Читать книгу Elfenzeit 2: Schattendrache - Verena Themsen, Uschi Zietsch - Страница 10

3.
Die Nacht des Samhain

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Unzufrieden runzelte Rian die Stirn und sah auf die Karte, die sie auf der Holzbank neben sich ausgebreitet hatte. Hinter ihr plätscherte das Wasser der Zittenfeldener Quelle über bemoosten Fels und verschwand glucksend unter dem Weg, um dann auf der anderen Seite als schmaler Bach wieder auszutreten und sich in der Wiese weiter abwärts zu schlängeln.

Nina war den Wanderweg ein Stück vorausgegangen, um sich ein Holzhäuschen anzuschauen, das auf der anderen Seite zu sehen war. David hatte es sich ebenso wie Rian auf der Bank bequem gemacht, die Beine weit von sich gestreckt, die Arme auf der Rückenlehne ausgebreitet und den Kopf etwas zurückgelegt. Mit geschlossenen Augen atmete er tief den Duft des nahen Waldes ein, der die kühle Abendluft erfüllte.

Über den beiden kletterte Pirx am Abhang herum und erkundete die Höhlung, aus der das Wasser austrat, und die Felsspalten daneben. Kleine begeisterte Quietscher begleiteten seine Entdeckungen dort. Grog lehnte hinter den Geschwistern an der Bank, beobachtete den Pixie und hörte zugleich den Königskindern zu. Beide Feenkobolde waren für jeden Menschen wie immer unsichtbar. David hatte sich viel Mühe gegeben, beim Ein- und Aussteigen die Hintertür möglichst unauffällig länger offen zu halten, damit sie jeweils mit hinein- und hinausschlüpfen konnten, ohne dass Nina etwas bemerkte.

»Das ist jetzt schon die vierte Quelle, und noch haben wir keinerlei Hinweis darauf, warum irgendeiner dieser Brunnen oder Quellen etwas Besonderes sein sollte«, stellte Rian fest. »Sie sind alle durchaus ansprechend, bis auf diesen Fafnir-Brunnen in Bad König, aber da hatte Nina uns ja schon gewarnt, dass das etwas ganz anderes sein könnte. Sie haben alle die Magie der Quellen, manche mehr, manche weniger, aber …« Sie ließ den Satz unvollendet und seufzte.

»Diese hier ist bisher noch die beste«, meinte David, ohne die Augen zu öffnen.

»Aber sie ist eben nicht das, was wir suchen«, erwiderte Rian.

»Wenn es das überhaupt gibt«, sagte David.

Grog brummte etwas Undeutliches, und Rian runzelte die Stirn etwas mehr, rollte die Karte fest zusammen und schlug ihrem Bruder damit heftig auf den Bauch. Überrascht öffnete der Elf die Augen und begegnete ihrem zornigen Blick.

»Warum musst du immer alles in Zweifel ziehen?«, fuhr sie ihn an. »Warum kannst du nicht endlich anfangen, an das zu glauben, was wir hier tun, anstatt dich einfach nur mitschleifen zu lassen? Warum musst du immer alles schlechtmachen mit deiner zynischen Leichenbitterstimmung? Bei den Sommerblüten, fast wünschte ich mir, ich hätte dich zu Hause in deinem Selbstmitleid versunken und auf den Tod warten lassen, anstatt dich hierher mitzunehmen!«

David zog die Augenbrauen zusammen. »Was soll denn das jetzt? Ich bin hier, oder? Und dass unsere bisherigen Erfolge mich nicht gerade zu Begeisterungsstürmen veranlassen, ist ja wohl kein Wunder! Heute morgen dieser Brunnen im Süden, der ein völliger Reinfall war, dann drei Stück im Odenwald, davon einer schwerer zu finden als der andere – kannst du mir übelnehmen, wenn ich langsam Zweifel daran anmelde, ob es das, was wir suchen, überhaupt gibt? Insbesondere, da ja, falls einer dieser Brunnen wirklich der Quell der Unsterblichkeit wäre, wir die Sterblichen schon lange nicht mehr so nennen dürften! Oder glaubst du, sie hätten das nicht gemerkt?«

»Für wie dumm hältst du mich eigentlich? Natürlich, wenn es so einfach wäre, dass man sich runterbeugt und davon trinkt, hätten das schon alle getan! Selbstverständlich muss mehr dahinter stecken! Aber was das ist, werden wir nicht herausfinden, indem wir nur herumsitzen und es uns möglichst gutgehen lassen! Und im Übrigen …« Rian deutete mit der Kartenrolle kurz in die Richtung, in die Nina gegangen war. »Was ist mit ihr? Ich habe sie beim Autofahren genau beobachtet, und es ist wirklich nicht so schwer. Ich denke, ich kann es jetzt. Darüberhinaus haben wir die Karte, und ohnehin sind nur noch drei Brunnen übrig. Wir sollten sie nicht weiter mitnehmen. Mir scheint, dass du anfängst, dich viel zu sehr daran zu gewöhnen, das sie dein Bett wärmt.«

David setzte sich auf und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich habe in Paris einige dieser Menschenfrauen gehabt, und dort hast du dich nie daran gestört. Warum jetzt? Etwa, weil dein eigenes Bett kalt ist?«

»Nur zur Erinnerung, ich teile mein Bett seit Tagen mit Grog und Pirx, da bei dir ja kein Platz mehr ist! Wo sollte da jemand hin? Aber das ist nicht der Punkt!« Sie hob in einer mahnenden Geste die Kartenrolle und fuhr eindringlich fort: »Mir scheint, du vergisst Vaters Gebot. Kein Mensch soll durch uns zu Schaden kommen! Grog und Pirx konnten gestern in Worms nicht herausfinden, wohin der Getreue sich gewandt hat. Er kann uns hier jederzeit über den Weg laufen, denn mit ziemlicher Sicherheit sucht er dasselbe wie wir – warum sonst sollte er ausgerechnet hier sein?

Wir beide können uns zu verbergen versuchen. Aber Nina – was hat sie ihm entgegenzusetzen? Und falls wir überrascht werden, was wird dann mit ihr geschehen? Ich sage es dir: Sie wird dann genau so sterben wie die Leute in Paris! Er wird ihr die Lebenskraft entziehen!«

Davids Blick ging an Rian vorbei und wurde warnend. Sie sah sich um. Nina kam den Weg wieder hoch, die Schultern etwas hochgezogen, und rieb sich die Oberarme. Seufzend ließ Rian die Kartenrolle sinken.

»Es wird dunkel und kalt«, sagte Nina mit einem kleinen Lächeln. »Wir sollten zum Auto zurück. Immerhin sind wir über eine Stunde entfernt. Bis wir wieder dort sind, ist es bereits stockfinstere Nacht.«

Rian nickte. »Ja, wir können gehen, hier haben wir alles gesehen, was wir sehen wollten. Wir fahren ja auch noch eine Weile, bis wir wieder in Worms sind. Und morgen …«

Nina gähnte verhalten und schüttelte den Kopf. »Das viele Laufen an der frischen Luft und das Durchfragen in den Ortschaften haben mich ziemlich müde gemacht. Und es wäre schade, jetzt wieder nach Worms zurückzukehren, um dann morgen noch einmal die Strecke bis in den Odenwald zu fahren. Ich würde daher vorschlagen, dass wir hier über Nacht bleiben – in Amorbach, oder vielleicht in Michelstadt, das ist ein nettes Städtchen mit vielen Fachwerkhäusern und so. Um diese Jahreszeit sollte es kein Problem sein, Zimmer zu bekommen.«

Rian öffnete den Mund, doch David kam ihr zuvor. »Das klingt gut, finde ich. So sparen wir morgen Zeit und können die Suche hoffentlich abschließen. Und dieses Michelstadt klingt so, als könnte es dir gefallen, Rian.« Er lächelte seine Schwester an, und sie klappte ihren Mund zu und warf ihm ein erbostes Funkeln zu.

»Ich bin zwar nicht begeistert von der Aussicht, schon wieder einen Tag in der gleichen Kleidung herumlaufen zu müssen wie am Vortag, aber ich sehe, ihr zwei habt euren Entschluss ohnehin schon gefasst.«

Nina strich eine Strähne ihres dunklen Haares zurück und sah David fast schüchtern an. »Na ja, ihr müsst es wissen. Es ist eure Arbeit, ich laufe nur mit.«

David erwiderte ihren Blick mit seinem jungenhaften Lächeln, während er sich von der Bank erhob. »Du gehörst dazu und kannst genauso deine Meinung sagen. Ohne dich wären wir niemals so schnell so weit gekommen. Also können wir durchaus Rücksicht auf dich nehmen. Außerdem finde ich die Idee wirklich gut.«

»Aber Rian …«

Die Elfe winkte ab und stand ebenfalls auf. »Aber eine Bedingung habe ich: Morgen fahre ich das Auto.«

Nina riss die Augen auf. »Du willst morgen schon fahren? Ich habe dir doch noch gar nichts gezeigt …«

»Ich habe genug gesehen, während ich neben dir gesessen habe. Und was fehlt, kannst du mir ja sagen, wenn ich es brauche.«

Skeptisch sah Nina Rian an. »Wir können es morgen einmal ausprobieren, auf einem Parkplatz oder so. Aber selbst wenn du es kannst – willst du dann wirklich ohne Führerschein fahren?«

Rian lächelte. »Ich werde schon nicht so fahren, dass wir einem dieser Polizisten auffallen. Und sollte es doch passieren – wie gesagt, wir haben unsere Möglichkeiten, damit umzugehen.«

Nina schaute sie einen Moment zweifelnd an, zuckte dann jedoch mit den Achseln und wandte sich ab.

Rian gefiel Michelstadt, sobald sie die gut erhaltenen und liebevoll hergerichteten Fachwerkhäuser im Ortskern erblickte. Bei ihrem Spaziergang nach dem Abendessen umrundete sie drei Mal das Michelstadter Rathaus, das laut Nina wegen seiner ausgeprägt künstlerischen und mit aufwändigen Verzierungen versehenen Bauart sogar über die Grenzen Deutschlands hinaus berühmt war.

Rian lag bereits im Bett, als eine Tür knallte und es kurz darauf erst leise, dann lauter und hartnäckiger bei ihr klopfte. Sie setzte sich auf und sah verwundert zur Tür. Neben ihr öffnete Pirx blinzelnd ein Auge, während Grog aus dem Bett schlüpfte und auf dem Weg zur Tür war, um sie zu öffnen. Ehe sie ihn mit einem Ruf daran hindern konnte, hatte er die Klinke gepackt und hinuntergedrückt. Rian hechtete aus dem Bett und zur Tür, damit es so aussah, als habe sie sie geöffnet.

Mit zerzaustem Haar, verquollenen Augen und müdem Blick stand Nina dort, nur in Pullover und Unterhose, ihre Jeans fest an sich gedrückt haltend.

»Darf ich bei dir schlafen, Rian?«, fragte sie leise.

»Ähm, natürlich. Komm rein, Nina.«

Stumm ging die junge Frau an Rian vorbei in das dunkle Zimmer. Eine Geste der Elfe ließ den alarmiert dreinschauenden Pirx sich vom Bett hinunter und in eine Ecke kugeln. Rian winkte ihn und den halb erstarrt hinter der Tür verharrenden Grogoch zu sich und trat mit ihnen halb in den Gang hinaus.

