Читать книгу Im Sternbild des Zentauren - Verena Rank - Страница 9
Ben
ОглавлениеDas schrille Klingeln meines Handyweckers reißt mich mitten aus dem Schlaf und katapultiert mich mit einer Wucht in den Tag, dass ich ein paar Sekunden brauche, um richtig wach zu werden. Noch ganz benommen taste ich nach dem Handy auf dem Nachttisch, finde es und lasse es verstummen. Mein Herz rast immer noch wie verrückt, so real war dieser verdammte Traum gerade eben! Seit ich denken kann, verfolgt er mich. Leise fluchend stehe ich auf und versuche mich zu beruhigen. Auf dem Weg ins Bad rufe ich mir die Bilder meines ungewollten, nächtlichen Abenteuers in Erinnerung. Warum träume ich immer wieder dasselbe? Mein Körper schwebt schwerelos im Himmel … zumindest glaube ich das, denn ich bin umgeben von dichten Wolken. Ich schaue auf den Gipfel eines Berges und auf ein gewaltiges Gebäude. Wenn ich hinunterblicke, sehe ich meine Füße in der Luft baumeln. Die Watteberge aus Wolken sind so dick, dass ich darunter keine Landschaft erkennen kann. Jemand ruft nach mir, es ist ganz klar die Stimme einer Frau. Ich kann sie nicht verstehen, aber ich weiß, dass sie mich meint und ihr Rufen wird immer verzweifelter. Ich versuche irgendwie näher heranzukommen, rudere mit Armen und Beinen, aber je mehr ich mich bewege, umso stärker werde ich von einer unsichtbaren Macht zurückgedrängt. Heute hat mich mein Wecker davor bewahrt, ins Nichts zu fallen, denn das ist es, was mich sonst aus dem Schlaf reißt. Ich stürze dann mit solch einer Heftigkeit in die Tiefe, dass es mir den Atem aus der Lunge presst und ich meist mit einem Aufschrei wach werde. Ich bin schon an der Badezimmertür, als mein Handy klingelt. Zurück am Bett werfe ich einen Blick auf das Display und muss automatisch lächeln, während ich das Gespräch annehme.
„Bennniiiiiii!“, tönt es schrill und für diese Uhrzeit viel zu fröhlich am anderen Ende der Leitung. Noch bevor ich etwas erwidern kann, folgt so lauter Gesang, dass ich das Handy einen Meter vom Ohr weghalten muss. „Happy Birthday to youuuu … Happy Birthday to youuuu … Happy Birthday, mein allerliebster, bester Freuheuuund Bennileiiin, happy Birthday to youuu!“
Ich schüttele lachend den Kopf und stehe auf. Meine beste Freundin hat wirklich einen an der Klatsche, aber man muss sie einfach lieben.
„Bennilein?“, erwidere ich gespielt entsetzt. „Ernsthaft? Wann gewöhnst du dir diese schwulen Spitznamen endlich ab?“
„Niemals!“ Sabrina lacht überdreht. „Alles Gute zum Geburtstag, Schatzi! Schon wach?“
„Danke. Jetzt auf jeden Fall. Um diese Uhrzeit schon so aufgekratzt zu sein, ist pervers, weißt du das?“
Erneutes Lachen. „Ich freue mich schon auf heute Abend. Soll ich dich abholen?“
Ich überlege kurz. „Kreon und Anna haben gefragt, ob wir noch vorbeikommen, bevor wir weggehen, also wäre es schön, wenn du gegen sieben bei mir sein könntest.“
Ich unterrichte Sport und Mathematik an einer Realschule und fahre meistens mit dem Fahrrad zur Arbeit. Es gibt nichts Besseres, als morgens durch den Englischen Garten zu fahren und die Natur zu genießen. Mein Geburtstag fällt dieses Jahr auf den letzten Schultag vor den Sommerferien und so mache ich mich gut gelaunt auf den Weg. Schon nach kurzer Zeit erreiche ich den Englischen Garten und verlangsame mein Tempo. Die Reifen meines Fahrrades knirschen auf dem Kies, ansonsten hört man um diese Uhrzeit nur Vogelgezwitscher. Wie jeden Tag komme ich am Monopteros vorbei und halte kurz an. Seit ich denken kann, übt der kleine, griechische Rundtempel eine Anziehungskraft auf mich aus, deren Grund ich mir nicht erklären kann. Ich blicke hinauf, wo sich die weißen Säulen des Tempels majestätisch über einem Hügel erheben und die Strahlen der Morgensonne willkommen heißen. Je länger ich ihn ansehe, umso stärker wird diese rätselhafte Sehnsucht