Читать книгу Elfenzeit 2: Schattendrache - Verena Themsen, Uschi Zietsch - Страница 11
4.
Das Leben eines Toten
ОглавлениеAm nächsten Morgen fuhr Rian als Erstes zum Krankenhaus. Die Schwester am Empfang teilte ihr mit, dass Nina noch auf der Intensivstation sei und nicht besucht werden könne. Sie sei aber stabil. Rian fragte nach Doktor Haag, doch dessen Schicht hatte noch nicht begonnen, und der im Moment zuständige Arzt hatte keine Zeit, mit ihr zu reden.
Unverrichteter Dinge kehrte die Elfe ins Hotel zurück, um Grog und Pirx abzuholen. David ließ sich nicht blicken. Anhand der detailgenauen Karte der Region fanden die drei in Heppenheim mühelos den Siegfriedbrunnen. Wie von Rian nicht anders erwartet, war aber auch an diesem Brunnen nichts Besonderes, außer dass er gemeinsam mit den umgebenden Bäumen eine unerwartet romantische und friedliche Ecke zwischen großen Gewerbehallen und Hochhäusern darstellte. Im Gegensatz zu allen anderen Brunnen, die sie besucht hatten, war in diesem nicht einmal Wasser. Stattdessen hatten Leute trotz des Abdeckgitters Müll hineingeworfen, und feuchtes altes Laub moderte darin vor sich hin.
Rian hatte keine Lust, ins Hotel zurückzukehren. Andererseits fehlte ihr jede Idee, wie es nun weitergehen sollte, und zum Nachdenken brauchte sie eine andere Umgebung. Also fuhr sie erneut in den Odenwald, stellte an einem Wanderparkplatz das Auto ab und ging den nächstbesten Waldweg hinunter. Grog und Pirx folgten ihr wie Schatten, offensichtlich besorgt, aber dennoch still, was insbesondere für Pirx verwunderlich war.
Immer tiefer führte der Weg in den hier von Nadelbäumen beherrschten Wald. Rian sog die kühle nebelschwangere Luft in sich hinein und blieb schließlich stehen. Nach einem suchenden Rundumblick ging sie zu einem Baumstumpf und setzte sich darauf. Ihr Blick wanderte zwischen den Bäumen hindurch ins Nichts. Grog hockte abwartend vor ihr auf dem Waldweg, während Pirx hinter ihr mit lautem Rascheln durch das alte Laub huschte.
»So ist die Lage«, fing Rian an, »wir sind einer kalten Spur gefolgt. Das heißt aber nicht, dass es von Anfang an verkehrt war, hierher zu kommen. Vielleicht haben wir nur unsere Suche falsch angepackt.«
Sie sah Grog an, und der nickte langsam, ohne den Eindruck zu erwecken, dass er verstanden hatte, was sie meinte. Sie seufzte kurz und spielte mit ihrem langen Strassohrring.
»Wir haben uns auf das Motiv des Bildes konzentriert«, erklärte sie. »Ich frage mich langsam, ob das richtig war. Immerhin war es die Magie auf dem Bild, die uns zuerst darauf aufmerksam machte, und nicht das, was es zeigte. Vielleicht hätten wir eher darüber nachdenken sollen, wer diese Magie gewirkt hat, und wann, und warum?«
»Wäre zumindest ein neuer Ansatz, der sinnvoll erscheint«, antwortete Grog.