»Ihr geht zu David«, zischte sie. »Der hat jetzt genug Platz.«

Die beiden nickten stumm und sahen zu der Menschenfrau, die zusammengesunken auf der Bettkante saß. Sie hatte die Jeans neben sich hingeworfen, die Arme aufgestützt und das Gesicht in die Hände gelegt.

»Armes Kind«, murmelte Grog. Er und der Pixie wandten sich ab und gingen den inzwischen dunklen Gang hinunter. Rian schloss die Tür und deutete auf die Nachttischlampe neben Nina, worauf diese sich anschaltete. Rian brauchte das Licht nicht, aber Nina. Die Elfe ging zum Bett, warf Ninas Hose hinüber auf einen der Stühle, und setzte sich dann etwas unbeholfen neben sie.

»Was ist denn los?«, fragte sie. »Habt ihr euch wegen irgendetwas gestritten?«

Nina hob den Kopf und starrte blicklos gegen die Wand. »Nicht gestritten, nein … ich bin gegangen. Ich glaube, das hat ihn wütend gemacht, so wie er die Tür zugeknallt hat. Aber ich konnte heute nicht bei ihm bleiben. Nicht, nachdem …« Ihr Gesicht verzog sich etwas, und sie schüttelte den Kopf. »Ich bin so dumm«, flüsterte sie.

»Dumm? Du? Warum denkst du das?«

Mit einem schiefen Lächeln wandte Nina Rian ihren Kopf zu. »Weil ich dumme Dinge tu, obwohl ich weiß, dass sie dumm sind. Weil ich dachte, ich könnte meine Gefühle unter Kontrolle halten und nehmen, was mir geschenkt wird. Deshalb habe ich mich darauf eingelassen. Weil … ach, vergiss es. Du kannst mir nicht helfen.« Nina lachte auf. »Immerhin ist er ja dein Bruder.«

Rian betrachtete Nina einen Moment nachdenklich und schüttelte dann den Kopf.

»Du hattest nicht wirklich eine andere Wahl, weißt du, er verzaubert die Frauen – so wie ich die Männer, die ich will.« Sie lachte hell auf und wedelte mit der Hand durch die Luft. »Warum soll nicht jeder mit jedem Freude teilen können? Wo wir herkommen gibt es solche Einschränkungen nicht, und darum sind wir es nicht gewohnt, besondere Rücksicht zu nehmen.«

Rian hob etwas hilflos die Schultern. Sie verstand nicht so recht, was die Menschen in solchen Momenten bewegte, und es fiel ihr schwer, darüber nachzudenken, was Nina trösten könnte. Obwohl, etwas fiel ihr da schon ein. Ihr Augen leuchteten auf. »Ich habe eine Schachtel Trüffelpralinés dabei – möchtest du die haben? Mich machen die immer sehr glücklich.«

Nina lachte auf. »Ja, ich glaube, so etwas könnte ich jetzt brauchen, auch wenn ich es sicher ebenfalls bereuen werde.«

»Du solltest nichts bereuen, was Spaß gemacht hat«, meinte Rian und warf ihr die Schachtel zu. »Wenn es schlechte Folgen hat, kann man sich immer noch darum kümmern.«

»Eine schöne Einstellung.« Nina begutachtete die weiche Füllung in der angebissenen Praline. »Nur leider funktioniert sie nicht immer. Wenn man einer Sache völlig verfällt, ist es schwer, hinterher mit dem Schmerz der Trennung fertig zu werden. Und Reue hält einen dann vielleicht beim nächsten Mal davor zurück, die gleiche Dummheit nochmal zu begehen.«

»Mhmmm«, machte Rian nur. Reue gehörte zu den Worten, deren Bedeutung sie überhaupt nicht begriff, ein menschliches Konzept, das über ihren Horizont ging.

Nina steckte die zweite Hälfte der Praline in den Mund, leckte die Finger ab, ließ sich rückwärts auf das Bett fallen und schloss die Augen.

»Ich glaube, das Beste wäre, wenn ich jetzt einfach ein wenig schlafen würde«, meinte sie undeutlich. »Morgen sieht die Welt vielleicht schon ein bisschen anders aus. Morgen …«

Rian bemerkte, dass Nina auf halbem Wege war, einzuschlafen. Sie hob die Beine der jungen Frau an und schob sie ganz aufs Bett, und mit einem halb genuschelten, halb geseufzten »Danke!« drehte Nina sich auf die Seite und zog die Decke über ihre Beine.

Rian nahm sich noch eine Trüffelpraline, ehe sie die Schachtel neben Nina auf den Nachttisch stellte und die Lampe ausschaltete. Dann ging sie zur anderen Seite des Bettes und kroch unter ihr Laken.

»Es ist eine Sache, etwas zu wissen, das nicht ausgesprochen wurde, und sich dennoch darauf einzulassen«, flüsterte Nina zittrig. »Aber es ist eine gänzlich andere Sache, es ins Gesicht gesagt zu bekommen.«

Sie krümmte sich ein wenig mehr zusammen, und Rian sah, dass sie immer mehr von ihrer Decke zwischen ihre Arme zog, als könne dies ihr Halt geben. Die nächsten Worte kamen so leise, dass die Elfe sie beinahe nicht verstanden hätte.

»Und ich heiße nun mal Nina, nicht Nadja.«

Rian blinzelte, und ihr Mund formte ein »Oh«, das sie nicht aussprach.

»Er hat dich Nadja genannt?«, fragte sie leise nach.

Nina nickte kaum merklich.

Rian legte eine Hand auf Ninas Rücken und streichelte sie sanft. Ihre Gedanken wanden sich indessen um das, was die junge Frau gesagt hatte, und versuchten, es zu begreifen. Niemals, so weit Rian wusste, war David so etwas passiert. Und warum sollte ihm ausgerechnet der Name einer Frau entschlüpfen, die ihn zurückgewiesen hatte? Sie schüttelte leicht den Kopf.

Das wurde immer seltsamer.

Als die beiden Frauen am nächsten Morgen aufstanden, benahm sich Nina, als sei nichts geschehen. Lediglich ihr Lächeln kam zögerlicher, und ihre Augen wirkten etwas matter.

David schlief noch, als Rian unter Ninas Anweisung ihre erste Fahrstunde nahm. Es war nicht so einfach, wie sie es sich vorgestellt hatte, aber schon zwei Stunden später hatte sie den Bogen heraus.

Sie sammelten David auf (und für Nina unbemerkt Pirx und Grog), verließen Michelstadt in Richtung Süden auf einer Straße, die auf den Schildern sowohl als »Nibelungenstraße« als auch als »Siegfriedstraße« bezeichnet wurde. Rian betrachtete die Häuser der Ortschaften, durch die sie hindurchkamen, auf der Suche nach weiteren Perlen wie dem Michelstädter Rathaus. Doch hier waren die meisten Gebäude eher schlicht und zweckmäßig, obwohl dazwischen ebenfalls das eine oder andere Fachwerkhaus zu entdecken war. Die Dörfer waren ohnehin zumeist so klein, dass sie noch nicht einmal die großen gelben Namensschilder hatten, bei denen man langsamer fahren musste, wie Nina ihr erklärt hatte, sondern lediglich kleine grüne, die anscheinend keine Folgen für die erlaubte Fahrgeschwindigkeit hatten.

Schließlich bogen sie nach Westen ab und fuhren in das ausgedehnte Waldgebiet hinein, das sie schon zuvor auf beiden Seiten des Tales begleitet hatte. Nach ein paar weiteren Dörfern sagte Nina, die das Steuer wieder übernommen hatte: »Wir sind gerade durch Hüttenthal hindurchgefahren. Der nächste Ort ist Hiltersklingen, dazwischen sollte es sein. Also haltet die Augen offen.«

Sie bogen um eine Kurve, und Rian erspähte ein Stückchen voraus im Halbdunkel des schattigen Straßenrandes ein Hinweisschild auf einen Parkplatz und darunter ein dunkles Schild mit heller Aufschrift.

»Da«, rief sie und zeigte darauf. »Lindelbrunnen steht da vorn dran, und in Klammern Siegfriedbrunnen. Das ist es.«

Nina warf ihr einen kurzen verwunderten Blick zu. »Das kannst du von hier aus lesen? Wow. Solche Augen hätte ich gerne.«

David lehnte sich vor, und Rian bemerkte, dass sein bisher mürrischer Gesichtsausdruck einem eher nachdenklichen gewichen war. Er legte eine Hand auf die Rückenlehne des Fahrersitzes, dabei wie zufällig mit seinen Fingern Ninas Schulter berührend.

»Das ist das besondere Blut. Es steckt eine Art Magie darin«, sagte er.

Dabei hob sich wieder das feine Glitzern von seinen Fingerspitzen, mit dem er Nina am ersten Abend eingewoben hatte, und glitt, für sie unsichtbar, wie ein feiner Nebelstreifen auf sie über.

Im selben Moment versteiften sich Ninas Arme, und sie betätigte so plötzlich das Gaspedal, dass David den Halt verlor und nach hinten in den Sitz fiel. Das Hinweisschild sprang dabei förmlich näher, und Rian fürchtete schon, sie würden daran vorbeischießen, als Nina ebenso abrupt und heftig abbremste, wie sie Gas gegeben hatte.

Rian wurde in den Gurt geschleudert und schrie überrascht auf. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass ihr Bruder, der wie immer nicht angeschnallt war, sich mit den Armen am Fahrersitz hatte abfangen können. Hinter sich hörte sie ein Quieken und ein unwilliges Knurren, das darauf hindeutete, dass auch Pirx und Grog heftig herumgeschleudert wurden.

Mit quietschenden Reifen riss die junge Frau das Fahrzeug herum und in die Einfahrt hinein, dicht vor dem Schild und einem daneben stehenden großen grauen Stein vorbei. Die Elfe klammerte sich am Türgriff fest und starrte Nina an, während David mit der Schulter gegen das Fenster schlug und das Gesicht verzog.

Dann waren sie herum, und das Auto rollte langsam einen Waldweg hinauf, vorbei an einer Stahlkonstruktion, die den Mord am Drachentöter Siegfried darstellte, und auf eine geschotterte Fläche zwischen den Bäumen zu, die wohl als Parkplatz diente.

Rian holte tief Luft. Die Geräusche hinter der Elfe, die darauf hindeuteten, dass der Grogoch aus dem Fußraum zurück auf den Sitz krabbelte, schien Nina glücklicherweise nicht zu bemerken. Rian warf einen prüfenden Blick nach hinten. Pirx entrollte sich, kroch von Davids Schoß und kauerte sich auf dem mittleren Sitz zusammen, ängstlich zu der Menschenfrau im Fahrersitz schielend. David lehnte mit dem Rücken gegen die Tür und wirkte ebenso verwirrt wie Rian.

Am oberen Ende des Platzes wendete Nina den Wagen in einem weiten Bogen, hielt dann an und schaltete die Zündung aus. Sie legte beide Hände unten ans Lenkrad und sah durch die Windschutzscheibe in den nebligen Wald hinaus. Rian löste langsam ihre Hand vom Türgriff und ließ die angehaltene Luft entweichen.

»Tu das nicht noch mal, David«, sagte Nina, ohne den Kopf zu wenden.

