Читать книгу Im Sternbild des Zentauren - Verena Rank - Страница 10

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Zur selben Zeit in Mytherra, im Schimmerwald …

Hektor

Mit jedem Schritt, den ich mich vom Zentauren-Lager entferne, kann ich leichter atmen. Manchmal habe ich das Gefühl, es keinen Tag mehr dort aushalten zu können, aber wo sollte ich denn sonst hin? Zentauren sind Wesen, die nur in Clans leben. Wir sind keine Einzelgänger und doch fühle ich mich unheimlich einsam. Mein Blick folgt einem der letzten Sonnenstrahlen, die sich vor der Abenddämmerung ihren Weg zwischen die dicht stehenden Bäume erkämpfen. Ich schließe seufzend die Augen und genieße für einen Moment die friedliche Stille. Nur ganz oben, in den Wipfeln der Tannen, Kiefern und Eichen hört man das fröhliche Zwitschern der Vögel. Ich bin auf dem Weg zum Teich, wo ich mich mit Lilaja verabredet habe. Seit Kreons Flucht vor zehn Jahren gab es fast keinen Tag, an dem wir uns nicht gesehen haben. Die offene Abneigung und der Hass des Clans sind oft unerträglich. Hier im Wald habe ich das Gefühl, Kreon näher zu sein. Zugleich übermannt mich oft die Wut, denn wegen ihm bin ich nichts anderes, als der Bruder des Verräters.

Lilaja wartet bereits auf mich und winkt mir fröhlich zu, bevor sie zügig ans Ufer schwimmt. Ihre unbeschwerte Art ist jedes Mal Balsam für meine geschundene Seele. Mit ihr kann ich meine Sorgen teilen, sie hört mir stundenlang zu. Die Najade ist wie eine Schwester für mich - und das war sie auch für Kreon.

Der Sonnenuntergang hinterlässt ein prächtiges Farbenspiel, das rot und orange auf dem Wasser tanzt. Es heißt, die Zeit heile alle Wunden, doch ich vermisse meinen älteren Bruder mit jedem Tag mehr. Besonders nachts, wenn der Himmel klar ist und die Sterne das Firmament erleuchten, scheint die Sehnsucht beinahe unerträglich. Wenn sich das Sternbild des Zentauren hell und eindrucksvoll am Himmel zeigt, schnürt es mir vor Kummer die Brust zusammen. Kreon hat jeden einzelnen Stern und jeden Planeten benennen können, und er wusste über viele Sternbilder eindrucksvolle Geschichten zu erzählen. Ich konnte ihm stundenlang zuhören, wenn wir zusammen im Wald waren. Und nun weiß ich nicht einmal, ob mein Bruder noch lebt.

Mittlerweile verbringe ich sehr viel Zeit im Wald – zum Ärgernis von Rigorus, dem Oberhaupt des Clans. Ich kann kaum glauben, dass mein bester Freund Nox wirklich sein Sohn ist. Er ist treu, hilfsbereit und gutherzig – Eigenschaften, die seinem Vater gänzlich fehlen. Dann ist da noch die Dorfälteste Silva. Sie ist so etwas wie die gute Seele, Heilerin und Medizinfrau. Alle bringen ihr den größten Respekt entgegen. Niemand weiß, wie alt sie wirklich ist, und jeder nennt sie einfach nur Großmutter Silva. Bei ihr fühle ich mich jederzeit willkommen. Sie ist die einzige, die Kreon und mich niemals aufgrund dessen, was wir sind, verurteilt hat. Der Rest des Clans meidet mich, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Diese Tatsache nagt an meinen Eingeweiden, reißt mir fast das Herz heraus. Ich möchte doch einfach nur dazugehören.

Ein Schwall Wasser in meinem Gesicht beendet meine düsteren Gedanken abrupt und ich zucke erschrocken zusammen. Meine rechte Hand schnellt ganz automatisch zum Köcher und will schon nach einem Pfeil greifen, als ich registriere, dass sich Lilaja einen Spaß erlaubt hat.

„Hey hey, ganz ruhig, Weißer. Träumst du schon wieder, Hektor?“ Lilaja hebt beschwichtigend die Hände über den Kopf und kichert. Die Nymphe steigt anmutig aus dem Wasser und sieht mich schelmisch grinsend an. Schon allein ihre Erscheinung zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht und ich entspanne mich rasch wieder. Lilajas Körper schmückt ein kunstvoll gebundenes Arrangement aus Wasserpflanzen, Muscheln und Seerosen. Ihre nackte Haut blitzt lediglich an Beinen, Armen und am Bauch hervor.

„Himmel, Lilaja! Irgendwann jage ich dir versehentlich einen Pfeil in dein hübsches Köpfchen, wenn du mich so erschreckst.“

„Entspann dich“, antwortet sie lachend und schüttelt den Kopf, so dass die eingeflochtenen Muscheln in ihrem Haar aneinander klappern. Sie mustert mich nachdenklich. „Was ist los? Wieder Ärger mit Rigorus?“

Ich schüttle den Kopf und seufze.

„Ich habe gerade an meinen Bruder gedacht“, antworte ich leise. „Ob es ihm gut geht, dort wo er jetzt ist?“

Lilaja legt ihre schmale Hand auf meinen Oberarm. Sie ist kalt, nass – und tröstend.

„Bestimmt. Er hat eine Frau, die ihn liebt. Und er muss sie sehr lieben, nachdem er sein Leben für sie riskiert und alles hier aufgegeben hat.“

Ich stoße ein höhnisches Schnauben aus und scharre mit dem rechten Vorderhuf im Kies.