Rian nickte eifrig. »Es ist doch so: Wir haben gestern gesehen, dass diese Quellen Menschen anziehen, die sich mit Magie beschäftigen. Deshalb wäre der Quell der Unsterblichkeit längst entdeckt worden, so gerne David auch annimmt, alle Sterblichen wären in dieser Beziehung blind und dumm. Ich bin davon überzeugt, dass Menschen, die so sind wie Nadja, also Grenzgänger oder eben diejenigen, die sich intensiv damit beschäftigen und empfänglich für Magie sind, das Geheimnis aufdecken könnten. Um die Spur wieder aufzunehmen, sollten wir daher jetzt zum Ursprung des Bildes gehen. Wer hat es gemalt? Wie kam die Magie hinein?«
Rian sprang auf und wanderte vor dem Baumstumpf auf und ab. »Ich erinnere mich, dass in der Louvre-Broschüre stand, die Wanderausstellung sei hier in Deutschland zusammengestellt worden«, führte sie ihre Gedanken fort. »Wir könnten in dem Museum, wo Nina arbeitet, nachfragen, ob sie darin involviert waren.« Sie blieb stehen und seufzte. »Alle Informationen über das Bild sind in meiner Tasche. Und die liegt im Zug.«
»Vielleicht kann man sie ja wiederbekommen?«, schlug Grog vor. »An der Endstation werden sie bestimmt alles eingesammelt haben, was liegengeblieben ist.«
Rian nickte. »Du hast Recht. Ich werde mich im Hotel erkundigen, was man in so einem Fall macht. Pirx, komm her, wir fahren zurück!«
Der Pixie stapfte heran, die Arme voller Eicheln und Esskastanien. »Hat jemand von euch Hunger?«
Rian sah ihn an und lachte. »Das sieht lecker aus. Nimm es mit.«
Sie fuhren zurück nach Worms, und Rian hielt am Nibelungenmuseum an. Sie erfuhr, dass man in der Klinik angerufen habe. Nina war erwacht, aber ein Besuch kam noch nicht in Frage.
Als Nächstes fragte Rian wegen der Wanderausstellung nach, doch die Angestellten schüttelten nur die Köpfe. Die gesamte Ausstellung sei von einem Privatmann in Eigenregie erstellt worden. Die Auswahl und Darstellung der Exponate zeuge zwar von einer gewissen Sachkenntnis, aber dennoch schienen die Leute der Nibelungengesellschaft nicht rückhaltlos begeistert davon zu sein, da das Thema ihrer Meinung nach in der Ausstellung zu reißerisch und medienorientiert selektiert worden wäre.
»Ich denke, jetzt kommen wir der Sache näher«, sagte die Elfe unterwegs zu ihren Begleitern. »Wir müssen den Privatmann ausfindig machen, er kann uns mehr über das Bild sagen.«
Zurück im Hotel, bat Rian um Unterstützung wegen des verlorenen Gepäcks, und der Rezeptionist versprach, sich darum zu kümmern.
Als Rian, Grog und Pirx in die Suite zurückkehrten, fanden sie die typische Unordnung vor, die David schon in Paris immer erzeugt hatte, wenn er sich nicht aufraffen konnte, die Wohnung zu verlassen. Die Tür zu seinem Zimmer war geschlossen, doch Rian spürte, dass er dort war. Während Grog sich unterstützt von Pirx ans Aufräumen machte, warf Rian die Tür zum Zimmer ihres Bruders auf, zog die halb heruntergelassene Jalousie hoch, um das letzte Licht des Abends hereinzulassen, und ignorierte das unwillige Stöhnen Davids, der im Morgenmantel auf dem Bett lag. Sie setzte sich neben ihn und erzählte ihm von ihrem Plan.
David legte sich das Kissen über den Kopf. »Komm wieder, wenn du etwas wirklich Neues hast«, kam es dumpf darunter hervor. »Bis dahin lass mich in Ruhe.«
»Nina ist wieder wach.«
Rian sah am Heben und Senken seines Brustkorbs, dass David seufzte. Er schob das Kissen beiseite, drehte sich jedoch nicht zu ihr um. »Ich weiß. Dein Doktor Haag hat angerufen. Er hofft übrigens, dass wir – und ich betone wir – Nina bald besuchen kommen. Von Polizei und so hat er kein Wort mehr gesagt.«
Das Telefon klingelte im Nebenraum, und Rian ging hinüber und nahm ab. Der Rezeptionist teilte ihr mit, dass die von ihr beschriebenen Taschen als Fundsachen registriert worden waren und zum Wormser Bahnhof geschickt würden. Rian dankte ihm und legte auf.
Hinter sich hörte sie, wie die Jalousie in Davids Zimmer herunterratterte und die Tür zugeschoben wurde.