David richtete sich auf, rieb sich die Schulter und schüttelte leicht benommen den Kopf. »Was meinst du?«

»Das, was du eben gemacht hast. Wie auch immer du es tust, und warum auch immer du es kannst.«

»Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte er und ließ sein Schultergelenk vorsichtig kreisen. Sein Gesicht verzog sich erneut.

»Wenn du mich so berührst wie eben, tust du etwas mit meinen Gedanken. Mit mir. Lass das!«

»Aber Nina, was soll denn Schlechtes daran sein, wenn du dich zu mir hingezogen fühlst? Warum solltest du das denn nicht mehr wollen?«

Sie lachte auf. »Immerhin kennst du heute wieder meinen Namen.« Ihre Hände lösten sich vom Lenkrad, und nun wandte sie sich zu ihm um und sah ihn an.

»Ich werde ohnehin wieder zu dir zurückkommen, David. Ich kann gar nicht anders, Gott weiß, warum. Aber lass mir so lange etwas Freiraum.«

David zögerte, hob halb die Hand, und einen Moment glaubte Rian, er würde erneut die Glamourfäden weben. Doch dann sah er zur Seite, öffnete seine Tür und stieg wortlos aus. Während Pirx und Grog eilig hinauskrabbelten, kam Rian herum.

»Ihr findet den Weg auch ohne mich«, sagte Nina leise, die Hände um das Lenkrad verkrampft, mit geschlossenen Augen.

David schloss die Tür. »Gehen wir«, sagte er und deutete mit einem Kopfnicken auf einen Pfad, der direkt neben einem Bachlauf vom Platz wegführte.

Eine Lichterkette hing über dem Bach in den Bäumen und führte bis zu einer Holzhütte, die etwas versteckt ein Stück weiter den Weg hinauf stand. Pirx und Grog waren vorausgegangen, sahen sich suchend um und schnupperten ein wenig, als hofften sie, auf diesem Wege etwas wahrzunehmen. Rian sah zu David, während sie neben ihm entlangging.

»Alles in Ordnung mit dir? Du bist vorhin ziemlich durchgeschüttelt worden«, sagte sie.

David nickte. »Meine Schulter tat ein wenig weh, aber das ist schon wieder verheilt.«

»Und sonst?«

»Was sonst?«

Rian sah ihn forschend an. »Du benimmst dich zurzeit seltsam. Was ist gestern Abend passiert?«

David wischte mit seiner Hand durch die Luft. »Ich habe mich versprochen, und sie hat es furchtbar wichtig genommen. Hat mich angesehen, als sei ich ein Eidbrecher, und ist gegangen.«

»Du hast sie wirklich Nadja genannt?«

»Ja, und?« Er drehte den Kopf und funkelte seine Schwester an. Unwillkürlich wich Rian einen Schritt zur Seite. »Nadja, Nina, das ist doch einerlei.«

»Ich kann mich nicht erinnern, dass dir so etwas schon einmal passiert wäre, und wenn, dann hätte ich erwartet, dass dir die richtigen Worte einfallen, um die Scharte wieder auszuwetzen.«

Der Elf heftete seinen Blick wieder auf den leicht ansteigenden Weg unter ihren Füßen. »Ich war zu wütend, um zu denken.«

»Wütend? Auf Nina?«

Er schüttelte leicht den Kopf. »Auf Nadja. Darauf, dass sie es sogar dann fertig bringt, mich zu ärgern, wenn sie gar nicht da ist.«

Rian lachte auf. »Es ist nicht so, als habe sie dich gezwungen, ihren Namen zu sagen.«

»Nein. Aber …« Er hob plötzlich den Kopf und blieb stehen, die Nasenflügel leicht geweitet, als würde er eine Witterung aufnehmen.

Rian hielt ebenfalls an und schaute sich um. Sie hatten beinahe die Holzhütte erreicht, und rechts davon sah sie einen betonierten Kreis, der hangseitig von einer gebogenen Natursteinmauer eingefasst wurde. Am höchsten Punkt der Mauer war ein Schild befestigt, und darunter sickerte aus einem Loch das Wasser der Quelle. Pirx hatte das Mäuerchen erklommen und saß mit baumelnden Beinen und aufmerksam in den Wald gerichtetem Blick darauf, während Grog unter den Vorbau der Holzhütte getreten war und diese interessiert musterte.

Rian sah wieder zu David. »Was ist?«

Er musterte sorgfältig den umliegenden Wald. »Ich dachte einen Moment lang, ich hätte etwas wahrgenommen. Etwas, das nicht hierher gehört, sondern eher in unsere Welt.«

Rian wurde aufgeregt. »Du meinst, wir sind richtig?«

»Vielleicht.« David zuckte leicht mit den Achseln. »Lass uns zur Quelle weitergehen.«

Grog kam ihnen über den Weg entgegen.

»Scheint, als wären die Menschen öfter hier«, berichtete er. »Die Hütte hat Licht, elektrische Anschlüsse und Wasser. Allerdings scheinen die letzten Gäste nicht gerade pfleglich mit der Einrichtung umgegangen zu sein, es ist einiges zerstört. Pirx mag übrigens die Quelle.« Er nickte in Richtung des Pixies, der in diesem Moment fröhlich zu ihnen herüberwinkte.

»Wir sollten uns genauer umsehen«, entschied Rian. »David hat etwas gespürt, und wir werden dem nachgehen. Nimm dir Pirx und sieh dich mit ihm im umgebenden Wald um. Achtet genau auf alles, das sich fremd anfühlt. Grog und ich schauen uns erst einmal die Quelle an.«

Die nächste Stunde brachten die Elfen damit zu, Quelle, Hütte und die gesamte Umgebung sorgfältig zu untersuchen. Ohne Ergebnis. Während Pirx leicht schnüffelnd dem Bachlauf folgte, sahen sich die anderen drei ratlos an.

»Nichts«, fasste Rian zusammen. »Hier und da das, was David auch wahrgenommen hat – ein Hauch, dass hier etwas gewesen ist. Aber jetzt lässt nichts mehr darauf schließen, was es war.«

Pirx quietschte auf, Rian und die anderen drehten sich zu dem Pixie um, der den Bachlauf entlang zurückgesprungen kam. Mit einer Hand schwenkte er dabei aufgeregt etwas. Ein wenig außer Atem kam er bei ihnen an.

»Seht mal, was da jemand zusammen mit einem Haufen alter Blätter und Matsch in das Rohr gestopft hat, in dem der Bachlauf eigentlich verschwinden soll!«, rief er und hielt ihnen seinen Fund entgegen.

Vorsichtig nahm Rian das Teil und betrachtete es genau. Es sah aus wie eine aus mit dünnem Faden zusammengehefteten Blättern hergestellte Kappe für ein Kind oder ein anderes Wesen von ähnlicher Größe wie der Grogoch. Rians Blick wanderte zurück zu Pirx.

»Das Ding habe ich zuletzt im Zug nach Worms gesehen«, piepste der Pixie. »Da saß es aber noch auf dem Kopf von diesem Widerling, dem Kau.«

David schlug sich an die Stirn. »Das war es, was ich gespürt habe! Sie waren hier, und vor nicht allzu langer Zeit!«

»Und offensichtlich hatten sie bisher ebenso wenig Erfolg bei der Suche nach dem Lebensquell wie wir, und der Kau hat seine Enttäuschung oder Langeweile hier ausgetobt«, setzte Rian hinzu.

»Wer weiß, vielleicht sind sie noch gar nicht weit«, brummte Grog mit gerunzelter Stirn. »Das, was wir wahrgenommen haben, war nicht lange verweht …«

David wurde blass. »Nina! – Was, wenn sie in der Nähe des Parkplatzes waren?«

Die Elfen sahen sich an, und im nächsten Moment rannten sie gleichzeitig los.

Das Auto stand dort, wo sie es verlassen hatten, doch die Fahrertür war offen, der Sitz leer. David fluchte leise, rannte um das Auto herum, sah sogar noch darunter.

Aber Nina blieb verschwunden. Mit einem erneuten Fluch warf David die Tür zu.

Rian trat hinter ihn und legte eine Hand auf seine Schulter.

»Beruhige dich, David. Ich spüre hier nichts von dem, was wir bei der Quelle wahrgenommen haben. Ich denke nicht, dass sie auf diesem Parkplatz waren.«

Heftig schüttelte er ihre Hand ab. »Und wo ist dann Nina?«

»Höre ich da meinen Namen?«

Die Elfen fuhren herum. Nina kam von einem nahen Hügel auf sie zu.

»Nina! Wir haben uns Sorgen gemacht.«

»Ich war nur auf der anderen Seite dieses Hügels.« Sie zeigte hinter sich. »Kurz nachdem ihr weg wart, hörte ich aus der Richtung Stimmen und bin nachschauen gegangen, wen es an einem so grauen Novembertag hinaustreibt. Der Waldweg zwischen dem Stein und der Stahlstatue führt da hinten hoch. Als ich über den Hügel kam, stieg gerade jemand in ein Auto, wendete und fuhr weg. Ich bin dann noch eine Weile dort sitzengeblieben, weil es so herrlich ruhig war.«

»Hast du gesehen, wer in dieses Auto gestiegen ist?«, fragte Rian alarmiert. Sie konnte nicht erklären, warum – ihr Elfensinn schlug an.

Nina schüttelte den Kopf. »Nicht genau. Ich denke, es war ein Mann, zumindest hat die Stimme männlich geklungen, die ich gehört habe. Er trug so etwas wie einen langen Mantel mit Kapuze. Vielleicht jemand, der Samhain feiert.«

»Samhain?« Rian sah Nina verständnislos an. »Wer feiert hier den Herrn der Totenwelt?«

»Esoteriker«, antwortete Nina mit einem Achselzucken. »Solche Ich-will-wieder-im-Einklang-mit-Natur-und-Kosmos-leben-Typen, die sich aus allerlei mehr oder weniger gut fundiertem Halbwissen über alte Religionen was Eigenes zusammengebastelt haben, das zu ihnen passt. Die meisten sind harmlose Spinner auf der Suche nach etwas Magie für ihr tristes Leben, aber manche von denen sind auch heftig drauf. Dieser Kapuzentyp kam mir so vor wie einer von der heftigeren Sorte, falls er wirklich dazu gehört. Nur so ein Gefühl, aber …« Erneut zuckte sie mit den Achseln.

Rian und David sahen sich an.

Der Getreue war hier, und er war ihnen erneut einen Schritt voraus.

Graue Wolken zogen weiterhin tief über den Himmel, und Nebelfetzen hingen in dem Wald, der den Hügel bedeckte, an dessen Fuß sie einige Zeit später erneut das Auto abstellten. Sie waren nicht die Einzigen, die diesen Parkplatz nutzten, doch das Auto, das Nina beim Lindelbrunnen gesehen hatte, war nicht unter den abgestellten Fahrzeugen.

»Das sind nicht nur Leute aus der Region«, stellte Nina mit einem Blick auf die Nummernschilder fest. »Scheint, als hätte ich mit meiner Vermutung recht gehabt. Hier treffen sich Leute für ein Samhain-Fest.«

Sie sah prüfend zum Himmel auf. »Wenn ihr die Quelle noch sehen wollt, solange es hell ist, solltet ihr euch beeilen.«

»Kommst du nicht mit?«, fragte Rian überrascht.