nach etwas, das ich nicht mal benennen kann. Es ist einfach ein Gefühl, als würde ich etwas vermissen, aber ich weiß nicht was. Sabrina und ich haben schon viel Zeit da oben verbracht, aber wir haben noch nicht herausgefunden, warum dieser Ort mit meinen Gefühlen Achterbahn fährt. Ich seufze leise und will gerade wieder auf meinen Sattel steigen, um weiterzufahren, als ich ein vertrautes Flüstern vernehme. Es ist als hörte ich den Wind, obwohl sich kein Lüftchen regt. Und dieser Wind trägt eine Stimme mit sich, die sonst niemand bemerkt. Mich fröstelt und meine Nackenhaare stellen sich auf, während ich mein Fahrrad abstelle und der Stimme folge. Schon nach ein paar Metern sehe ich, wer, oder besser gesagt, was mich ruft und meine Hilfe braucht. Ich sehe mich kurz um, um mich zu vergewissern, dass niemand in der Nähe ist. Dann laufe ich die restlichen Schritte und stehe vor einem wunderschönen Lindenbaum. Ein Ast wurde gewaltsam abgerissen und hängt nur noch lose an ein paar Holzfasern. Ganz sanft lege ich meine Hände auf den Ast und schließe die Augen. In meinem Kopf manifestiert sich ein Bild von ein paar betrunkenen Typen, die sich einen Spaß daraus machen, sich gewaltsam an den Ast zu hängen. Sie rütteln und zerren daran, bis er nachgibt und schließlich abbricht. Lachend und grölend machen sich diese Idioten danach aus dem Staub. Wut steigt in mir auf und ich verfluche diese beschissenen Kerle. Mit geschlossenen Lidern verbinde ich mein ganzes Sein mit dem Baum und werde Eins mit der Natur. Schon nach einigen Sekunden erfasst mich eine Energiewelle, die von meinen Füßen aufwärts durch mich hindurch strömt und sich bis in meine Fingerspitzen ausbreitet. Ich atme tief ein und aus … mit dem Herzschlag des Wachsens und Blühens, der meinen Körper und Geist jedes Mal in eine kurze, aber intensive Trance versetzt. Ich spüre, wie die Linde heilt, wie der Ast sich aufrichtet und wieder da anwächst, wo er hingehört. Zufrieden öffne ich die Augen und trete einen Schritt zurück. Als der Wind sanft durch die Blätter fährt, hört es sich an, wie ein geflüstertes ‚Danke‘. Ich nicke lächelnd, bevor ich mich umdrehe und eilig zu meinem Fahrrad zurückkehre. Mein Blick schweift nervös umher, doch ich kann niemanden sehen, der etwas von meiner Aktion mitbekommen hätte.
Es ist kurz vor acht, als ich das Klassenzimmer betrete und meine Schüler begrüße. Dass ich heute Geburtstag habe, posaune ich nicht groß in der Gegend herum, also bekomme ich von den meisten der Neuntklässler wie gewohnt ein müdes und weniger enthusiastisches ‚Morgen‘ zurück. Auf die erste Reihe hingegen kann ich mich wie immer verlassen. Lydia, Sophie und Anna Maria sehen mich mit verklärten Blicken an und flöten einstimmig: „Guten Morgen, Herr Wagner.“ Als ich ihnen ein freundliches Lächeln zuwerfe, könnte ich schwören, ein Seufzen zu hören. Nachdem ich meine Tasche auf dem Schreibtisch abgelegt habe, zähle ich kurz durch und stelle fest, dass einer fehlt. Ich rolle mit den Augen und werfe einen Blick auf meine Armbanduhr.
„Ruhe, Leute!“, rufe ich in die große Runde und sehe kurz zur Tür. „Ihr wollt doch Hakans großen Auftritt nicht verpassen, oder?“ Jetzt hab’ ich volle Aufmerksamkeit und achtundzwanzig Augenpaare richten sich auf mich. „Was wird es diesmal sein?“, frage ich und überlege, während ich vor meinen Schreibtisch trete und mich dagegen lehne. „Ey sorry, Herr Wagner, ich kann nix dafür“, ahme ich Hakan nach und ernte schon die ersten Lacher. „Wir haben heute früh die Katze verlegt und mussten sie suchen … oder hat das arme Tier gar die Schultasche gefressen und er musste warten, bis es sich übergeben hat?“, frage ich amüsiert. Lautes Gelächter füllt den Raum aus, als im nächsten Moment die Tür aufgerissen wird und ein schwarzhaariger Junge mit hochrotem Gesicht hereinstürmt.
