziges Leben mich von Dir entfremden müsste? Ich wollte, Du sagtest es mir ganz aufrichtig. Ist es so, so kann ich nichts machen, bis wir einander sehen. Solche Gefühle lassen sich durch Worte nicht töten, ich weiss es.»17

Wie Marie vermutete, schloss Marie Ritter auch Maries amerikanische Studienfreundin Susan Dimock (1847–1875) ins Herz. Grosszügig suchte sie für Susan Dimocks Weihnachtsferien 1868 eine Unterkunft in Schwanden. «Sie war ein seltsamer Mensch, angenehm, gebildet, gutherzig, dabei einfach und anspruchslos.» Und die 86-Jährige fährt fort: «Sie ist mir unvergesslich und wenn ich ans Sterben denke, so freue ich mich allemal darauf, sie wieder zu sehen.»18

Marie Ritter blieb lange erstaunlich rüstig. Noch im hohen Alter marschierte sie von Schwanden nach Glarus. «Man ist im Handumdrehen 90», soll sie jeweils gesagt haben.19 Obschon ihr nicht die Möglichkeiten späterer Generationen offen standen, schliessen Marie Ritters Lebenserinnerungen versöhnlich: «Am meisten freut mich, dass ich es daheim so schön habe und eine ganz gemütliche alte Jungfer geworden bin.»20

Marie Heim-Vögtlin - Die erste Schweizer Ärztin (1845-1916)

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