Nina schüttelte den Kopf. »Ich habe es nicht so mit diesen Typen. Ich war vor einiger Zeit mal mit einem Eso zusammen, und der hatte etwas seltsame Ansichten über unser Zusammenleben. Jedenfalls habe ich seither beschlossen, dass die ihr Leben leben sollen, und ich lebe meines, und am Besten stören wir uns gegenseitig nicht.« Sie winkte ab. »Ich werde mich ein wenig auf der Rückbank hinlegen. Nach der Wegbeschreibung im Internet ist das ab hier ein Fußmarsch von etwa 20 Minuten, plus die Zeit, die ihr da oben verbringt – das sollte reichen für eine ordentliche Mütze Schlaf für mich, von der ich das Gefühl habe, sie im Moment dringend zu benötigen.« Sie lächelte David kurz an. »Wer weiß, was der Abend noch bringt.«

David erwiderte ihr Lächeln und fuhr sich mit der Hand durch das Haar. Nina seufzte und öffnete die hintere Autotür. »Viel Erfolg euch beiden«, sagte sie und winkte kurz, ehe sie einstieg und die Tür hinter sich zuzog.

Die Elfen gingen vom Parkplatz hinunter und an dem einsam gelegenen Wohnhaus daneben vorbei auf den ansteigenden Weg zu, der zwischen Wiesen hindurch zum Waldrand reichte. Dort teilte sich der Weg auf, beide Pfade führten laut den Schildern mit unterschiedlichen Wanderzeiten zum Brunnen. Einer war ein breiter geschotterter Weg, der sich mit sanftem Anstieg am Berg hochwand, der andere ein kürzerer, aber steiler Waldweg.

Da Elfen in der Menschenwelt mit den Füßen den Boden nicht berührten, hatten sie keinerlei Mühen mit Unwegsamkeiten. Sie entschieden sich für den unbefestigten Weg und wanderten zwischen hohen Kiefern über den mit Wurzeln und Steinen durchsetzten Pfad hinauf und in feinen Nebel hinein. Der Waldweg endete, als er mit dem breiten Schotterweg zusammentraf, und nachdem sie diesem ein Stück weit gefolgt waren, tauchte zu ihrer Rechten neben sechs Steinstufen eine riesige Holzstatue auf.

»Verlorener Schatz – Verlorenes Königreich – Verlorene Seelen. Tarnkappen-Alberich«, las Rian von der Plakette vor, die an die Statue genagelt war. Die vier Elfenwesen sahen sich verwundert an.

»Ich habe Alberich gekannt«, sagte Grog grinsend, »und so wie das da sah er bestimmt nicht aus! Schätze, er hätte dieses Monster recht schnell zu Feuerholz verarbeitet. Die Drachenbrüder ließen nicht mit sich scherzen.« Er hauchte einmal in Richtung der Statue, als deute er Feueratem an.

Rian lachte auf. »Nun ja, er wird sich nicht mehr dran stören.«

»Sieht so aus, als wären hier vor kurzem schon andere vorbeigekommen«, sagte David mit Blick auf Spuren, die sich in der feuchten Erde des Weges abzeichneten, der von den Stufen aus in den Wald hineinführte.

»Vermutlich diese Leute, von denen Nina gesprochen hat«, meinte Pirx. »Ich habe Gelächter gehört. Kann also nicht mehr weit sein.«

*

Unruhig wälzte sich Nina auf der schmalen Rückbank herum. Sie war unsäglich müde, und dennoch konnte sie ihre Gedanken nicht zu der notwendigen Ruhe bringen. Immer wieder kehrten sie zu David zurück, zu der Art, wie er sie berührte, und diesem eigenartigen Kribbeln, das sie dabei erfasste.

Und Rian, die so ätherisch wie ein Engel war. Etwas war seltsam an den beiden. Als wären sie ein wenig unscharf, als gehörten sie nicht in diese Welt.

Nina seufzte, setzte sich halb auf und strich einige Strähnen aus ihrem Gesicht. Mit solchen wirren Überlegungen würde sie es ganz gewiss nie schaffen, von David loszukommen. Wenn sie ihn jetzt noch in ihren Träumen zum Elfenprinzen erhob … sie lachte trocken auf. Das würde doch genau zu dem passen, wie er sich gab. Ein magischer Prinz aus einer anderen Welt. Was suchte er hier? Gewiss nicht jemand wie Nina.

Die junge Frau horchte auf. Kies knirschte unter Rädern, ein Motor wurde abgeschaltet. Neugierig hob Nina ein wenig den Kopf, um durch das Seitenfenster hinauszuspähen. Ein paar Autos standen zwischen ihrem Wagen und dem Neuankömmling, sie hörte am Klappen der Türen, dass mehrere Leute ausgestiegen sein mussten.

Aber da war nur eine Stimme, die eines Mannes. Es klang, als gäbe er Kommandos.

Im nächsten Moment tauchte sie wieder hinter der Rückbank ab, als der Mann hinter den Autos hervorkam und ihre Erinnerung ihr den dazu passenden Hinweis gab. Es war der Mann in dem seltsamen Kapuzenmantel, den sie beim Lindelbrunnen gesehen hatte. Sie wusste nicht genau, warum, aber sie legte keinerlei Wert darauf, von ihm entdeckt zu werden. Ihr Gefühl in dieser Hinsicht war durch den seltsamen Blick, den Rian und David bei ihrer Erzählung getauscht hatten, nur noch verstärkt worden. Es schien, als würden die Geschwister den Mann kennen, und nicht in positiver Weise. Doch sie hatten kein Wort darüber verloren, und Nina hatte es für besser befunden, nicht in sie zu dringen. Jetzt bereute sie es. Der Kerl war sehr groß und breitschultrig.

Der Mann kam näher, und erneut hörte sie seine Stimme. Sie klang kalt und rau, fast wie ein Zischen, und er redete in einer ihr unbekannten Sprache. Als er schließlich direkt hinter ihrem Auto vorbeiging, hörte sie jemanden leise antworten, in hohen, etwas quäkenden Tönen, wie sie sie noch nie von einem Menschen gehört hatte. Der Mann sagte in scharfem Tonfall ein paar Worte, dann schien das Gespräch beendet, und Nina hörte nur noch das Geräusch sich entfernender Schritte.

Sie wagte erneut einen kurzen Blick durch das Rückfenster. Der Mann ging zügig die Auffahrt hinunter und hielt auf den Feldweg Richtung Siegfriedsbrunnen zu. Wer auch immer bei ihm gewesen war, war entweder zurück zum Auto gegangen oder hatte einen anderen Weg genommen, denn Nina konnte niemanden sonst sehen.

Unschlüssig starrte Nina dem Mann hinterher, bis er den Waldrand erreicht hatte. Er hatte etwas mit David und Rian zu tun, ohne jeden Zweifel.

Dass die Geschwister keine Journalisten waren, war ihr recht schnell klar geworden, denn sie interessierten sich nicht für die Geschichten der einzelnen Brunnen, ihre Beziehung zur Nibelungensage, oder auch nur für die touristischen Aspekte der Rundfahrten, die sie machten. Sie hatten stattdessen jeden einzelnen Brunnen genau unter die Lupe genommen und auch das Umfeld untersucht.

Wilde Gedanken an Agenten, versteckte Akten und Verfolgungsjagden schossen durch Ninas Kopf. Hatte jemand an einem der Siegfriedsbrunnen etwas hinterlegt, und sie wussten nicht, an welchem? Oder waren sie Interpol-Agenten, die den geheimen Übergabepunkt in irgendeinem Handel zwischen Verbrechern oder Terroristen suchten? Oder – dieser Gedanke gefiel ihr gar nicht – waren sie vielleicht selbst Verbrecher oder Terroristen?

Nina rief sich zur Ordnung. Ihre Fantasie ging nun wirklich mit ihr durch. Vermutlich gab es für all das einen ganz normalen und prosaischen Hintergrund. Sobald David und Rian zurückkamen, würde sie sie rundheraus fragen, was das alles zu bedeuten habe.

Sie schüttelte den Kopf und wollte sich wieder hinlegen, doch etwas hielt sie zurück.

War das hier nicht genau das, worauf sie immer gewartet hatte? Hatte sie sich nicht immer nach Geheimnissen und Abenteuern in ihrem Leben gesehnt, nur nie den Mut aufgebracht, danach zu suchen? Nun hatte das Abenteuer offensichtlich sie gefunden. Aber sie musste die Entscheidung fällen, ob sie ihm folgte. Nina grinste sich selbst im Rückspiegel an, öffnete die Tür und stieg aus.

*

Rian ging auf dem schmalen und durch die Feuchtigkeit des Nebels schlüpfrigen und für Menschen nicht ungefährlichen Weg voran. Der Wald lichtete sich bald, sie konnte Sitzbänke sehen, sowie einen hohen Gedenkstein mit einem Kreuz darauf, und die Siegfriedquelle selbst. Das Wasser drang hier an einer mit einem Naturstein geschützten Stelle aus dem Hang und lief über einige weitere Steine in einem schmalen, von Farnen eingefassten Bett abwärts. Ein kleiner Steg führte unterhalb der Quelle über das Bachbett, und von dort verlief ein Pfad zu einer runden Ruhehütte weiter oben am Hang. Aus der Hütte drangen Stimmen zu ihr herüber.

Gerade als Rian am Kreuzstein vorbeiging, erschien auf der anderen Seite des Bachs eine junge Frau mit dunkelrot gefärbten Haaren und langen silbernen Ohrringen mit Mondsteinen. Sie trug einen dicken blauen Anorak, unter dem ein bunter Wollrock hervorschaute, ihre Füße steckten in schwarzen Stiefeln, und in ihren mit mehreren silbernen Ringen und Armreifen geschmückten Händen hielt sie eine kleine Glasflasche.

Die junge Frau nickte Rian und David mit einem freundlichen Lächeln zu, als sie sie bemerkte, und folgte dann auf ihrer Seite dem Bachbett, den Blick suchend auf das Wasser gerichtet.

Neugierig trat Rian näher. »Wollen Sie etwas von dem Wasser in die Flasche füllen?«

Die Rothaarige sah zu ihr auf. »Ja, aber es scheint, als wäre das nicht so leicht. Das Wasser fließt zu flach über die Steine.« Ratlos sah sie wieder auf den Bach hinunter. »Wir müssen wohl doch das Wasser nehmen, das wir mitgebracht haben.«

»Wofür brauchen Sie es denn?«

Die Frau steckte die kleine Flasche in eine ihrer Anoraktaschen und sah dann wieder zu Rian. Ein vorsichtiger Ausdruck trat in ihre Augen.

»Wir machen hier eine kleine Feier, zu Allerheiligen«, sagte sie. »Das machen wir gern mit frischem, reinem Quellwasser.«

»Allerheiligen?«, fragte David nach. »Sie meinen das Samhain-Fest?«

»So nennt man es auch«, antwortete die Frau mit einem leichten Lächeln.

»Ah. Warten Sie, ich glaube, ich kann Ihnen helfen.«

David ging das Bachbett entlang, stellte sich dann vor der Quelle breitbeinig auf die Steine, sodass das Wasser zwischen seinen Füßen hindurchlief, und ließ sich in die Hocke sinken. Er warf einen Blick in die Höhlung unter dem Naturstein, legte dann beide Hände aneinander und hielt sie hinein.

»Kommen Sie mit ihrer Flasche her und öffnen Sie sie«, rief er.