„Ey sorry, Herr Wagner!“, japst er abgehetzt. „Ich schwör, ich kann nix dafür!“ Jetzt gibt es kein Halten mehr, das Gelächter der Schüler hallt mit Sicherheit bis auf den Flur hinaus. Hakan zuckt zusammen und sieht sich irritiert um. Obwohl es überhaupt nicht mehr möglich scheint, läuft sein Gesicht noch dunkler an. Mit einem Handzeichen ermahne ich alle zur Ruhe und sehe Hakan an.
„Guten Morgen, Hakan“, begrüße ich meinen notorischen Zuspätkommer. „Was hat dich denn diesmal davon abgehalten, pünktlich zum Unterricht zu erscheinen?“
Ein paar Sekunden sieht mich mein Schüler an und scheint fieberhaft zu überlegen, was er antworten soll. Ich kann regelrecht die Zahnräder in seinem Gehirn klicken hören. Er kratzt sich verlegen hinter dem Ohr und grinst schließlich schief.
„Also meine Oma hat den Wecker gestellt“ antwortet er, worauf die ersten bereits zu lachen beginnen. „Aber sie hat die Zeitverschiebung mit der Türkei wohl vergessen.“ Ich muss die Klasse ein weiteres Mal zu Ruhe ermahnen, doch zugleich muss ich mich zusammennehmen, um nicht lauthals loszuprusten. Während sich Hakan mit gesenktem Haupt zu seinem Platz begibt, setze ich mich kopfschüttelnd an meinen Schreibtisch, um die Zeugnisvergabe vorzubereiten.
Der restliche Vormittag verläuft recht ereignislos. Der Unterricht endet heute bereits um kurz nach zehn Uhr und so strömen die Massen unter Freudengeschrei, Lachen und lautem Stimmengewirr durch die Schulflure und aus dem Gebäude. Ich staple meine Unterlagen, um sie in meiner Tasche zu verstauen, als ich bemerke, dass ich angestarrt werde. Lydia, Sophie und Anna Maria stehen vor mir und strahlen um die Wette. Ich grinse etwas irritiert zurück.
„Na? Ich dachte eigentlich, ihr könnt es gar nicht erwarten, hier rauszukommen. Gibt es noch etwas?“, frage ich neugierig, worauf Sophie, die in der Mitte steht, etwas hinter ihrem Rücken hervorholt.
„Alles Gute zum Geburtstag, Herr Wagner“, sagt sie, während ihre Wangen die Farbe von überreifen Tomaten annehmen. Ihre Freundinnen nicken beipflichtend und kichern, während mir ein in pinkfarbenes Papier gewickeltes Geschenk mit goldener Schleife entgegengestreckt wird. Ich sehe die Mädels erstaunt an.
„Woher wisst ihr, dass ich heute Geburtstag habe?“, frage ich.
„Wir haben da so unsere Informationsquellen“, antwortet Sophie selbstbewusst, worauf alle drei glucksen.
„Ja und außerdem wollen wir uns auch für den tollen Unterricht bedanken, den Sie immer machen.“ Anna Maria lächelt so breit, dass ich einen Moment nur zwei weiße Zahnreihen sehe. „Seit wir Sie in Sport haben, ist das mein Lieblingsfach“, fügt sie hinzu und nickt dabei nachdrücklich. Da sie beim Sportunterricht meistens mit ‚verstauchtem Knöchel‘ auf der Bank sitzt, bezweifle ich das zwar, aber ich fühle mich geschmeichelt. Ich nehme das Geschenk an und nicke den dreien freundlich zu.
„Wow, das ist aber nett von euch, vielen Dank.“
„Sie können es später aufmachen, schöne Ferien Herr Wagner!“
„Das wünsche ich euch auch“, antworte ich amüsiert. „Erholt euch gut.“
Die drei verschwinden kichernd und ich packe grinsend meine restlichen Sachen zusammen.