„Genau, du sagst es! Aufgegeben! Seinen eigenen Bruder“, erwidere ich voller Zorn. „Er ist ein Narr und sie ein verdammter Mensch! Ich hasse die Menschen und werde jeden einzelnen, der meinen Weg kreuzt, mit meinen Pfeilen durchlöchern, das schwöre ich dir!“

Lilaja verdreht die Augen. „Oh, wie melodramatisch, Hektor. Beruhige dich!“, erwidert sie streng. „Dein Bruder hat sich für die Liebe entschieden“, fügt sie gleich darauf in sanfterem Ton hinzu. „Ist das nicht das Wichtigste?“

Ich sehe auf sie hinunter, direkt in ihre großen, seeblauen Augen.

„Aber zu welchem Preis?“, antworte ich aufgebracht. „Er steckt für immer im Körper eines Menschen und musste unsere Welt für immer verlassen. Und seinen Bruder! Eher würde ich sterben!“

Lilaja seufzt schwer und blickt auf das Wasser hinaus.

„Er hat es aus Liebe getan“, murmelt sie.

Ich verschränke die Arme vor der Brust und schüttle den Kopf. „Nein, er hat unsere Rasse verraten … und mich ebenso!“

Lilaja weiß offensichtlich nichts mehr zu antworten und senkt den Kopf. Wir schweigen eine Weile und ich lausche den vertrauten Geräuschen des Waldes. Das ferne Rauschen des Windes in den Baumwipfeln und der Ruf des Kuckucks beruhigen mich etwas. Dennoch kann ich einfach nicht verstehen, warum Kreon seinen geliebten Wald und seinen Bruder gegen ein Leben bei den Menschen eingetauscht hat. Warum er mich verlassen hat, als ich erst vierzehn Jahre alt war … noch ein Kind. Ich hätte Kreon all die Jahre so sehr gebraucht.

„Hey“, unterbricht Lilaja irgendwann meine düsteren Erinnerungen. „Wenn du dich verwandeln würdest, könnten wir um die Wette schwimmen und tauchen!“ Ihre blauen Augen blitzen auf, sie legt den Kopf schief und blickt mich herausfordernd an.

„Du weißt genau, dass ich mich nicht in so ein ‚Ding’ verwandle“, antworte ich schroff. „Ich bin ein Zentaur!“

„Toll“, sagt Lilaja unbeeindruckt. „Ein Sturschädel bist du! Ich hab’ dich noch nie in menschlicher Gestalt gesehen, obwohl wir uns nun schon so lange kennen.“ Sie klingt enttäuscht.

„Das wirst du auch nicht erleben.“ Ich recke das Kinn. „Niemals.“

„Na schön, dann lass uns zur Grotte gehen.“ Lilaja wendet sich um und bedeutet mir mit einem Kopfnicken, ihr zu folgen. Die kleine Grotte, in der die Nymphe lebt, liegt verborgen hinter einem Wasserfall, aber man kann auch über ein verstecktes Höhlensystem auf dem Landweg hineingelangen. Bei meiner Größe ist es etwas schwierig, mich durch die engen Gänge zu bewegen, aber durch den See und unter dem Wasserfall hindurch zu schwimmen, wäre für mich sehr mühsam. Zentauren sind schließlich nicht als die besten Schwimmer bekannt.

Drinnen schenkt Lilaja Wein ein und reicht mir einen Becher. Ihre Behausung ist nicht groß, aber sie hat so viel Liebe hineingesteckt, dass man sich sofort wohl und geborgen fühlt.

„Na, wie ist die Stimmung im Lager der Zentauren?“, fragt sie und blickt mich besorgt an. Ich zucke mit den Schultern und nehme einen Schluck Wein.

„Sie werden mich nie als einen der Ihren ansehen“, antworte ich leise. „Für sie bin und bleibe ich ein Halbblut und der Bruder eines Verräters.“ Ich seufze. „Kreon hat mir die Chance genommen, jemals im Clan akzeptiert zu werden.“

Unruhig wandert mein Blick über die vielen kleinen Muscheln und Steine, die die Wände schmücken. Das sanfte Licht umher tanzender Glühwürmchen sollte heimisch wirken, doch nicht für mich. In einer fließenden Bewegung setzt sich Lilaja auf einen der mit Fellen gepolsterten Baumstämme und sieht mit nachdenklich an.

„Glaubst du das wirklich?“ Sie legt den Kopf schief. „Ich denke, tief in deinem Herzen weißt du, dass das nichts mit Kreon zu tun hat.“

Ich will ihr widersprechen doch sie hebt die Hand und schüttelt vehement den Kopf. „Mit Sicherheit hat dies alles noch viel schlimmer für dich gemacht. Aber die Tatsache, dass du … dass ihr beide niemals ganz und gar zum Clan gehören würdet, ist allein dem Fanatismus dieser arroganten, starrsinnigen Idioten zu verdanken. Sie akzeptieren niemanden, der anders ist und haben Angst, dass ihr ihnen überlegen seid.“ Sie lächelt mich aufmunternd an. „Nun ja, das entspricht ja auch der Tatsache.“

Ich atme tief ein und stoße die angehaltene Luft aus.

„Wenn ich nur wüsste, was geschehen ist, nachdem er durch das Portal ging. Nicht zu wissen, ob mein Bruder lebt, quält mich jeden Tag.“

Im Sternbild des Zentauren

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