Den nächsten Tag verbrachte David vor dem Fernseher, was man wohl als Verbesserung betrachten musste. Rian fragte sich, ob tatsächlich, wie Grog behauptet hatte, mehr dahinter steckte als nur sein ewiges Heimweh und der Pessimismus, dass er so gar keine Energie mehr aufbrachte. Immerhin ging er an diesem Abend mit ihr hinunter in das Restaurant und schlug dem Barmann ein paar neue Rezepte vor. Schnell bekamen die Gäste mit, dass etwas Besonderes geboten wurde, und wenig später hatte sich eine Traube an der Bar gebildet. David blühte sichtlich auf, und Rian war es zufrieden, in ihrer Ecke zu sitzen und Pläne zu schmieden.
Rian schlug begeistert die Hände zusammen, als sie das Bahnhofsgebäude sah. »Schaut mal, das kommt mir vor wie eine Mischung aus dem Dom und einem Schlösschen«, stellte sie fest. »Alles sehr – wie nennen sie es? – mittelalterlich.«
Grog musterte das Gebäude und nickte. »Das hier vorn sieht aus wie eine Kapelle aus der Zeit, als sie noch bauten wie die Römer«, meinte er und deutete auf den ihnen am nächsten liegenden Teil des Bauwerks. Der Eingang war unter einem Spitzgiebel gelegen und von Säulen und Rundbögen eingefasst. Darüber war ein Relief in den Stein gearbeitet. Auch die schmalen Fenster hatten zum Teil Rundbögen. Auf der Spitze des Walmdaches prangte eine Krone, und das Relief zeigte keine religiöse Szene, sondern einen Herrscher mit seinem Hofstaat.
»Scheint, als hätte der Erbauer dieses Abschnittes eher einem König als seinem Gott huldigen wollen«, meinte Rian und las das Schild über dem Eingang.
Grog deutete auf den Mittelteil des Gebäudes. »Das sieht vertraut aus, mit dem Treppenturm und dem Fachwerküberbau. Schau, unten haben sie auch die Fenster mit den runden Bögen drin.« Er klang fast ein wenig wehmütig.
»Da hinten ist der Eingang zum Hauptgebäude.« Rian zeigte auf den letzten Gebäudeabschnitt. Er war im Gegensatz zu den anderen Teilen vollständig aus Sandstein gebaut, und unter einem Spitzgiebeldach wies die Front einen hohen portalartigen Rundbogen auf, der vollständig verglast war. Unter einer riesigen Uhr war ein modernes Vordach angebaut, unter dem mehrere Stufen zu einer Reihe Schiebetüren hinaufführten.
Innen war kaum mehr ein Unterschied zu jeder anderen Bahnhofsvorhalle zu erkennen. Ticketautomaten standen in der Mitte, Backwaren und Zeitschriften wurden verkauft, und hinten waren Infoschalter.
Rian ging dorthin, und ein freundlicher Mitarbeiter führte sie zur Gepäckaufbewahrungsstelle. Dort musste sie sich ausweisen, wofür sie erneut einen von Ninas Notizzetteln nutzte, und bekam dann ohne weitere Umstände die beiden Taschen ausgehändigt. Anschließend zog sie sich auf eine Sitzbank zurück, um die Broschüre hervorzuziehen. Grog setzte sich neben sie, während Pirx durch die Bahnhofshalle streunte.
»Hier«, sagte Rian schließlich, schlug die Broschüre um und deutete auf ein Foto des Gemäldes, das Nadja und Robert sich im Louvre angesehen hatten. »Das ist das Bild. Hier steht, es wurde entdeckt, als die Überreste einer inzwischen mit einer Kirche überbauten merowingischen Königspfalz, was immer das auch heißen mag, untersucht wurden. Oh, schau, die liegt in der Nähe von Worms!« Rian sah auf und lächelte Grog an. »Wir haben eine neue Spur.«
Grog kratzte sich am Bauch und schaute etwas skeptisch. »Wenn ich daran denke, wie kompliziert es allein war, diese Brunnen ausfindig zu machen, wäre ich mir da nicht so sicher.«
»Ach was, sei nicht so ein Miesepeter. Los geht’s!«
Grog sah sich um. »Wo ist nur Pirx wieder?«, brummelte er, stand mit einem kleinen Hüpfer auf und ging Richtung Bahnhofshalle. Rian nahm die Taschen und folgte Grog, der schon hinter den Türen verschwunden war. Als sie die Bahnhofshalle erreichte, sah sie ihn vor einem Plakat stehen, das Werbung für Vergnügungsfahrten auf dem Rhein machte, und steuerte zu ihm.