Die Kolleginnen und Kollegen sind bereits da, als ich das Lehrerzimmer betrete. Ich werde mit lautstarkem Jubel begrüßt, während Sektkorken knallen. Auf dem Konferenztisch hat Frau Stieglmeier, unsere Sekretärin, selbstgemachte Häppchen serviert und schenkt geschäftig die Gläser voll. Wie praktisch, dass mein Geburtstag ausgerechnet auf den letzten Schultag fällt, an dem wir ohnehin feiern.
„Hui, schaut mal, Ben hat ein pinkfarbenes Geschenk bekommen!“ Andrea, unsere Religionslehrerin, ist chronisch gut gelaunt und hängt an beinahe jeden Satz ein vergnügtes Glucksen an. Sie hält mir ein Sektglas hin und sieht mich durch die Gläser ihrer Hornbrille vergnügt an. Ihre pausbäckigen Wangen glühen, als hätte sie bereits ein, zwei Gläschen intus.
„Alles Gute zum Geburtstag, Ben!“
Auch die anderen kommen jetzt näher, um zu gratulieren und um zu sehen, was ich von meinen Schülerinnen geschenkt bekommen habe.
„Nun mach es schon auf!“
„Ich habe noch nie etwas von meinen Schülern zum Geburtstag bekommen.“
„So jung und gutaussehend müsste man halt noch sein.“
Während ich die Verpackung löse, quasseln alle durcheinander.
„Ihr seid schlimmer als die Kids“, stelle ich lachend fest, während ich eine Packung Pralinen und ein paar Socken aus einem kleinen Karton nehme.
„Socken?“, fragt Frau Reimann, die Direktorin verwundert, worauf ich lachend nicke.
„Ja, aber nicht irgendwelche Socken“, antworte ich begeistert, während ich mein Geschenk hochhebe, damit alle es sehen können. „Star Wars – Meister Yoda – Socken mit Ohren!“ Meine Kollegen brechen in Gelächter aus, während ich die Socken grinsend betrachte. Sie sind knallgrün, mit dem Gesicht von Yoda vorne drauf und seitlich stehen seine großen, spitzen Ohren ab.
„Die Mädels haben wirklich gut aufgepasst“, sage ich und schüttle amüsiert den Kopf.
„Natürlich – sie machen ja nichts anderes, als seufzend an deinen Lippen zu hängen und deiner Stimme zu lauschen“, erwidert Andrea, worauf die anderen erneut lachen. Ich rolle mit den Augen, zugleich spüre ich so etwas wie Stolz. Von meinen Kollegen bekomme ich einen Gutschein für mein Lieblingsrestaurant, einem Mexikaner in Schwabing, in dem ich heute Abend mit Freunden feiern werde. Vom Sekt leicht beschwipst mache ich mich ein wenig später auf den Weg zu meiner Familie, die eine knappe halbe Stunde von der Schule entfernt wohnt. Meine Stiefmutter macht mir zu Ehren heute ganz traditionell Schweinebraten mit Knödeln und Blaukraut. Als ich sechs Jahre alt war, haben mein Vater und Marlies geheiratet und ich habe noch einen Bruder und eine Schwester dazu bekommen. Felix ist achtzehn und besucht die Fachoberschule, während unser Nesthäkchen Antonia nach den Ferien die vierte Klasse der Grundschule besuchen wird.
Meine leibliche Mutter habe ich nie kennengelernt, ihre gesamte Existenz und die Umstände, wie sie mich damals bei meinem Vater gelassen hat, sind sehr mysteriös. Ich weiß nur, dass ich wohl aus einem One-Night-Stand entstanden bin. Sie hat meinem Vater nicht mal ihren Namen genannt. Alles, was ich von ihr habe, ist ein unförmiger, geschliffener Smaragd, in der Größe einer Zwei-Euro-Münze. Mein Vater hat mir den Edelstein an meinem zwölften Geburtstag gegeben, seitdem trage ich ihn an einem Lederband um den Hals. Vaters Erzählungen nach muss meine Mutter wunderschön gewesen sein, aber sehr geheimnisvoll und zurückhaltend. Ihre Augen sollen vom selben intensiven Grün gewesen sein wie der Smaragd. Und genau diese Farbe haben auch meine Augen, aber ich verstecke sie unter braunen Kontaktlinsen. Als Kind bin ich ständig angeglotzt und gehänselt worden, bis mein Augenarzt offiziell eine Lichtempfindlichkeit diagnostizierte und ich in der Schule eine Brille mit verdunkelten Gläsern tragen durfte. Der Arzt hat damals gesagt, es wäre wohl eine Laune der Natur, er selbst habe in seiner ganzen Laufbahn nie solch eine Augenfarbe gesehen – auch keiner seiner Kollegen. Es ist nicht nur dieses tiefe Grün allein, manchmal scheinen meine Augen regelrecht von innen zu leuchten. Je nach Stimmung variiert die Farbe. Wenn ich zum Beispiel wütend bin, wird sie dunkel wie der Grund eines Moorsees. Bei Aufregung jeglicher Art scheint das Grün am intensivsten und dann tanzen goldene Lichter in den Iriden.