Die Frau folgte seiner Aufforderung und hielt ihm die offene Flasche hin. Vorsichtig zog der Elf seine Hände zurück. Der Kelch, den sie bildeten, war randvoll mit glasklarem Wasser. Langsam ließ er es über seine Finger in die Flasche laufen. Drei Mal wiederholte er dieses Vorgehen, dann war das Fläschchen voll, und die Frau schraubte es wieder zu.

»Vielen herzlichen Dank«, sagte sie mit einem breiten Lächeln.

»Gern geschehen«, winkte David ab. »Ich hoffe nur, meine Hände haben das Wasser nicht beschmutzt.«

Sie winkte ab. »Wir werden es ohnehin mit Salz reinigen. Das gehört dazu. Und außerdem, was heißt schon sauber – wenn wir absolut sauberes Wasser haben wollten, müssten wir ja destilliertes Wasser nehmen, und das ist wiederum unnatürlich.« Sie grinste und sah zwischen David und Rian hin und her, während sie die Flasche in ihren Anorak steckte. Die feuchten Finger trocknete sie an ihrem Rock ab. »Werden Sie hierbleiben?«

»Nur so lange wie nötig«, antwortete David und schüttelte sich die Feuchtigkeit von den Fingern.

»Warten Sie nur nicht zu lange. Es wird schon dunkel, und bei dieser Feuchtigkeit ist der Waldboden tückisch. Ich weiß es, ich habe mir letztes Jahr hier den Knöchel verstaucht.« Sie verzog das Gesicht.

»Ich denke, wir werden nicht lange bleiben«, antwortete Rian. »Wir wollten uns nur schnell die Quelle anschauen.«

»Haben Sie schon die Runen bemerkt?«

»Runen?« Fragend blickte Rian sie an.

Die Frau deutete auf einen Stein links von der Quelle. »Da sind ein paar Runen eingeritzt. Man kann sie kaum erkennen, und ich bin nicht firm genug, um sie lesen zu können.« Sie lachte auf. »Und selbst wenn ich sie entziffern könnte, würde ich vermutlich noch immer nicht verstehen, was es heißt, wenn das wirklich was Altes ist.«

David nickte. »Das ginge uns vermutlich ebenso. Aber danke für den Hinweis!«

»Keine Ursache. Und wie gesagt – warten Sie nicht zu lange mit dem Rückweg!«

Die Frau kehrte über den Weg zu der Ruhehütte zurück, wo sie von ihren Freunden begrüßt wurde.

Rian ging zu dem Stein, auf den die Frau gedeutet hatte, und beugte sich hinunter, um ihn anzuschauen. Mit einer Hand winkte sie Grog herbei, während sie mit der anderen versuchte, das feuchte Moos zu entfernen, das den Stein zum Großteil bedeckte. Ihre Bemühungen waren nur teilweise von Erfolg gekrönt, denn die Pflanzen waren glitschig und saßen in allen Ritzen fest. Dem Grogoch gelang es schließlich unter Zuhilfenahme seiner vielgeübten Reinigungsfertigkeiten, und gemeinsam beugten sie sich darüber und bemühten sich, Zeichen und Inhalt zu entschlüsseln. Es gelang ihnen jedoch nicht.

»Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob es nicht erst in neuerer Zeit dort hineingeritzt wurde«, meinte Rian skeptisch. »In dieser feuchten Umgebung müsste es doch sonst längst verwittert sein, oder?« Sie sah zu Grog, der zustimmend nickte.

»Also wieder keinen Schritt weiter«, sagte David und starrte in den nebelverhangenen dunklen Wald.

»Zumindest haben wir hier etwas, worauf wir zurückkommen können«, meinte Rian. »Und ich möchte sehen, was diese Leute mit dem Wasser machen. Die Frau sprach von einer Reinigung mit Salz. Nina sagte doch, sie beziehen sich teilweise auf alte Überlieferungen.«

David zuckte mit den Achseln. »Wie du willst. Das hier ist der vorletzte Brunnen auf unserer Liste, und den letzten können wir morgen abhaken. Er ist ohnehin derjenige, der am nächsten bei Worms ist.«

Während Pirx und Grog direkt durch den Wald in Richtung der Hütte gingen, schlugen David und Rian einen Bogen, der die Leute darin glauben lassen sollte, sie wären den Weg wieder zurückgegangen. Schließlich lagen alle vier Crain unterhalb der Ruhehütte im Wald auf der Lauer und warteten.

Langsam senkte sich die Dunkelheit der Nacht zwischen die Bäume.

*

Bis Nina dem seltsamen Mann folgte, war dieser bereits zwischen den Bäumen verschwunden. Da sie nicht sicher war, ob er den Weg beobachtete, gab sie sich den Anschein einer normalen Spaziergängerin, bis sie den Waldrand erreichte. An der Gabelung der Wege betrachtete sie kurz die dort aufgestellte Infotafel zur Siegfriedsage, ehe sie in den Wald hineinspähte. Sie versuchte, einen dunklen Umriss auszumachen, der zu dem Mann im Mantel passte. Er schien aber den schnellen Schritt, mit dem er den Feldweg entlanggegangen war, weiter eingehalten zu haben, denn sie konnte von ihm weder etwas sehen noch hören.

Sie schlug den kürzeren Weg ein, überzeugt, dass auch der Mann das getan hatte. Ihr unermüdliches morgendliches Joggen kam ihr jetzt zugute, denn der Weg war steil genug, um sie bei dem Tempo rasch aus der Puste zu bringen.

Als sie das obere Ende des Waldweges erreichte, atmete sie schneller als normal und hatte rote Wangen. Es wurde langsam dunkel und der Nebel machte alles klamm. Nina spielte mit dem Gedanken, zum Auto zurückzukehren und ihre seltsame Abenteuerexpedition zu vergessen, doch dann runzelte sie die Stirn und schüttelte den Kopf. Nein, sie würde das hier durchziehen, wohin auch immer das führte.

Sie folgte dem Schotterweg in der Richtung, die ein Schild angab, und als sie um eine Biegung kam, sah sie den unheimlichen Mann wieder vor sich. Schnell ging sie ein paar Schritte rückwärts und duckte sich hinter einen Holzstapel am Wegesrand, denn sie hatte gesehen, dass er stehengeblieben war. Sein Blick war auf eine abstrakt wirkende große Holzstatue gerichtet. Im nächsten Moment schüttelte er den Kopf und stieg daneben einige Stufen zu einem Weg hinauf, der tiefer in den Wald hinein führte.

Als sie ihn nicht mehr sehen konnte, kam Nina hinter dem Holzstapel hervor und folgte dem Mann langsam. Im Schatten der Bäume würde sie ihn kaum mehr finden, und sie musste vorsichtig sein, nicht einfach in ihn hinein zu laufen. Sie beschloss daher, nicht weiter auf dem Pfad zu bleiben, sondern ihr Glück im nicht allzu dichten Wald links davon zu versuchen. Im Fastdunkel suchte sie einen Weg zwischen Bäumen und Büschen hindurch, bis sie vor sich das leise Glucksen eines Baches hörte. Sie änderte ihre Richtung, um neben dem Bach entlang zu laufen. So hoffte sie, zur Quelle zu gelangen, die Davids und Rians Ziel gewesen war.

Inzwischen war es bereits so dunkel, dass sie den Boden kaum noch erkennen konnte. Vorsichtshalber hielt sie nun beim Gehen die Hände etwas vor sich ausgestreckt. Dass sie sich mit dem Lauf des Baches verschätzt hatte, bemerkte sie erst, als sie hörte, wie unter ihr Wasser über ein Hindernis plätscherte, und ihre Füße plötzlich feucht wurden. Mit leisem Fluchen sprang sie auf der anderen Seite aus dem Bachlauf heraus. In diesem Moment hörte sie ein leises Singen.

Sie zögerte, und ihr Blick pendelte zwischen der vermuteten Lage der Quelle und dem Gesang, der von links kam. Schließlich entschied sie sich für die Quelle und tastete sich in dieser Richtung weiter durch den Wald.

*

Rian saß bequem an einen Baum gelehnt und beobachtete interessiert die Geschehnisse. Im Schein der hohen Gartenfackeln, die rings um eine vergleichsweise ebene und freie Fläche hinter dem Unterstand aufgestellt waren, standen vier Frauen und zwei Männer in einem Kreis, die Augen geschlossen, die Arme leicht ausgebreitet, und sangen leise.

Die Frau von der Quelle ging mit einer Schale in diesem Kreis herum und besprühte jeden nacheinander drei Mal in verschiedener Höhe mit einer Flüssigkeit daraus. Hinter ihr schritt ein Mann mit einem Räuchergefäß ebenfalls die Runde ab und wehte jedem etwas Rauch gegen Gesicht und Körper.

»Glaubst du, sie hat das Quellwasser in der Schale?«, flüsterte Rian zu David, der neben ihr bäuchlings auf dem Waldboden lag, das Gesicht in die aufgestellten Hände gestützt.

»Hat sie«, antwortete er. »Ich spüre es genau.«

»Sie scheint tatsächlich eine Art magische Verbindung zwischen den Leuten zu weben, siehst du das?«

David nickte nur.

»Und ich dachte immer, die Sterblichen hätten alle Fähigkeiten in diesen Dingen verloren.«

Grog kratzte sich im Nacken. »Nicht alle«, brummte er leise. »Aber das da – ich glaube, das liegt zum Teil daran, dass David dieses Wasser berührt hat. Unsere Gegenwart verändert die Magie dieser Welt. Eure ganz besonders.«

Rian sah nachdenklich zu ihm. »Du meinst, selbst wenn sie sonst nichts bewirken mit dem, was sie tun, kann es sein, dass unsere Nähe es wirksam macht?«

Der Grogoch nickte.

»Aber da sie nicht genau wissen, was sie tun …«

»… kann das Ergebnis recht unkontrollierbar sein«, beendete David Rians Satz. Er drehte den Kopf zu ihr, seine Augen funkelten. »Das könnte ein interessantes Erlebnis werden. Diese Sterblichen fangen an, mich zu amüsieren.«

»Also gut, bleiben wir noch eine Weile. Aber denkt daran – sollten wir merken, dass die Dinge außer Kontrolle geraten, müssen wir darauf achten, dass die Menschen nicht durch unsere Gegenwart zu Schaden kommen. Und Pirx: Halt dich aus allem raus, was sie tun!«

Der Pixie verzog das Gesicht. »Ich hab doch gar nix gemacht!«

»Aber du hast an was gedacht, ich hab’s gesehen«, brummte Grog und schlug ihm leicht auf die Nasenspitze.

»Autsch!«, quietschte Pirx. »Das ist ungerecht! Was kann ich dafür, was ich denke?«

»Nichts, so lange du es beim Denken belässt.«

»Und wer sagt, dass ich was anderes gemacht hätte?«

»Die Erfahrung«, antwortete Grog.

»Scht!«, zischte Rian und gab Zeichen, leiser zu sein. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den Leuten zu.

*

Zwischen den Bäumen war es inzwischen völlig dunkel geworden. Nina atmete erleichtert auf, als sie vor sich endlich einen helleren Schimmer sah, der auf eine nahe Lichtung hindeutete. Die Hände vorsichtshalber weiterhin vor sich ausgestreckt stolperte sie darauf zu. Sie verschwendete inzwischen keinen Gedanken mehr an die Verfolgung des Fremden oder die Fragen, die sein Auftauchen aufgeworfen hatte, sondern wünschte sich nur noch weit weg von der Dunkelheit und Kälte des Waldes. Dennoch wagte sie nicht, die Taschenlampe an ihrem Handy anzuschalten.

