Читать книгу Marie Heim-Vögtlin - Die erste Schweizer Ärztin (1845-1916) - Verena E. Müller - Страница 18

Die Würfel fallen …

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«Verzage nicht. Du hast ein schönes, weites Leben vor Dir, das Du gestalten kannst nach Deinem freien Willen, und Du wirst etwas schönes daraus machen. Ich weiss ja aus Erfahrung, dass ein doppelt gesegnetes Leben daraus werden kann.»1 Mit diesen Worten tröstete Marie ihren Sohn Arnold, nachdem seine Freundin einen anderen Mann geheiratet hatte.

Im Januar 1868 hielt sich Marie im Kurhaus Brestenberg auf, das Adolf Erismann, einem Onkel von Fritz gehörte. Von dort aus schrieb sie ihrem Vater über ihren Plan, Medizin zu studieren. Was sie nie zu hoffen gewagt hatte, traf ein: Ihr Vater gab sein Einverständnis. Selbst für einen jungen Mann wäre ein Medizinstudium eine Herausforderung gewesen. Im ganzen Kanton Aargau praktizierten zu jener Zeit keine hundert Ärzte! Marie berichtete ihrer Freundin Marie Ritter die aufregenden Neuigkeiten: «Wie soll ich es heute anfangen, Dir zu schreiben? Ich kann es fast nicht unternehmen, weil ich Dir so unendlich vieles sagen möchte, was ich ja niemals mit der kalten Feder tun kann – ich möchte bei Dir sein, o nur eine Stunde, wie wäre das für mich eine Wohltat!

Seit ich zum letzten Mal geschrieben, habe ich mehr durchlebt, als früher in zehn Jahren zusammen genommen, und ich kann kaum glauben, dass von diesem Jahr erst ein Monat vorbei sei. Immer ist es für mich der Anfang des Jahres, der in meinem Leben zum entscheidenden Moment wird. Marie, ich werde voraussichtlich mein Ziel erreichen! Ich werde Medizin studieren, irgendwo ein Staatsexamen machen und dann das Leben antreten, wonach meine heissesten Wünsche streben. Die letzte Woche war ich in Brestenberg; von dort aus habe ich schriftlich meinem Vater alles gesagt; ich habe ihm erklärt, wie es so hat kommen müssen, dass ich für keine Arbeit Lust und Mut habe als für diese. Als ich heimkam, zitternd vor Spannung, da erkannte ich mehr als je, wie gut, wie treu mein Vater an mir gehandelt, wie sehr er mich liebt. Er gibt mir seinen Segen zu meiner Arbeit, er lässt mich gewähren, mit grossen Sorgen allerdings, aber er versteht, dass dies für mich der allein richtige Weg sei. Und ich werde nun nicht einmal grosse Umwege einschlagen müssen, um zu meinem Ziel zu gelangen – ich kann ihm direkt entgegengehen. Wahrscheinlich bleibe ich nun bis zum Herbst noch zu Hause, um unter meines gütigen Onkels Doktors Leitung gründliche Vorstudien zu machen. Und nachher werde ich nach Zürich auf die Universität gehen.

O Marie, nicht wahr, Du freust Dich mit mir? Für mich war die Macht der Freude, die plötzliche Entladung der schweren Last so gewaltig, dass ich fast krank davon wurde, und mehrere Tage ganz betäubt war. Nach und nach komme ich nun zum Verständnis, wie gross die Erleichterung ist, und ich werde nun wieder zu leben anfangen.

Allerdings ein ernstes Leben, in welchem jede Minute mich erinnern wird an die grosse Verantwortlichkeit, die nun auf mir ruht. Denn wenn mein Weg auch ein schöner und lohnender ist, so ist er dennoch ein dorniger Weg, voller Schwierigkeiten. Aber keine davon ist unüberwindlich, ich will sie alle überwinden.» 2

Gerne wäre Marie gleich im Frühjahr losgezogen, doch damit war Julius nicht einverstanden. Ob er in einem Winkel seines Herzens noch hoffte, Marie könnte ihre Meinung ändern? Die Verwandtschaft jedenfalls machte sofort Schwierigkeiten, ein junges Mädchen aus angesehener Familie sollte keine unpassenden Emanzipationsgelüste hegen. Die lieben Angehörigen zweifelten – wie so viele ihrer Zeitgenossen –, ob Frauen zu einer Hochschulbildung fähig seien. Um Maries guten Ruf nicht zusätzlich zu gefährden, verbot Pfarrer Vögtlin jeden weiteren Briefwechsel mit dem früheren Verlobten. Der Sturm der Entrüstung verbreitete sich von Brugg aus nach Bern und Zürich. Die Berner Zeitung «Der Bund» schrieb am 6. April 1868:

«Der Leser erinnert sich noch der Russin, die voriges Jahr in Zürich zur Doktorin der Medizin ernannt wurde. Bald darauf hiess es, sie sei bei der Rückkehr nach Russland verhaftet worden, weil die russische Polizei in Erfahrung gebracht habe, dass sie in Zürich Verkehr mit Polen gehabt und Briefe von denselben mitgenommen habe. Daran scheint nach der ‹Neuen Zürich Zeitung› kein wahres Wort zu sein, denn vor kurzem hat sich die Dame in Wien mit einem Dr. med. aus dem Aargau verlobt. Dies Ereignis habe eine Aargauerin zu dem Entschluss gebracht, ebenfalls Medizin zu studieren und sich den drei Engländerinnen anzuschliessen, die gegenwärtig die medizinischen Vorlesungen in Zürich besuchen.»

Übelwollende Brugger witterten Ungemach, anders lassen sich die folgenden Zeilen Maries an ihre Freundin Marie Ritter nicht verstehen:

«Die Zeit hat nun begonnen, wo der allgemeine Sturm losbricht, wo mein Plan das Tagesgespräch wird. Der ‹Bund› und die ‹Neue Zürcher Zeitung› haben sich bereits derselben bemächtigt, um ihn in die Öffentlichkeit zu tragen und ihm einen so unaussprechlich gemeinen Beweggrund zu geben, dass ich lange den liebenswürdigen Artikel nicht verstand. Mir selbst, wie Du Dir denken kannst, macht dies sehr wenig Eindruck – ich habe ein gutes Gewissen bei der Sache und werde mich vor niemandem ihrer schämen – es sind ja schon bessere Menschen als ich verdächtigt, verleumdet worden, und ich habe mich entschlossen, auch diese Widerwärtigkeit mir zum besten dienen zu lassen, indem ich dadurch nur fester und stärker werden will. Aber denke, nun hat dieser gemeine Zeitungsartikel, der keiner Notiz würdig ist und dem Einsender gewiss nur zur Schande gereicht in den Augen von rechten Leuten, meine Verwandten dergestalt in Aufruhr gebracht, dass sie sich gebärden, als wären sie die Träger und Märtyrer der Frauenschande, die ich nun über sie bringe. Es ist wirklich bunt!

Fremde Menschen, um deren Urteil ich mich nicht zu kümmern brauche, mögen über mich sagen, was ihnen beliebt; ich weiss ja, sie können mir doch nichts schaden, und meine Sache kann dennoch triumphieren, ihnen zum Trotz; aber dass diejenigen, mit denen umzugehen ich beständig gezwungen bin, deren entsetzliche Vorstellungen und Bedenken ich nun noch sieben Monate lang anhören muss – mir nur mein Leben erschweren wollen, das ist wirklich schlimm, und mir kommt es vor, es sollte sich niemand wundern, wenn es mich an allen Haaren aus diesem Spektakel hinauszieht.» 3

Unter dem Druck seiner Umgebung wurde Pfarrer Vögtlin beinahe schwach. Er beriet sich mit zwei seiner besten Freunde, Dr. Stäbli in Aarau sowie Maries Pate, Pfarrer Hagenbuch. Die beiden Herren und die Schwester Anna stellten sich auf Maries Seite. Andere Verwandte wollten das verirrte Kind auf den rechten Weg zurückbringen.

«Ich habe nur mit sehr wenigen Leuten in letzter Zeit über mein Projekt gesprochen und diese haben dasselbe mit grossem Interesse aufgefasst und durchaus nichts von dem Entsetzen gezeigt, welches meine Verwandten beseelt; diese machen sich selbst und anderen immerfort weiss, ich werde ‹will’s Gott› bis zum Herbst noch anderen Sinnes werden. –