Vater erinnert sich an eine feucht-fröhliche Nacht, in der er mit einigen seiner Studienkollegen um die Häuser gezogen war. Meine Mutter stand plötzlich irgendwann da und hat ihn buchstäblich verzaubert. Diese Begegnung muss wie ein Rausch gewesen sein, der jedoch nicht nur dem Alkohol geschuldet war. Sie besaß eine außergewöhnliche Aura, die alles wie im Traum erschienen ließ, erzählt er heute noch mit einem Gesichtsausdruck, den ich nicht deuten kann. Zerstreut, verwundert und nachdenklich, würde ich sagen.
Am Morgen danach war sie verschwunden und tauchte gut neun Monate später mit mir auf, um mich quasi einfach auf der Türschwelle abzulegen. Vater hat sie nur kurz gesehen und sie sagte ihm, ich sei etwas ganz Besonderes und er solle mir einen schönen Namen geben. Ich glaube nicht, dass sie damit so etwas wie ‚Benjamin‘ meinte, denke ich seufzend und verdrehe in Gedanken die Augen. Auch wenn sie ihr eigenes Kind verließ, hat er nie ein böses Wort über sie verloren – im Gegenteil. Sie wirkte wohl sehr unglücklich und hat mich unter Tränen bei ihm gelassen. Was meine eigenartige Gabe betrifft, dass ich mit Pflanzen kommunizieren und diese heilen und wachsen lassen kann: Ich bin sicher, es hat etwas mit meiner leiblichen Mutter zu tun. Wenn ich diese Fähigkeiten von ihr habe, macht es mich unglaublich wütend, dass sie mich ohne ein Wort der Erklärung zurückgelassen hat.
Meine Familie lebt im Stadtteil Oberföhring und so führt mich mein Weg erneut quer durch den Englischen Garten, der jetzt von Schülern, Spaziergängern und Touristen nur so wimmelt. An der Wohnungstür angekommen, ist mein kleiner Schwips bereits verflogen, dafür knurrt mein Magen. Marlies öffnet mir die Tür und schließt mich sofort in die Arme. Sie hat nie einen Unterschied zu ihren eigenen Kindern gemacht und mich immer so geliebt, wie eine Mutter es tun sollte. Dafür bin ich ihr sehr dankbar.
„Ben! Alles Gute zum Geburtstag, mein Lieber. Wie war es in der Schule? Hast du Hunger?“
„Danke, ach wie immer, ja und wie“, erwidere ich grinsend, um ihre Fragen in der richtigen Reihenfolge zu beantworten. Sie nimmt mich kichernd an der Hand und zieht mich in die Wohnküche. Sofort stürmt mir ein blonder Wirbelwind entgegen und ich schließe meine kleine Schwester in die Arme und hebe sie hoch.
„Hey, Prinzessin!“ Ich küsse sie auf die Wange. „Wie war der letzte Schultag?“
„Gut, aber sehr stressig“, antwortet sie augenrollend, worauf ich lache. „Alles Gute zum Geburtstag!“ Antonia schlingt ihre Arme so fest um meinen Hals, dass ich beinahe ersticke und zum Spaß Würgegeräusche mache.
„Du … bringst … mich … ja … um“, krächze ich, „aber vielen Dank.“
Antonia gluckst, während ich sie wieder auf dem Boden abstelle, um den Rest der Familie zu begrüßen. Felix ist viel zu cool, um mich zu umarmen und so streckt er mir die Hand entgegen und klopft mir mit der anderen auf die Schulter.
„Alles Gute, Bro“, gratuliert er mir lässig und grinst schief.
„Danke.“ Ich grinse zurück und boxe ihm leicht gegen die Brust.