Ihre nassen Füße fühlten sich klamm und fast taub an, die kalte Nebelfeuchte legte sich immer wieder über ihr Gesicht und sammelte sich in kleinen Tröpfchen auf ihren Wimpern, und ihre von Borke und Zweigen zerschundenen Hände konnte sie selbst durch Reiben kaum mehr aufwärmen.

Als sie um ein Gebüsch herum auf die Lichtung trat, wäre sie beinahe wieder in das Bett des Baches gestolpert. Sie ging in die Hocke und stützte ihre Hände auf dem Boden ab, um ihr Gleichgewicht zurückzugewinnen. Dann sah sie sich um.

Links konnte sie schwach Feuerschein sehen, von dort war der Gesang gekommen. Zweifelsohne feierten dort die Esoteriker ihr Samhain-Ritual.

Nina wandte der Helligkeit den Rücken zu und versuchte, irgendetwas in der Umgebung der Quelle zu erkennen. Doch außer ein paar unbeweglichen Umrissen von Dingen, die wohl Steine, Informationstafeln oder Sitzbänke waren, konnte sie nichts sehen. Kein Hinweis darauf, wo die Geschwister sein könnten, oder auch der Mann im Kapuzenmantel.

Nina wandte sich wieder in Richtung des Feuers um und erstarrte.

Zwischen sie und das Licht hatte sich ein dunkler Schatten geschoben.

*

Pirx trottete schmollend unter den Bäumen hindurch, zurück in Richtung der Quelle. Vielleicht würde er da wenigstens etwas Interessantes finden, denn das, was die Menschen trieben, fand er langweilig. Er verstand nicht, was Rian und David daran faszinierte. Jeder einzelne Elf der Crain hatte mehr Magie im kleinen Finger. Warum sollte man da zuschauen wollen?

Vielleicht konnte er sich ja von der anderen Seite her in den Unterstand schleichen und nachsehen, ob die Leute irgendwelche Sachen dort gelassen hatten. Er würde sie sich nur ansehen, ganz bestimmt. Vielleicht ein wenig damit herumspielen, aber dann alles wieder aufräumen, ehe die Menschen zurückkamen. Und natürlich würde er darauf achten, nichts kaputt zu machen.

Pirx blieb stehen und horchte auf, als er plötzlich das Brechen eines Zweigs und das Rascheln von Gebüsch hörte. Das war nicht von hinten gekommen, wo seine Freunde und die Feiernden waren, sondern von vorn. Eisiger Schreck fuhr ihm durch die Glieder.

Keinen Moment hatte er mehr an den Getreuen gedacht. War er etwa auch hier?

Unentschlossen stand Pirx geduckt im Schatten. Sollte er erst nachsehen, was sich dort im Wald bewegt hatte, oder lieber zurückgehen und die anderen warnen? Falls es etwas Harmloses gewesen war, würden sie ihn auslachen. Es war besser, erst einmal nachzusehen, als sie vielleicht unnötig zu beunruhigen.

Leise und vorsichtig bewegte er sich weiter in die Richtung, aus der das Knacken gekommen war. Er glaubte, eine Bewegung zwischen den Bäumen zu sehen, und hielt inne. Im nächsten Moment hörte er den raschen Flügelschlag einer Fledermaus und atmete auf.

»Vielleicht war das andere auch nur ein Tier«, sagte er leise zu sich selbst. »Ich mache mir ganz unnötig Sorgen.«

Wieder überlegte er, ob er zurückkehren sollte, doch die Entscheidung wurde ihm abgenommen. Etwas sprang hinter dem nächsten Baum hervor und warf sich auf ihn.

*

Nina kauerte sich tiefer hinunter und hoffte, nicht gesehen zu werden. Ein niedriger Busch stand halb zwischen ihr und dem Mann, dessen Umrisse sich ein Stück weiter den Weg entlang gegen den Feuerschein abzeichneten. Wenn er nicht sehr gute Augen hatte, konnte er sie vermutlich nicht unterscheiden, insbesondere da der Lichtschein nicht bis hierher fiel. Sie fragte sich, ob er schon zuvor dort gestanden hatte.

Obwohl sie gegen das Licht das Gesicht unter der Kapuze nicht erkennen und nicht sicher wissen konnte, wohin er schaute, hatte Nina das Gefühl, dass sein Blick wie ein Suchstrahl alles um ihn herum abtastete.

Er würde sie entdecken, dessen war sie sich schlagartig sicher. Er würde sie sehen, und das machte ihr Angst.

In diesem Moment erklang im Wald ein hohes Quietschen, gefolgt von einem seltsam quäkenden Schrei. Der Mann fuhr herum, und in der nächsten Sekunde war er verschwunden.

Nina atmete erleichtert auf. Zurück zum Auto, dachte sie. Kehr um.

Doch in diesem Moment hörte sie erneut einen Aufschrei, und dann einen Ruf, der sie zurückhielt. Sie kannte die Stimme, und sie konnte nicht einfach gehen. Es war David gewesen, der dort gerufen hatte.

*

Instinktiv hatte Pirx sich zusammengerollt, als der Angreifer sich auf ihn gestürzt hatte. Als spindeldürre Hände in seine aufgestellten Stacheln fuhren, hörte er einen Aufschrei, der ihm nur zu bekannt vorkam. Er rollte sich ein Stück über den Waldboden weg und richtete sich auf. Mit wütend funkelnden Augen musterte er den Kau.

»Du schon wieder!«, schimpfte er. »Verzieh dich und nimm deinen bösartigen Chef gleich mit!«

»Kannst du ihm selbst sagen«, antwortete sein Gegenüber, zeichnete mit einem Finger eine glühende Schlinge in die Luft und warf sie dann in Pirx’ Richtung.

Der Pixie duckte sich nach vorn unter der Schlinge weg und warf sich dem größeren Kau entgegen. Dieser sprang zur Seite, um den Stacheln zu entgehen, hüllte seine Finger in ein schützendes Glimmen und griff dann in seine Richtung.

Pirx dachte jedoch nicht daran, sich fassen zu lassen. Flink huschte er unter den zupackenden Händen weg und versuchte, hinter ihn zu gelangen.

Doch sein Gegner schien das beabsichtigte Manöver zu erahnen. Blitzschnell packte er den Pixie.

In Pirx blitzte das Bild von der Hündin Bella im Zug auf. Er grinste und biss herzhaft zu – ins dürre Bein.

Der Kau riss mit einem Aufheulen sein Bein hoch, und Pirx flog durch die Luft und wurde direkt ins nächste Gebüsch befördert. Einen Moment blieb er benommen zwischen den Zweigen hängen. Dann sah er, wie eine Gestalt im Kapuzenmantel auf den Kau zueilte, und das brachte ihn schnell wieder zur Besinnung. Er sprang nach hinten und nahm die Beine in die Hand. Von irgendwo vor sich hörte er David rufen: »Grog! Warte!« Im nächsten Augenblick rannte er in den haarigen Grogoch hinein, und beide fielen zu Boden.

»Der Getreue«, keuchte Pirx aufgeregt, während er sich wieder aufrappelte. »Ich habe ihn gesehen. Und dieses Ekel, der Kau, ist bei ihm.«

»Zurück zu den Kindern«, knurrte Grog und gab Pirx einen Stoß in die Richtung, aus der er gekommen war.

In diesem Moment hörten sie einen neuen Schrei, einen hohen und gellenden, der sofort wieder erstarb. Pirx fuhr herum und starrte Grog mit großen Augen an.

»Banshee«, flüsterte er.

Grog erwiderte Pirx’ Blick mit einem Ausdruck zwischen Angespanntheit und Trauer.

»Nein«, flüsterte er. »Das war keine Banshee. Ich weiß, wie die klingen. Das war ein Mensch

*

Als Nina David rufen hörte, waren alle Bedenken wieder vergessen. Da war dieser seltsame Mann, der die Geschwister zu verfolgen schien, und irgendwo da vorn war David, der womöglich keine Ahnung hatte, dass er in Gefahr war. Sie durfte nicht zulassen, dass er und Rian dem Fremden ahnungslos in die Arme liefen.

Sie sprang auf und rannte geduckt den Weg entlang Richtung Fackelschein. Irgendwo von dort war der Ruf gekommen, und da der Kapuzenträger zwischen den Bäumen sicherlich genauso mit der Dunkelheit zu kämpfen hatte wie sie, konnte sie ihn auf dem Pfad vielleicht überholen.

»David?«, rief sie halblaut, nachdem sie an der Stelle vorbei war, an der zuvor der Mann im Kapuzenmantel gestanden hatte. »David? Rian? Wo seid ihr?«

Nach zwanzig Metern war sie weit genug den leichten Hang hinauf und um die Ruhehütte herum gekommen, um die Leute zu sehen, die hier feierten. Offensichtlich hatten auch sie die Schreie gehört und daraufhin ihr Ritual unterbrochen. Die beiden, die Nina als das Hohepriesterpaar einschätzte, waren ein paar Schritte vor die anderen in Richtung Wald getreten, und drei weitere hielten je eine von den Gartenfackeln in Händen, mit denen sie den Platz erleuchtet hatten.

Der Hohepriester, ein bärtiger dunkelhaariger Mann mittleren Alters, hätte unter anderen Umständen wie ein seriöser Bankangestellter gewirkt. Doch in der silberbestickten schwarzen Robe und mit dem Schwert in der Hand, das normalerweise auf dem Altar lag, hatte er eine für Nina verblüffende Ausstrahlung von Macht. Ebenso die eher zierliche blonde Frau neben ihm, deren schwarze Robe blutrot eingefasst war, und in deren Hand ein schwarzer Dolch lag.

Für den Bruchteil einer Sekunde irritierte Nina die Andersartigkeit dieser Wahrnehmung im Vergleich zu den Ritualen, die sie damals mit ihrem Ex-Freund erlebt hatte. Doch dann kehrten ihre Gedanken wieder zu dem zurück, was sie hierher geführt hatte. Sie sah weder David noch Rian, also mussten sie woanders sein. Sie wandte sich wieder um und ging ein paar Schritte zurück, den Blick auf den Waldrand geheftet.

»Sie suchen die Zwillinge?«, erklang unvermittelt eine angenehm sonore Stimme hinter ihr. Sie wandte sich um, im Glauben, einer der Esoteriker sei ihr gefolgt.

»Ja. Wissen Sie vielleicht …« Das Lächeln auf ihrem Gesicht gefror, als ihr Blick auf die hünenhafte dunkle Gestalt fiel.

»Nein. Aber ich wüsste es allzu gern. Und ich denke, Sie könnten mir bei der Suche nützlich sein.«

Der Mann trat auf sie zu und packte sie an beiden Oberarmen, ehe sie reagieren konnte. Eine Aura der Kälte hüllte sie ein, und dort, wo er sie berührte, kam es ihr vor, als müsse ihr Blut zu Eis gefrieren. Sie schrie auf, schmerzhaft hoch selbst für ihre eigenen Ohren, und ihr Schrei wollte nicht enden. Er zog sie enger an sich und schloss seine Arme um sie, ohne dass sie sich auch nur mit einem Muskelzucken wehren konnte. Die Kälte kroch durch ihr Fleisch bis auf ihre Knochen, und die Luft in ihren Lungen verwandelte sich zu einem eisigen Hauch, der ihre Atmung erstarren und ihren Schrei ersterben ließ.