»Siehst du Pirx irgendwo?«, fragte sie ihn leise, während sie harmlos herumschaute. Es waren zwar nur wenige Menschen hier, doch sie wollte nicht unbedingt als jemand auffallen, der Selbstgespräche führte.
Grog antwortete nicht, sondern deutete kopfschüttelnd auf die Werbung. »Das kann nicht sein. Der ist tot«, flüsterte er.
Rian schaute auf das Plakat. Sie las den Werbetext, der Ausflüge zu verschiedenen touristischen Zielen, Rundfahrten sowie Nachtfahrten bewarb, und ließ ihren Blick dann über die Bilder schweifen, die ein Ausflugsschiff in verschiedenen lieblichen Landschaften und vor reizvollen Stadtkulissen zeigten.
»Was meinst du?«
Grog trat näher an das Plakat heran und zeigte auf die rechte untere Ecke. Dort war das Foto eines Mannes mit schwarzem Lockenhaar und einem sympathischen Lächeln zu sehen, der mit seinem Arm einladend auf das hinter ihm liegende Schiff wies. »Entdecken Sie die Schätze des Rheins mit Reginald Albrechts Rheinschifffahrt«, las Rian den Begleittext vor. Erneut musterte sie das Bild. »Reginald Albrecht?«
In diesem Moment tauchte Pirx neben ihr auf, in einer Hand ein klebriges Backwerk, das er nur aus der Auslage des Bäckers stibitzt haben konnte. Er zupfte an Rians Rock, hielt ihr das süße Stückchen einladend entgegen und sah dann ebenfalls auf das Foto, auf das immer noch Grogs Finger zeigte. Er riss die Augen auf.
»He, ist der nicht tot?«, sagte er. »Das ist doch einer der Drachenbrüder, oder, Grog?«
»Was redest du da?«, stieß Rian konsterniert hervor.
Der Grogoch nickte langsam. »Ja, Pirx. Der hier starb als Letzter. Zumindest dachten wir alle bis jetzt, er sei tot. Das da«, er tippte auf das Foto, »ist zweifelsohne Regin, den die Menschen wegen seiner Herkunft Alberich, den Zwerg, den Schwarzalben, nannten!«
»Willst du diesen Reginald Albrecht wirklich aufsuchen?«, fragte David, nachdem er über alles in Kenntnis gesetzt worden war.
Rian ließ sich neben ihn auf die Couch fallen und nahm eine Praline aus der Schachtel auf dem Tisch. »Er ist unsere beste Spur. Ein Elf, der seinen Tod nur vorgetäuscht hat und sich seither in der Menschenwelt versteckt. Der weiß einiges, darauf wette ich.«
David runzelte die Stirn. Er schien nicht überzeugt. »Warum versteckt er sich ausgerechnet hier? An so einem … langweiligen Ort?«
Grog räusperte sich. »Wenn die Drachenbrüder sich um irgendetwas bemüht haben, dann ging es immer um etwas Wertvolles oder um Macht. Oder aber um beides, denn das eine führt ja oft genug zum anderen.«
Rian dachte kurz nach und schnippte mit den Fingern. »Der Schatz! Dieser Schatz, den Siegfried angeblich besessen hat und den Hagen nach dessen Tod versteckte. Das hat Nadja mir erzählt.«
Erneut nickte Grog.
»Also gut«, meinte David. »Wir wissen über diesen Schatz – nichts, also werden wir ihm dabei nicht helfen können, als Gegenleistung für eine Gefälligkeit. Warum sollte er uns helfen, wenn wir ihm nichts zu bieten haben? Und vor allem – warum sollten wir ihm trauen?«
Rian winkte ab. »Er ist vielleicht genauso vom Verlust der Unsterblichkeit betroffen wie wir. Und vermutlich kann er nach dieser langen Zeit in der Welt der Sterblichen ebenso wenig zurückkehren wie unser Freund Talamand in Paris, und wird daher genauso ausgehungert nach elfischer Gesellschaft sein. Er wird froh sein, wenn er uns helfen kann – spätestens, wenn ich mit ihm gesprochen habe.« Sie zwinkerte.