„Ben!“ Mein Vater kommt auf mich zu und schließt mich in seine Arme.
„Alles Gute zum Geburtstag! Wir haben schon auf dich gewartet.“ Er blickt mich stolz an und schüttelt langsam den Kopf. „Sechsundzwanzig“, sagt er, als könne er es kaum glauben. „So viele Jahre ist es schon her, dass du so unerwartet in mein Leben geschneit bist und es jeden Tag schöner und glücklicher gemacht hast.“
Ich hebe eine Augenbraue. „So? Ich dachte, du wusstest damals nicht mal, was ein Baby ist und hast Oma und Opa erstmal panisch nach einer Gebrauchsanweisung gefragt?“, antworte ich frech, worauf alle lachen. Antonia hält sich die Hände vor den Mund und prustet los. Vater wird tatsächlich ein bisschen rot und kratzt sich hinter dem Ohr. Obwohl er langsam grau an den Schläfen wird, sieht er gerade unheimlich jung aus.
„Na ja …“, sagt er peinlich berührt und wirft seiner Jüngsten einen gespielt beleidigten Blick zu, worauf sie noch mehr lacht. „Ich war ja damals noch selbst sehr jung … nicht recht viel älter als Felix jetzt. Ich wusste nicht, was so ein Baby braucht und wie herum man es hält. Außerdem musste ich jeden Tag zur Uni und hätte mich gar nicht alleine um Ben kümmern können. Ja, ich gebe zu, ohne Oma und Opa wäre ich komplett aufgeschmissen gewesen.“
„Wo sind die beiden überhaupt?“, frage ich. „Ich dachte, sie wollten auch kommen?“ Marlies will gerade antworten, als es auch schon an der Tür klingelt.
„Ich geh schon!“, ruft Antonia fröhlich, während sie aus der Wohnküche in den Flur saust. Ich muss innerlich lachen, als ich höre, wie überschwänglich meine Schwester unsere Großeltern begrüßt.
„Da ist ja jemand schon wieder einen Meter gewachsen“, sagt Großvater gespielt erstaunt, worauf Antonia kichert.
„Quatsch, Opa! Doch nicht einen Meter!“, erwidert sie altklug. „Kommt schnell, Ben ist schon da!“
Großmutter schließt mich als erste in ihre Arme, um zu gratulieren. Wie immer sieht sie sehr elegant aus. Ich kann mich nicht erinnern, sie einmal ohne ein schönes Kostüm gesehen zu haben und ohne dass ihr graues, kinnlanges Haar in gepflegte Wellen gelegt war.
„Ben, mein Lieber“, sagt sie sanft. „Alles Gute zum Geburtstag. Hach, manchmal habe ich das Gefühl, es war gestern, als dein Großvater und ich nach dem aufgeregten Anruf deines Vaters gekommen sind und dich das erste Mal im Arm hielten.“ Sie schüttelt den Kopf, ihre Augen werden feucht. „Uns war sofort klar, dass du ein ganz besonderer Junge bist.“ Sie sieht mich verschwörerisch an und zwinkert mir zu. Meine Großeltern, Marlies und auch Felix wissen von meiner Gabe, Antonia jedoch noch nicht. Sie wird es irgendwann erfahren, wenn sie größer ist und keine Gefahr mehr besteht, dass sie sich irgendwann, irgendwo verplappern könnte. „Es war Liebe auf den ersten Blick – du warst ja so ein hübsches Baby“, fährt Großmutter fort und seufzt selig. Ich drücke ihr einen Kuss auf die Wange und bedanke mich gerührt.
„Ich war doch auch ein hübsches Baby, oder?“, ruft Antonia dazwischen, worauf Großmutter ein Stück zurücktritt und ihr lächelnd über den Kopf streicht.
„Natürlich warst du das, Liebes.“
„Felix war bestimmt hässlich, oder?“, fragt sie, worauf unser Bruder lautstark protestiert.
„Hey, ich war der Hübscheste von allen! Bin ich heute noch.“
Wir lachen alle, während mir mein Großvater gratuliert.
„Glückwunsch, mein Junge“, sagt er und zieht mich in eine holprige Umarmung, während er mir auf den Rücken klopft. Mein Großvater passt optisch zu seiner Frau, wie ein Bauarbeiter auf ein rosa Plüschsofa und doch sind sie das harmonischste Paar, das ich kenne. Ohne seine bayrische Lederhose verlässt er nicht das Haus, was meine Großmutter stets unkommentiert und mit einem resignierten Lächeln akzeptiert. Seinen grauen Bart, der ihm mittlerweile bis gut zehn Zentimeter unters Kinn reicht, hegt und pflegt er, wie andere ihr teuerstes Pferd.