Nun muss ich Dir danken, dass Du mich auf die Gefahr aufmerksam machst, ich möchte zu eigensinnig werden. Diese Mahnung ist gewiss am passenden Ort angebracht, denn meine Naturanlage und meine augenblicklichen Verhältnisse kommen einander jetzt zu Hilfe, um meinen Kopf zu einem unaussprechlichen Eigensinnbehälter zu machen. Es ist wahr, ich bin durch all den Sturmwind noch um kein Haar breit in meinen Überzeugungen wankend gemacht worden, denn alle diese Einwendungen bin ich jetzt, wenn ich mein Gewissen genau befragt habe, zu überwinden imstande gewesen. Überzeugungen kann und will ich nicht zum Opfer bringen – nicht wahr, Du kannst das doch nicht unrecht finden? […] Gegen meinen Vater und Anna habe ich jedenfalls am wenigsten Versuchung, zu eigensinnig zu sein, da sie beide mich niemals auf die Spitze getrieben haben. Ich glaube, dass sie nicht diesen Eindruck von mir haben; denn sobald ich sehe, dass bei jemand auch nur eine Spur von Willen vorhanden ist, auf das, was ich vorzubringen habe, einzugehen, so bekomme ich ein ganz anderes Gefühl, während in den Disputationen mit den andern ich in der Tat meinen Kopf jedes Mal in einen Eisenklumpen sich verwandeln fühle.

Bis jetzt haben dem Publikum gegenüber weder Vater noch Anna eine unangenehme Stellung gehabt; mein Vater wird nicht, wie er gefürchtet hatte, verurteilt, weil er seine Erlaubnis gibt, sondern die ganze Sache wird, wie es mir am liebsten ist, mir selbst aufgeladen, und im allgemeinen scheint hier zu Lande wirklich das Urteil entschieden gegen mich zu sein, während an grösseren Orten, wie z. B. Zürich und Basel, wo man noch ein bisschen über die Stadtmauern hinaussieht, man ganz anders spricht.»

Neben allen Schwierigkeiten, die sie in diesen Monaten zu überwinden hatte, litt Marie noch immer an der Trennung von Fritz.

«Übrigens habe ich unter dem ganzen Getümmel der mir entfernt Stehenden sehr wenig gelitten, denn ich habe ja immer genug anderes durchzukämpfen, was mir weit schwerer fällt. Die gewaltsame Trennung von meinem Bruder [Fritz] quält mich unaufhörlich, und oft fühle ich mich dadurch so unendlich vereinsamt, dass es mir schwer wird, geduldig zu sein. Und der Umgang mit ihm mangelt mir um so mehr, da ich nun von niemandem mehr zum Guten angeregt, sondern so ganz mir selber überlassen bin. Mir ist oft bange vor mir selbst; ich fürchte, ich werde in dieser kalten frostigen Luft, wo ausser Deinen Briefen mich selten ein warmer Hauch anweht, selbst wieder kalt und hart wie früher, und davor habe ich eine unaussprechliche Furcht. Wenn ich doch jemanden hier hätte, es wäre ein ganz anderes Leben! Der Umgang mit Armen könnte mir, ich weiss es, dies ersetzen; aber wir haben hier wenige und ich darf unmöglich jetzt so viel Zeit aufwenden, um sie in der Weite aufzusuchen – ich bin gezwungen, damit zu warten, bis mein Ziel erreicht ist.» 4

Trotz allen Probleme war Marie erstaunlich selbstbewusst. Sie ging davon aus, dass sie ihre Prüfungen bestehen und als Ärztin praktizieren würde, die Frage war nur wo. «Ich habe in letzter Zeit sehr viel nachgedacht über die Wahl meines späteren Wirkungskreises, welche ich um der Examen willen schon jetzt im Auge haben muss. Und ich bin so ziemlich zum Resultat gekommen, vom Kanton Aargau zu abstrahieren, wo man wahrscheinlich zuerst bereit wäre, mir für die Examen Schwierigkeiten zu machen, und statt dessen die Konkordatsprüfung zu wagen. Ich wäre dann frei für eine Anzahl von Kantonen; Zürich habe ich immer am meisten im Auge; denn wenn ich mir während meiner Studienzeit die Achtung der Professoren erlangen kann, so werde ich später für meinen Beruf eine bedeutende Stütze haben.»5

Verschiedenste Gerüchte machten Marie Sorgen. So hiess es plötzlich, die Zürcher Regierung würde das Maturitätsexamen als Zutrittsbedingung verlangen. Marie geriet in Panik und erkundigte sich bei Marie Ritter nach den Glarner Verhältnissen. Ausgerechnet Marie selbst unternahm dann 1870 mit Kolleginnen Schritte, um die Zulassungsbedingungen zur Hochschule zu verschärfen!6