David zuckte mit den Achseln und strich sein Haar zurück. »Wie du meinst. Es kann nicht schaden, mit ihm zu reden, da gebe ich dir Recht. Ich glaube aber nicht, dass er uns weiterhelfen kann.«
»Oder will«, mahnte Grog. »Ich würde ihm niemals trauen.«
»Welchem Elfen kann man schon trauen?«, erwiderte Rian lachend. »Wir sind immer auf der Hut, Grog. Mach dir keine Sorgen.«
Rian rief die Nummer vom Plakat an. Eine Frau mit angenehm modulierter Stimme wollte sie zuerst abwimmeln. Rian ließ daraufhin ihren Elfenzauber wirken und bat darum, Herrn Albrecht auszurichten, dass »Rian und David Bonet ihn betreffs Earrach« zu sprechen wünschten, und diktierte ihr die Telefonnummer der Suite.
»Einfacher wäre es, wenn Sie mir Ihre Handynummer geben würden.«
»Äh, ja, nur leider ist mein Handy gestohlen worden«, improvisierte Rian.
Die Frau ließ sich E-a-r-r-a-c-h buchstabieren und versprach dann, die Nachricht weiterzugeben.
»Wir brauchen Handys!«, meinte Rian, nachdem sie der Frau gedankt und aufgelegt hatte. »Nadja hatte es schon erwähnt. Und da ich nun Autofahren kann, traue ich mir sowas auch zu. Kann ja nicht schwerer sein als so eine Computermaschine.«
Pirx stimmte zu. »Das scheint so etwas wie ein neuer Gott für die Menschen zu sein, mit großer Macht. Egal wo, immer starren sie drauf oder halten es wie einen Toast, in den sie beißen wollen.«
Keiner der vier war überrascht, als der Rückruf bereits nach einer halben Stunde kam. Sie hatten Recht gehabt mit ihrer Vermutung. Elfen im Exil würden sich die Gelegenheit, mit Elfen aus der Heimatwelt zu sprechen, nicht entgehen lassen. Herr Albrecht ließ wissen, dass er die Geschwister Bonet persönlich zum Abendessen abholen würde.
Rian bereitete sich besonders sorgfältig darauf vor. Es war ihr daran gelegen, Eindruck auf Alberich zu machen – nicht nur, weil sie seine Hilfe brauchten, sondern auch, weil das Foto auf dem Plakat sie sofort für ihn eingenommen hatte. Ihm stand der ganze Reichtum elfischen Charmes ins Gesicht geschrieben, eines Charmes, den sie seit einiger Zeit hatte missen müssen. Talamand war zwar unbestreitbar ein Elf, doch seine Ausstrahlung hatte durch den langen Aufenthalt unter den Sterblichen gelitten. Alberichs Foto wirkte anders.
Pünktlich um sieben Uhr kam der Anruf vom Empfang, dass ein Herr da wäre, der angab, mit ihnen verabredet zu sein. Rian und David waren übereingekommen, Pirx und Grog zu diesem Treffen nicht mitzunehmen. So hatten sie im Notfall Rückendeckung.
Als die Aufzugtür sich im Erdgeschoss öffnete, drehte sich ein schlanker Mann in dunkelgrünem Anzug und langem schwarzen Mantel über dem linken Arm zu ihnen um. Seine Augen blitzten auf, und er blies eine schwarze Locke aus dem Gesicht. Mit der freien Hand rückte er das silberne Medaillon indianischer Machart zurecht, das anstatt einer Krawatte an perlenbesetzten schwarzen Lederbändern um den Kragen seines blütenweißen Hemds hing.
Rian fand, dass er noch besser aussah als auf dem Bild. Allerdings war er kleiner, als sie ihn sich vorgestellt hatte. Solange sie auf ihren hochhackigen Schuhen stand, würde er zu ihr aufsehen müssen. Ein Zwerg besonderer Art eben.