„Ich habe mir gedacht, wir essen in der Küche und zum Kaffee gehen wir hinüber ins Wohnzimmer.“ Marlies nimmt ihre Kochschürze ab und begrüßt ihre Schwiegereltern. Ihre eigenen Eltern wohnen am anderen Ende von Deutschland, in Hamburg, daher sehen wir sie nicht sehr oft. Jeden Besuch in der Hansestadt verbinde ich mit schönen Erinnerungen.
Wir sitzen am großen runden Tisch in der Küche und ich genieße die Zeit mit meiner Familie. Wir kommen viel zu selten alle zusammen und so hat jeder etwas zu erzählen. Meine Großeltern planen einen Wochenendtrip nach Südtirol, worauf sie sich sehr freuen. Felix erzählt uns, dass er momentan einen Abitur-Schnitt von 1,8 hat und auf alle Fälle das dritte Jahr zur allgemeinen Fachhochschulreife machen wird. Antonia wünscht sich zu ihrem Geburtstag auch einen Schweinebraten, aber mit größeren Knödeln – außerdem eine Meerjungfrauen-Barbie, samt Meermann-Ken dazu. Vater und Marlies sehen einander wie immer verliebt an und halten am Tisch Händchen. Ich schweige und beobachte dankbar unsere fröhliche Runde.
Während die anderen nach dem Essen ins Wohnzimmer hinüber gehen, bleiben Vater, Großvater und ich noch in der Küche, um gemeinsam einen Schnaps zu trinken. Vater schenkt uns drei Williams ein und wir stoßen an.
„Auf dich, mein Junge“, sagt Großvater stolz und Vater nickt beipflichtend.
„Auf dich, Ben!“ Ich schlucke das grausige Zeug und schüttle mich innerlich, als ich plötzlich einen Windhauch spüre. Mein Blick fällt zum Fenster hinüber, wo eine Basilikumpflanze im Topf ums Überleben kämpft.
„Oh Gott, du armes Ding“, sage ich entsetzt und gehe hinüber, um den Schaden genauer unter die Lupe zu nehmen. Vater und Großvater folgen mir.
„Kannst du da noch was machen?“, fragt Großvater und blickt dann seinen Sohn missbilligend an. „Ja, gießen musst du deine Pflanzen schon, Ludwig“, fügt er tadelnd hinzu und schnalzt ein paar Mal mit der Zunge. Vater zuckt mit den Schultern und ich muss innerlich lachen, weil er wie ein kleiner Junge den Kopf einzieht, als hätte er was angestellt und wäre dabei erwischt worden.
„Ich weiß nicht, was ich falsch mache, aber dieses scheiß Basilikum geht mir immer ein.“
Als ich ihm einen vorwurfsvollen Blick zuwerfe, entschuldigt er sich sofort.
„Ich meine, also ohne scheiß … nur Basilikum, sorry.“
„Schon gut, sie nimmt es dir nicht krumm“, antworte ich und nehme die Pflanze näher in Augenschein. Sie ist völlig ausgetrocknet.
„Du hast sie zu wenig gewässert. Außerdem verträgt sie kein kaltes Wasser und vermutlich hast du wieder darüber gegossen, statt in den Übertopf.“
Er kratzt sich hinter dem Ohr.
„Ist das denn wirklich so wichtig?“
„Jep, ist es“, antworte ich, während ich meine Hände knapp über den verdorrten Blättern schweben lasse und konzentriert die Augen schließe. In meinem Kopf höre ich den Wind, der die Wipfel der Bäume sanft hin und her wiegt, Vogelgezwitscher, hoch oben in den Baumkronen … und das vertraute Flüstern und Ächzen der Pflanzen, wenn ich sie heile. Wenn sie zu neuem Leben erwachen, mir ihre Blütenköpfe und Blätter entgegenstrecken. So rasch wie sie gekommen sind, verstummen die Geräusche und als ich die Augen öffne, ist die Pflanze satt und grün und gesund. Lächelnd berühre ich eines der Blätter behutsam mit den Fingerspitzen. Der intensive Duft von Basilikum steigt mir in die Nase und erfüllt den ganzen Raum.