Im August 1868 reiste Marie ins Wallis, bestieg den Gornergrat und erreichte als Erste den Gipfel. In diesem Brief verglich Marie die Wanderung mit ihrer Gemütslage und ihrem Lebensziel: «Ich habe, seit ich wieder zu Hause bin, innerlich unendlich viel erlebt; – und selten habe ich so Minute für Minute, ich möchte sagen in gespannten Gedanken zugebracht, wie jetzt diese zehn Tage. Darum erscheinen sie mir auch wie zehn Wochen. Ich hoffe, die Reise ist mir auch moralisch zum Segen geworden in ihren Folgen; die Empfindungen alle, die sie in mir geweckt und zu einer so wilden Lebhaftigkeit gebracht hat, haben mich einen tieferen Blick in mein eigenes Herz hinein tun lassen, als dies seit dem Frühjahr der Fall war. – Freilich waren es lauter traurige Entdeckungen, die ich gemacht habe – aber immerhin besser, diese verborgenen tückischen Falten des Herzens kennen, als sie wie heimlich lauernde Abgründe in sich zu tragen. Ich bin sehr unglücklich gewesen diese Zeit, unglücklich über mich selbst in vielen Beziehungen, und ich habe mir aufs neue gesagt, wie hohe Zeit es ist, dass ich hinauskommen aus diesem Traumleben, das ich hier führe, hinaus in die Welt, die harte, kalte, raue, wo ich selber warm und lebendig sein muss – oder dann erfrieren und zugrunde gehen – es gibt keine andere Alternative in der Welt draussen […]. Ich habe diese Zeit hier wieder deutlicher als je gefühlt, wie diese Arbeit meine Bestimmung, mein Beruf ist, wie ich ohne sie versumpfen und versinken würde in den alten Schlamm. Ich habe gefühlt, dass ich alles in der Welt, was mir teuer ist, eher hingeben könnte als diesen Beruf […], mir ist, ich möchte mich freudig rädern und foltern lassen, wenn nur endlich aus mir das würde, was ich werden soll, und was ich einzig und allein, ich weiss es, durch bitteres Leiden werden kann. Glück und Schlaf und Lauheit sind für mich gleichbedeutend – nur nicht Ruhe für mich, lieber Sturm und Wellen und wildes Toben um mich her – ach, ich glaube, ich danke es den herrlichen Bergströmen, dass ich dies wieder so neu und lebendig erkennen gelernt habe. Aare und Rhone und Visp haben mich aufgerüttelt aus dem Halbschlaf mit ihrem wilden, herrlich frischen, immer ruhenden Leben; ja, das war Lebenslust für mich.»7

Die Verwandten gingen davon aus, Maries Gesundheit würde den Anstrengungen eines Studiums nicht standhalten. Trotzdem verfolgte sie unbeirrt ihr Ziel. So fuhr sie nach Zürich, um den Rektor der Universität, Professor Fritzsche, aufzusuchen und mit ihm Einzelheiten ihrer Immatrikulation [= Einschreibung] zu besprechen.

In diesen anspruchsvollen Wochen sorgten gewisse junge Aargauer Ärzte für ein gewisses Kopfschütteln: «Vorgestern musste ich nach Schinznach zur Weinlese, gestern den ganzen Tag nach Bözen. Alle Leute waren so freundlich – sie schwatzten wieder endlose Dinge über mich – alle jungen Herren der Umgegend wollen mich heiraten, und ich gehe nicht nach Zürich deshalb […]. Letzte Woche musste ich an einen grossartigen ‹Leset› bei Frau Stäbli. Wir waren 29 Personen, junge Herren und Mädchen; beim Essen sass ich neben dem jungen Dr. H. von Turgi, sprach aber nicht viel mit ihm. Nun kommt dieser Tage ein Brief von ihm mit der Bitte, ich solle mich doch den Bruggern nicht entziehen, indem ich nach Zürich gehe, er und Julius Stäbli wollten ein medizinisches Kränzchen bilden, in dem ich Gelegenheit haben sollte, alles mögliche zu lernen; in Königsfelden müsse ich präparieren etc. Mit dieser Einrichtung würde ich nicht nur meine Studien mir weit angenehmer gestalten, sondern auch jungen Ärzten ein Sporn sein zu studieren etc. Denke Dir, diese gelungene Idee! Ich habe bald geantwortet und hoffe, ihm verständlich gemacht zu haben, was ich will mit meinem Studium, und was ich für mein Leben will.»8

Maries Tischherr muss Johann Hunziker von Turgi gewesen sein. Sein Kollege Julius Stäbli arbeitete damals als Unterarzt in Königsfelden, beide hatten 1867, also ein Jahr zuvor, ihr Diplom erworben.9

Am 7. Oktober feierte Marie ihren 23. Geburtstag, am 19. Oktober traf sie in Zürich ein. Die Würfel waren gefallen.

Marie Heim-Vögtlin - Die erste Schweizer Ärztin (1845-1916)

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