Der Mann kam auf sie zu, als sie aus dem Aufzug in die Eingangshalle traten.
»Rian und David Bonet, welche Freude«, sagte er lächelnd und streckte die Hand aus. »Ich bin Reginald Albrecht.«
Rian erwiderte sein Lächeln mit ihrem gewinnendsten Strahlen. »Freut mich ebenfalls, Herr Albrecht, dass Sie so schnell Zeit für uns gefunden haben.«
Sie gab ihm ihre Hand, doch anstatt sie zu drücken, hob er sie an und hauchte einen Kuss darüber. Sein Blick blieb an den Ringen hängen, die sie an jedem Finger trug.
»Schöne Stücke«, bemerkte er. »Leider ist nichts an ihnen echt. Aber gegen die echte Schönheit dieser Trägerin würde ohnehin jeder Schmuck verblassen.« Er blitzte sie noch einmal aus dunklen Augen an, ehe er seine und ihre Hand wieder sinken ließ und die Berührung eine Spur langsamer löste als es sich gehörte. Rian spürte mit einem leichten Kribbeln, wie sich zugleich ihre Magiefäden wieder entwirrten. Beide hatten sie ihre Fäden ausgeworfen, und keiner hatte den anderen gefangen, doch die Berührung war elektrisierend gewesen.
Alberich wandte sich ihrem Bruder zu. »David Bonet. Es ist mir eine Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
Seine Miene war dabei ernster geworden, und die Art, wie die beiden Männer sich die Hände gaben, erinnerte an Geschäftsleute, die eine wichtige Transaktion vorbereiteten. Erfreut stellte Rian fest, dass Davids Skepsis unter diesem Händedruck zu schrumpfen schien. Die Bekanntschaft mit Alberich versprach angenehm zu werden, und Rian war überzeugt, dass er sie bei ihrer Suche unterstützen würde.
Alberich sah von David wieder zu Rian. »Ich möchte Sie zu einem gemeinsamen Spaziergang an der Uferpromenade mit anschließendem Abendessen in einem meiner bevorzugten Restaurants einladen«, sagte er. »Wäre das mit Ihren Plänen zu vereinbaren?«
Rian lachte auf. »Wir sind Touristen«, antwortete sie. »Wir legen die Planung des Abends in Ihre Hände.«
Die Augen ihres Gegenübers wurden eine Spur schmäler, was nicht zu seinem feinen Lächeln passte, während er eine Verbeugung andeutete. »Ich werde versuchen, mich Ihres Vertrauens würdig zu erweisen.«
Alberich führte sie zu seinem dunkelblauen BMW und öffnete für Rian die Beifahrertür. Die Elfe nahm in dem hellen Ledersitz Platz, schnallte sich an, während Alberich die Tür schloss. David stieg hinter ihr ein. Während Alberich um das Fahrzeug herumging, strich Rian mit ihren Fingerspitzen über die glatten Oberflächen der Teakholzverkleidungen an Tür und Handschuhfach.
Alberich nahm auf dem Fahrersitz Platz, deaktivierte die elektronische Wegfahrsperre und betätigte die Zündung. Der Motor schnurrte sanft wie eine Katze. Der Elf stieß rückwärts aus der Parklücke und fädelte sich dann in den gemächlichen Abendverkehr ein. Nachdem sie in eine der Wormser Hauptverkehrsstraßen eingebogen waren, warf er einen kurzen Seitenblick auf Rian und lächelte erneut dieses funkelnde Lächeln, das seine Augen wie geschliffene Obsidiane erscheinen ließ.