Ihr Blut schien ihr zu stocken, ihr Herzschlag verlangsamte sich, während sie die ganze Zeit hilflos in die Dunkelheit unter der Kapuze starrte. Nur für einen Moment glaubte sie, ein paar Augen hell aufglitzern zu sehen, ehe sie in ein eiskaltes Nichts sank.

*

»Grog! Warte!«

Rian sprang auf und legte ihrem Bruder eine Hand auf die Schulter, ehe er dem Grogoch hinterherlaufen konnte. »Nicht. Vielleicht ist es eine Falle.«

David runzelte die Stirn. »Willst du unsere Freunde im Stich lassen?«

»Nein«, antwortete Rian mit einem leichten Kopfschütteln, »aber du weißt, wie die Dinge in Paris beinahe ausgegangen wären. Wenn der Getreue uns gefolgt sein sollte, müssen wir uns gut überlegen, wie wir uns ihm nähern.«

David zog seine leicht gekrümmte Klinge und wollte gerade etwas erwidern, als sie den hohen, schnell ersterbenden Schrei hörten.

»Jetzt warte ich nicht mehr«, zischte David und spurtete in Richtung der Quelle los.

Nicht willens, ihren Bruder allein zu lassen, folgte Rian ihm notgedrungen. Sie bemerkte, dass sie nicht die Einzigen waren, die auf den Ursprung des Schreis zuhielten. Während sie zwischen den Bäumen hindurcheilten, rannten die Menschen, die sie beobachtet hatten, unter lauten Rufen den Weg entlang. Rian holte David ein und packte ihn am Pullover, um ihn zurückzuhalten. Sie deutete zu den Sterblichen.

»Lass sie vorgehen«, sagte sie leise. »Wir beobachten, was geschieht.«

Etwas schoss von der Seite her auf sie zu, und David fuhr herum. Es war Pirx, direkt gefolgt vom keuchenden Grog.

»Der Getreue und der Spindeldürre, der Kau …«, ächzte Pirx.

»Wisst ihr, wer geschrien hat?«, fragte der Prinz.

Grog senkte den Blick. »Ich denke, es war eine Sterbliche.«

»Eine Sterbliche? Aber wer würde denn …« David blinzelte kurz und fuhr dann wieder zum Weg herum.

»Nina«, murmelte Rian.

Schnell brachten sie die wenigen Bäume und Büsche hinter sich, die sie von der freien Fläche zwischen Quell und Ruhehütte trennten. Als sie die Gestalt im dunklen Kapuzenmantel sahen, die einen Körper in ihren Armen hielt, wollte David vorstürmen, doch die Esoteriker waren schneller.

Die Menschen hatten den Getreuen inzwischen entdeckt. Sie konnten aber weder den mit Leidensmiene dahinter am Boden liegenden Kau, noch den eben auf der anderen Seite aus dem Wald herbeieilenden Spriggans sehen, denn beide waren für Sterbliche ebenso unsichtbar wie Grog und Pirx.

»He, du!«, rief ein bärtiger Mann mit einem Schwert und trat einen Schritt vor die restliche Gruppe. »Lass das Mädchen los!«

Er hielt die Klinge in seiner Hand auf eine Art, als wisse er, wie man damit umging. Rian sah zugleich, dass das Band, das mit dem Wasser zwischen den Menschen gewoben worden war, anscheinend noch an Stärke gewonnen hatte. Es war eindeutig mit Elfenmagie durchtränkt, und so gab sie Grog innerlich mit seiner Vermutung recht – durch ihre Gegenwart und Davids Hilfe beim Wasserschöpfen war etwas auf diese Menschen übergesprungen, das ihnen half, sich gegenseitig zu stärken und zu schützen. Die Kraft war dabei vervielfacht worden.

Mehrere hielten Dolche in der Hand, dunkle zweischneidige Klingen, und sie wirkten, als wären sie bereit, sie einzusetzen. Rian hatte Zweifel, ob sie unter normalen Umständen so gehandelt hätten.

Der Getreue musterte die Versammlung der Sterblichen eingehend. Auch er schien all das zu bemerken, was Rian aufgefallen war, und entweder sah er eine echte Gefahr darin, oder er wollte es nicht darauf ankommen lassen.

Mit einer Kopfbewegung hielt er den Spriggans auf, der sich gerade neben ihm zu einem reißzahnbewehrten Ungeheuer aufzublasen begann, und nickte dann dem Mann mit dem Schwert zu.

»Wie Sie wünschen«, sagte er in einer Stimme, die unter anderen Umständen angenehm und sympathisch gewirkt hätte.

Im nächsten Moment öffnete er die Arme, und Ninas Körper sackte herab und schlug auf dem Weg auf. Aus derselben Bewegung heraus warf er den versammelten Menschen eine Kraftwelle entgegen, die sie zurücktaumeln ließ und kurzzeitig das Band zwischen ihnen zum Wabern brachte.

David spannte sich an, um den Getreuen anzuspringen, doch im nächsten Moment hob der vorderste Mann in der Menschengruppe das Schwert und schwang es zwei Mal herum. Es war, als würde er damit den imaginären Sturm abschneiden.

»Er flieht«, zischte David.

Der Getreue war einige Schritte zurückgetreten, und nun wandte er sich um und eilte davon, gefolgt von seinen Helfern. Menschen und Elfen sahen ihm unschlüssig hinterher, um sich dann nahezu zeitgleich zu dem auf dem Boden liegenden Körper in Bewegung zu setzen.

Obwohl sein Weg weiter war als der der Menschen, erreichte David Nina zuerst. Er ließ sich neben ihr auf die Knie fallen und hob ihren Kopf in seinen Schoß, während die Sterblichen sich in einem Halbkreis um beide sammelten und unsicher auf sie hinuntersahen.

»Nina. Nina, wach auf«, rief David leise mehrfach, tätschelte ihre Wangen und rieb ihre Hände. Als Rian ihn erreichte, sah er zu ihr auf. »Sie lebt, aber sie ist eiskalt.«

»Wir haben Decken oben, und heißen Tee«, sagte die kleine blonde Frau. »Karin, Melanie, kommt mit, wir holen die Sachen.«

»Wir sollten sie ins Krankenhaus bringen«, meinte der Schwertträger. Ihm schien erst jetzt bewusst zu werden, dass er die Waffe noch immer in der Hand hielt, und ließ sie ächzend sinken. »Ich dachte, das Ding könne man gar nicht führen«, murmelte er mit einem verwirrten Blick darauf.

David stand auf und hob Nina auf seine Arme. »Wir werden sie ins Krankenhaus bringen«, erklärte er.

Die Menschen sahen ihn skeptisch an, doch die rothaarige Frau nickte. »Ihr scheint ja Freunde von ihr zu sein. Was hat sie denn hier allein gemacht, und wer war der Kerl?«

Rian trat vor. Sie lächelte die Menschen gewinnend an. »Wir wissen selbst nichts. Nina war beim Auto geblieben, während wir losgezogen sind. Sie wollte dann wohl doch zu uns, und unterwegs hat der miese Kerl sie angegriffen.«

Der Mann starrte Rian an und fuhr sich dann mit einer Hand über das Gesicht. »Heute ist wirklich eine seltsame Nacht«, meinte er. Er schüttelte den Kopf und sah dann etwas hilflos zu den anderen Menschen.

Rian bemerkte, wie das Band zwischen ihnen langsam zerfiel, als habe die Anstrengung gegen den Getreuen es ausgetrocknet. Aus den krafterfüllten zusammengeschlossenen Menschen wurden plötzlich wieder einzelne Wesen ohne Verbindung, die sich blinzelnd und verunsichert gegenseitig ansahen. Vermutlich würden sie sich morgen nur noch an die Hälfte der Ereignisse dieser Nacht erinnern.

Die drei Frauen, die zur Hütte hinaufgegangen waren, kehrten zurück, zwei von ihnen beladen mit Wolldecken, die dritte mit einer Thermoskanne in der Hand.

»Danke«, sagte Rian und lächelte die Frauen warm an, während sie die Kanne entgegennahm. Die anderen halfen David, die bewusstlose Nina in die Decken einzuwickeln, ehe er sie wieder auf die Arme nahm.

»Und jetzt macht, so schnell ihr könnt«, meinte die Frau, für die David das Wasser geschöpft hatte. »Und möge die Göttin euch schützen!«

»Euch auch«, antwortete Rian und hob kurz die Hand, während David bereits mit langen Schritten loslief, gefolgt von dem niedergeschlagen wirkenden Grog und dem erschöpft hinterherstolpernden Pirx. »Welche Göttin auch immer ihr meint.«

»Rhiannon ist die Schutzpatronin unseres Kreises«, antwortete die Blonde und lächelte breit. »Stark, liebevoll und geduldig wie ein Pferd.«

Rian blinzelte kurz, dann nickte sie nur und eilte ihrem Bruder nach.

Rian trat das Gaspedal vollständig durch und raste rücksichtslos durch Kurven und über gerade Strecken. Wenn andere Autos auf ihrer Seite vor ihr auftauchten, blendete sie meist nur kurz auf, ehe sie an ihnen vorbeischoss. Sie musste nicht sehen, ob jemand entgegenkam, um es zu wissen, und das verschaffte ihr in diesem Moment einen unschätzbaren Vorteil.

Immer wieder wanderte ihr Blick im Rückspiegel zu David, der seitlich auf der Rückbank saß und Ninas Kopf auf seinem Schoß hielt. Er wirkte blass und starrte durch das gegenüberliegende Seitenfenster hinaus.

»Langsam wird es zur Gewohnheit, dass du deine Lebensenergie mit Menschenfrauen teilst«, stellte Rian fest.

Erneut schlingerte sie um eine Kurve und trat dann hart aufs Bremspedal, als sie ein Ortsschild vor sich auftauchen sah. Unwillig knurrte der im hinteren Fußraum hingekauerte Grog auf, als Ninas Körper gegen ihn rutschte. Pirx hatte sich schon beim Einsteigen neben ihm zusammengerollt, und Rian vermutete, dass der Pixie sich mit seinen Stacheln in der Fußmatte verankert hatte und schlief.

»Keine Gewohnheit, auf die ich großen Wert lege«, antwortete David in abwesend wirkendem Tonfall.

Rian kramte ohne hinzusehen in ihrer Tasche und zog die Karte von Worms heraus. Sie reichte sie nach hinten.

»Mach dich nützlich und finde heraus, wo ich langfahren muss. Das hier ist Heppenheim, und wenn ich mich richtig erinnere, sind wir bald da.«

Grogs haariger brauner Arm tauchte hinter Rians Rückenlehne auf und griff nach der Karte.

»Das mache besser ich«, brummte er. »David ist mit den Gedanken woanders.«

Erneut warf Rian einen besorgten Blick in den Rückspiegel. Es stimmte, David wirkte in stärkerem Maße abwesend, als dadurch zu erklären war, dass er mit seiner Energie gegen die Kälte in Ninas Körper ankämpfte. Aber jetzt war nicht die Zeit, sich darüber zu wundern.