„Auch wenn es mich immer wieder fasziniert, macht es mir doch genauso viel Angst“, wispert Vater neben mir. Als ich ihn ansehe, starren er und Großvater den Kräutertopf mit großen Augen an.
„Macht euch keine Sorgen, ich kann es mittlerweile ganz gut steuern. Niemand außer euch und Sabrina wird es je erfahren.“
„Das war aber nicht immer so und ich denke mit Grauen an die Zeit zurück, als es dir Angst gemacht hat und du dich allein und ausgeschlossen gefühlt hast“, erwidert Vater leise.
„Da war ich noch ein Kind.“ Ich lege eine Hand auf seine Schulter. „Wir hatten es wirklich nicht leicht. Aber ihr habt immer an mich geglaubt und mich behandelt, wie ein ganz normales Kind.“
„Das warst du für uns ja auch“, erwidert Großvater nachdrücklich. „Na ja, mit ein paar Extras halt.“
Ich grinse. „Ich kann mich noch an Papas Gestammel erinnern und an seine Schweißausbrüche, als er versucht hat, der Nachbarin zu erklären, wie unsere Zimmerpflanzen über Nacht mutieren konnten.“
Heute können wir gemeinsam darüber lachen … auch bei der Erinnerung, wie ich in der Schule mein Klassenzimmer verschönern wollte und es plötzlich aussah, als würde sich der Raum mitten im Wald befinden. Als ich etwa acht oder neun war, hat alles angefangen. Ich interessierte mich immer mehr für die Natur und die verschiedenen Pflanzen. Ich hörte ihr Flüstern und war imstande, sie wachsen zu lassen, oder zu heilen. Anfangs habe ich es überhaupt nicht kontrollieren können und es war sehr schwer, alles zu erklären. Mit der Zeit habe ich gelernt, meine Fähigkeiten zu unterdrücken, oder gezielter einzusetzen.
„Und heute bist du ein junger, erfolgreicher Mann und ich kann dir gar nicht sagen, wie stolz ich auf dich bin.“ Vater lächelt selig und scheint für ein paar Sekunden in Erinnerungen zu schwelgen. In dem Moment steckt Marlies den Kopf zur Tür herein
„Kommt ihr? Ben, du musst die Kerzen ausblasen.“
Eine Tasse Kaffee und zwei Tortenstücke später wird es Zeit, nach Hause zu fahren, denn ich hab’ noch einiges vor.
„Dann wünsche ich dir ganz viel Spaß heute Abend“, sagt Marlies, während sie den Rest der Geburtstagstorte in eine Frischhaltedose packt.
„Nicht so viel!“ Ich verdrehe die Augen. „Wer soll denn das alles essen?“
„Ach, ich kenn euch doch“, mischt sich Vater grinsend ein und drückt Marlies einen Kuss auf die Wange. „Ihr kommt um drei Uhr morgens betrunken heim und habt tierischen Hunger.“
Als ich ihn amüsiert mustere, zuckt er mit den Schultern. „Was? Das war bei uns damals auch nicht anders, stimmt’s Schatz?“, wendet er sich an seine Frau, die ihm beipflichtet, indem sie vehement nickt.
„Auf jeden Fall! Wenn es wirklich zu viel ist, kannst du deinen netten Nachbarn etwas bringen.“
Ich hebe beschwichtigend die Hände. „Okay, okay … ich nehm’s ja mit. Bei Kreon und Anna schauen wir eh noch vorbei, bevor wir gehen. Vielen Dank.“
Nachdem ich mich vom Rest der Familie verabschiedet habe, begleitet mich Vater zur Tür.
„Ben?“
„Ja?“ Die Hand bereits auf der Türklinke, schaue ich mich nach ihm um.
„Du trägst doch den Stein, oder?“ Plötzlich wirkt er nervös. „Ich weiß, das ist albern, aber ich habe tatsächlich das Gefühl, er beschützt dich … irgendwie. Keine Ahnung. Gerade wenn ihr nachts unterwegs seid.“ Hilflos zuckt er mit den Schultern und lächelt mich schief an. Instinktiv greife ich in den Kragen meines Hemdes, taste nach dem Edelstein und ziehe ihn hervor.
„Klar, Papa – immer.“
„Nimm ihn nicht ab, okay?“
Ich schüttle lächelnd den Kopf. „Niemals, versprochen.“