»Dafydd und Rhiannon«, sagte er und wechselte in die Sprache der Elfen. »Wer hätte jemals gedacht, dass ich eines Tages die Kinder Fanmórs in meinem Auto sitzen haben würde.«
Rian sah ihn erstaunt an. »Du kennst uns?«
»Natürlich. Schon als meine Assistentin am Telefon den Namen Rian Bonet nannte, brauchte ich euren Hinweis auf Earrach nicht mehr, um zu wissen, wer da bei mir vorstellig wurde.«
»Echt? Aber … inwiefern verrät mich mein Name?«
Alberich griff zu Rian hinüber und öffnete das Handschuhfach. Wie zufällig streifte er dabei ihren Oberschenkel in einer Weise, die sie kurz den Atem anhalten ließ. Er warf ihr einen amüsierten Blick zu und deutete dann auf eine Zeitschrift, die im Licht der Handschuhfachbeleuchtung auf der offenen Klappe lag. Es war das Magazin, für das Nadja schrieb, und es war bei ihrem Artikel über die Prêt-à-porter umgeschlagen. Rechts unten in der Ecke prangte ein Bild, das Rian auf dem Laufsteg zeigte. Es war nicht groß, aber trotzdem groß genug, um sie wiedererkennen zu können.
»Ich lese Zeitschriften, und ich habe Verbindungen«, erklärte Alberich, während er seine Konzentration wieder dem Verkehr zuwandte. »Die Schönheit und die Ausstrahlung der Frau auf diesem Bild nahmen mich sofort gefangen, zumal sie unverkennbar elfischer Natur war. Ich war verständlicherweise erpicht darauf, sie näher kennenzulernen. Und wenn man den Willen dazu hat und die richtigen Leute kennt, ist es nicht allzu schwer, den Namen eines Models herauszufinden, das auf namhaften Modenschauen in Paris auftritt. – Damit, dass die gesuchte Dame von selbst hierher kommen würde, hatte ich allerdings nicht gerechnet.« Er lächelte.
Rian sah ihn skeptisch von der Seite an. »Auf diesem Bild eine Elfe zu erkennen ist eine Sache«, bemerkte sie. »Zu wissen, dass es die Tochter Fanmórs ist, ist jedoch eine gänzlich andere. Der Schritt dazwischen interessiert mich.«
Alberich neigte leicht den Kopf zur Seite und tippte mit den Fingerspitzen auf das Lenkrad, als schlage er den Takt zu einer Musik, die nur er hörte. Vor ihnen tauchte der Nibelungenturm auf, neben dem Dom das zweite Wahrzeichen der Stadt, und er setzte den Blinker nach links, während sie an einer Ampel warteten.
»Ich mag schon lange nicht mehr in Earrach leben, und es ist mir nicht unlieb, dort für tot zu gelten«, antwortete er schließlich. »Aber ich habe noch immer Augen und Ohren dort, und dieses Bild war nicht das erste, das ich von dir sah. Allerdings war es das bisher Faszinierendste, da es gänzlich ohne den sonst üblichen Elfenzauber den wahren Charme der Frau dahinter erahnen ließ.«
Rian kniff leicht die Augen zusammen. Die ganze Zeit kam es ihr vor, als schwinge in Alberichs Stimme stets unterdrücktes Gelächter mit. Alles, was er sagte – die geschliffenen Komplimente ebenso wie die sachlichen Erklärungen –, wirkte so sehr am Rande der Ironie, dass es Rian schwerfiel, zu entscheiden, was er ernst meinte und was nicht. Dieses Spiel mit Worten alarmierte und faszinierte sie zugleich.
Sie ahnte, dass sie jeden Moment dieses Abends genießen würde. Und sie war dankbar, dass David sich still verhielt – für seine Verhältnisse ungewöhnlich. Doch sie ließ sich davon nicht ablenken, ihre gesamte Konzentration durfte nur Alberich gelten.
Der fuhr auf das Rheinufer zu, bog dann in eine schmale Straße ein, die neben einer Schienenstrecke entlangführte, und schwenkte schließlich über die Schienen hinweg in eine Stichstraße mit Parkplätzen. Gleich auf dem ersten stellte er den Wagen ab und lächelte Rian an.
»Voilà«, sagte er. »Wir sind angekommen. Ich bitte die Dame und den Herrn, einen Moment Platz zu behalten.«
Er stieg aus und umrundete den Wagen, um Rian und David die Türen zu öffnen. Dann hielt er Rian seine Hand hin, um ihr beim Aussteigen zu helfen, und sie nahm gern an. Es war schon eine Weile her, dass sie solche Höflichkeiten von anderen Männern als ihrem Bruder erlebt hatte. Die Menschen schienen auf diese Manieren keinen Wert zu legen, obwohl sie doch Teil eines Spiels waren, das Rian sehr zu schätzen wusste. Sie war daher entschlossen, sich von Alberich in jeder Form hofieren zu lassen und es zu genießen, so lange sie Gelegenheit dazu hatte.