Schweigend rasten sie weiter durch die Nacht, bis sie Worms erreichten. Hier krabbelte Grog an einer Ampel auf den Beifahrersitz. Rian half ihm, sich notdürftig anzuschnallen, und er dirigierte sie dann anhand der Karte zu einem auf der anderen Seite des Stadtkerns gelegenen Krankenhaus. Rian fuhr ununterbrochen hupend und aufblendend bis vor die Tür, und als David ausstieg und Nina aus dem Wagen hob, kam ihnen bereits jemand vom Klinikpersonal entgegengerannt. Sie wurden direkt in ein Behandlungszimmer dirigiert, wo David Nina auf einer Untersuchungsliege ablegte. Dann scheuchte eine Schwester die beiden aus dem Raum und zur Aufnahme, während ein Arzt begann, Nina zu untersuchen.

Am Empfang gaben sie Ninas Daten an, die sie dem Ausweis aus ihrer Handtasche entnehmen konnten, hinterließen ihre Namen und den ihres Hotels. Dann schickte die Schwester sie ins Wartezimmer.

Etwas später kam der Arzt, der Nina untersucht hatte, zu ihnen. Er blieb vor ihnen stehen, strich sich sein kurzgeschnittenes dunkelblondes Haar zurück und musterte die Geschwister mit einem etwas ratlos wirkenden Blick seiner braunen Augen.

»Wie geht es Nina?«, fragte Rian sofort.

»Den Umständen entsprechend gut, wie man so sagt«, antwortete der Mann. »Was eigentlich ein Wunder ist, denn sie ist dermaßen unterkühlt, wie ich es noch nie zuvor gesehen habe. Als wäre sie stundenlang in einem Gefrierhaus gewesen. Dennoch hat sie Glück gehabt, es wird keine bleibenden Schäden geben.« Er musterte Rian und David scharf. »Wie konnte das passieren?«

»Um ehrlich zu sein, wir wissen es nicht«, antwortete Rian. »Wir haben sie so gefunden, im Wald, nahe bei einem Bach. Wir sind Freunde von ihr, und wir haben gemeinsam einen Ausflug in den Odenwald gemacht. Sie war eigentlich im Auto geblieben, als mein Bruder und ich einen langen Spaziergang unternahmen. Als wir zurückgingen, fanden wir sie plötzlich am Weg.«

Der Arzt kniff etwas die Augen zusammen. »Wir werden sie gründlich untersuchen, um herauszufinden, was passiert ist. Sie müssen verstehen, dass wir die Polizei hinzuziehen werden, falls sich ein Verdacht auf eine Straftat ergibt.«

»Sicher.« Rian nickte.

»Die Schwester sagt, Sie haben eine Adresse im Hotel angegeben, und Sie klingen nicht, als wären Sie von hier. Darf ich Ihre Ausweise sehen?«

Rian nickte und zog zwei der Zettel aus ihrer Tasche, auf denen Nina Notizen für sie gemacht hatte. Sie strich kurz darüber.

»Wir sind David und Rian Bonet«, sagte sie. »Wir kommen aus Frankreich, aus Paris. Die Adresse auf den Ausweisen stimmt.«

Der Arzt musterte die Zettel kurz und nickte dann. Er glaubte, völlig normale französische Ausweise in der Hand zu halten.

»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Kopien mache?«

»Nein, das ist schon in Ordnung.«

Der Arzt verschwand, kam nach einer Weile wieder und gab Rian die Zettel zurück.

»So. Ich denke, Sie beiden sollten jetzt in Ihr Hotel zurückgehen. Frau Eberts ist bei uns in guten Händen, und zumindest Ihr Bruder sieht so aus, als könne er selbst ein wenig Ruhe vertragen.«

Rian erhob sich und gab ihm lächelnd die Hand. »Ich danke Ihnen, Doktor …«

»Haag. Tilmann Haag.«

»Dankeschön, Doktor Haag. Geben Sie uns Bescheid, wenn Nina aufwacht?«

»Natürlich.« Er nahm Rians Hand und drückte sie einmal fest. »Und kommen Sie zu den Besuchszeiten wieder vorbei.«

Rian nickte, David stand ebenfalls auf. Schweigend verließen die Geschwister das Krankenhaus und gingen zum Auto.

Die Fahrt zurück zum Hotel verlief bis auf den kurzen Bericht an Grog und Pirx über Ninas Zustand in völliger Stille. Sie ließen das Auto vor der Tür stehen. Rian ging mit den Feenkobolden direkt nach oben, während David einen Abstecher zur Bar machte. Rian warf sich seufzend auf die Couch, schaltete den Fernseher an und wenig später wieder aus, und starrte dann Pirx und Grog an, die auf dem anderen Sofa saßen und Trübsal bliesen.

»Und was machen wir jetzt?«, fragte sie.

Grog hob die Schultern und schüttelte den Kopf. In diesem Moment kam David. Er hielt mehrere Flaschen in den Händen, schob die Tür hinter sich mit dem Fuß zu und blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Dann kam er in den Raum hinein und stellte die Flaschen auf dem Couchtisch ab. Grog sprang auf und holte Gläser aus dem Schrank neben der Minibar, dankbar dafür, etwas zu tun zu haben.

»Einen Brunnen haben wir noch auf der Liste«, sagte Rian und beobachtete David dabei, wie er eine Flasche öffnete und den goldbraunen Inhalt in ein Glas halbhoch einschenkte. »Wir sollten ihn morgen anschauen.«

David lachte auf, ließ sich neben Rian auf die Couch fallen und nahm sein Glas.

»Sechs so genannte Siegfriedbrunnen haben wir angeschaut, und an keinem haben wir auch nur den kleinsten Hinweis auf den Quell des Lebens gefunden. Es ist uns lediglich gelungen, fast dem Getreuen und seinen Helfern über die Füße zu stolpern, und dabei eine unschuldige Menschenfrau in Gefahr zu bringen, die nicht die leiseste Ahnung davon hat, worum es geht.«

»Ich hatte dich gewarnt«, sagte Rian und griff nach einer Flasche mit Schokoladenlikör. »Obwohl es mir in diesem Fall lieber gewesen wäre, nicht Recht zu haben.«

David stürzte den Inhalt seines Glases herunter, lehnte sich dann in die Couch zurück und schloss die Augen.

»Wir werden nie nach Hause zurückgelangen«, flüsterte er. »Es ist vorbei.«

»Nein!«, fauchte Rian. »So schnell gebe ich nicht auf. Ich fahre morgen zu diesem letzten Brunnen, mit dir oder ohne dich, und wenn ich dort nichts herausfinden sollte, suche ich so lange weiter, bis ich auf Hinweise stoße. Und Pirx und Grog werden mir helfen!«

Ihre beiden Freunde nickten heftig, und Pirx schenkte Rian ein vorsichtiges Lächeln.

»Macht ihr doch, was ihr wollt«, sagte David und drehte den Kopf zur Seite. »Aber lasst mich in Ruhe damit.«

»Wie kannst du dich nur so hängen lassen? Du bist eine Schande für unser königliches Geblüt!«, erregte Rian sich. »Du hast weniger Mumm in dir als die Menschen, die uns geholfen haben! Diese Feiernden, Nina, Robert und Nadja – sie kneifen nicht gleich den Schwanz ein, wenn es mal Schwierigkeiten gibt! Und dabei haben sie mit unseren Problemen nicht das Geringste zu tun!«

Davids Kopf ruckte hoch, und er funkelte seine Schwester an. »Halt einfach den Mund, ja? Halt den Mund und lass mich in Ruhe.« Er stand auf, nahm zwei Flaschen, ging in sein Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.

Verwirrt starrte Rian ihm hinterher. »So habe ich ihn noch nie erlebt«, sagte sie mit einem ratlosen Kopfschütteln. »Was ich von ihm fühle, ist unglaublich verwirrend. Nina wird sich doch wieder erholen.«

Grog räusperte sich. »Ich denke, da steckt mehr dahinter«, meinte er.

Rian trank einen Schluck und senkte dann den Kopf. »Glaubst du denn noch daran, dass wir etwas finden werden, Grog?«

Der Grogoch wiegte den Kopf und hob die Hände. »Wenn nicht hier, dann anderswo. Einfach weil wir etwas finden müssen. Darum glaube ich daran.«

Rian nickte nachdenklich. »So ist es. Und weil ich lieber irgendetwas tu als gar nichts, werde ich nicht aufhören, nach Hinweisen zu suchen. Wie sagen die Menschen so schön: Die Hoffnung stirbt zuletzt.« Sie schwenkte den Likör im Glas und trank dann aus.

*

Fanmórs Gesicht hatte erneut eine Röte angenommen, die den Kopf des Riesen größer erscheinen ließ, als er ohnehin schon war. Dennoch ließ er außer einem tiefen Atemzug, der die Halle durchströmte und an allen Gewändern zerrte, keine weiteren Anzeichen seines Zorns hervortreten.

»Es lässt sich sehr gut mit meiner Gerechtigkeit vereinbaren, einen Verbrecher seine Strafe zur Gänze erleiden zu lassen«, sagte er mit zusammengekniffenen Augen. »Bandorchu hat sich ihr Schicksal erwählt, als sie ihren Aufstand begann, und sie wusste, was sie erwartete. Was geschehen ist, ist unabänderlich. So ist das Gesetz, und so ist unsere Welt. Selbst wenn ich dem irgendwelche Bedeutung beimessen würde, ob sie sich geändert hat, und selbst wenn ich sie, aus welchen Gründen auch immer, von dort zurückholen wollte: Es gibt für die Verbannten keine Rückkehr aus dem Schattenland. Jedes Tor dorthin ist für sie nur in eine Richtung zu durchschreiten. Und damit ist diese Frage ein für alle Mal geklärt.«

Alebin starrte hinauf in Fanmórs Gesicht. Ein eisiger Schauer überlief seinen Rücken.

»Ihr habt Gwynbaen ohne jede Möglichkeit der Rückkehr verbannt? Auf alle Zeiten? Das kann ich nicht glauben. Nicht einmal ein mächtiger Uralter wie Ihr sollte die Rückkehr ermöglichen können?«

Fanmór machte eine wegwischende Handbewegung. »Ich habe Bandorchu verbannt, nicht Gwynbaen, und die Strafe ist angemessen. Wäre sie noch Gwynbaen gewesen, wäre all das nicht geschehen, und wir stünden vielleicht jetzt nicht vor diesen neuen Schwierigkeiten.«

Der Herrscher beugte sich vor, die Hände auf die Armlehnen seines Sessels gestützt und funkelte Alebin an. »Und das ist das Ende dieses Gesprächs, Alebin, und wenn dir dein Leben und deine Gesundheit lieb sind, rate ich dir, mir so lange fern zu bleiben, bis du entweder einsiehst, welchen Unsinn du vor mir geredet hast, oder bereit bist, dich wie jeder gute Elf meines Reiches meinem Willen zu beugen, selbst wenn meine Handlungen nicht deine Zustimmung finden. Und jetzt – geh mir aus den Augen, ehe ich mich vergesse!« Fanmór ballte seine Hände zu Fäusten, während er die letzten Worte hervorstieß.

Hastig stand Alebin auf und raffte sein Gewand um sich. Mehr stolpernd als gehend trat er einige Schritte zurück, dann fuhr er ohne eine letzte Verbeugung herum und floh aus dem Saal. Hinter ihm setzte in den Reihen der Höflinge hämisches Flüstern und Wispern ein.

Meidling, hörte er sie sagen. Meidling, Meidling, Meidling.

Elfenzeit 2: Schattendrache

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