Nachdem er ihr aus dem Wagen geholfen hatte, legte Alberich Rians Hand wie selbstverständlich in seine Armbeuge, um mit ihr auf einen Kiesweg zuzusteuern, der zum Promenadenweg am Flussufer führte. Mit der anderen winkte er David heran, der ein Stück hinter ihnen geblieben war.
»Dafydd, erweise mir die Ehre, meine andere Seite zu schmücken. Es würde meiner eitlen Seele schmeicheln. Wie oft hat man schon die Gelegenheit, zwischen hochköniglichem Geblüt zu flanieren?«
David holte mit einigen langen Schritten auf, sein Blick blieb unergründlich, aber er lächelte immerhin.
»Was Rian in Paris getan hat, weiß ich ja nun schon«, sagte Alberich und legte leicht seine Hand auf Rians, als wolle er verhindern, dass sie von seiner Armbeuge rutschte. »Aber was hat diese Stadt einem Prinzen wie dir zu bieten? Wie hast du dir die Zeit dort vertrieben?«
David zuckte die Achseln. »Ich habe gelegentlich Cocktails in einem Club gemixt. Ich war dort sehr beliebt.«
»Vor allem bei den Damen, vermute ich«, bemerkte Alberich. »Hast du denn das, was die Menschen dir als Zutaten bieten konnten, nicht als minderwertig empfunden?«
»Die Menschen mögen nicht über die exzellenten Tropfen verfügen, die wir im Baumschloss haben, aber sie haben durchaus einige interessante alkoholische Getränke entwickelt. Und in der richtigen Mischung kann man sogar aus Mittelwertigem noch etwas Erstklassiges machen.«
»Ich glaube dir sofort und unbesehen, dass du diese Kunst beherrschst. Daher frage ich mich, ob es wohl möglich wäre, später eine Probe deiner Fertigkeiten zu erhalten? Ich habe eine gut bestückte Bar in meinem Haus.«
»Natürlich, gern.«
Sie schlenderten zu dritt unter dem verwobenen Zweigdach der Platanen hindurch, die den Uferweg im Sommer beschatteten. Jetzt hatten sie alle Blätter verloren, und man konnte durch ihre Äste hindurch den klaren Sternenhimmel sehen. Rian musterte die Anlegestellen für Touristenboote, die sie passierten. Ein Stückchen weiter sah sie einige niedrige Gebäude mit hell erleuchteten großen Fenstern.
»Die Restaurants hier unten mögen nicht die besten der Stadt sein«, bemerkte Alberich, »aber ich liebe den Ausblick.« Er nickte zum dunklen Band des Rheins hin, in dessen schnell fließendem Wasser sich die Lichter der Uferpromenade und der entfernten Nibelungenbrücke spiegelten.
Rians Blick fiel auf einen aus Sandsteinen gemauerten Block, auf dem sich der dunkle Umriss einer mehr als mannsgroßen Statue erhob. Sie stellte einen Menschen dar, der etwas auf der Schulter trug.
»Das Hagenstandbild«, erläuterte Alberich, der ihren Blick bemerkte. Rian sah, wie seine Kiefermuskeln sich kurz anspannten. Ein eigenartiges Glitzern trat in seine Augen. »Er ist dabei, den Schatz der Nibelungen im Rhein zu versenken – oder besser, wie ein Künstler sich die Szene vorstellt. Der wirkliche Vorgang war deutlich prosaischer, habe ich mir sagen lassen. Ich war damals leider verhindert, an diesem Ereignis teilzunehmen.« Dieses Mal war die Ironie in den Worten unverkennbar, und zugleich schwang darunter etwas mit, das an das Knurren eines gereizten Raubtiers erinnerte.
Rian musterte Alberich von der Seite, und Grogs Worte kamen ihr wieder in den Sinn: Er ist ein Drachenbruder. Unter der gutaussehenden und liebenswürdigen Oberfläche dieses Elfen ruhten zweifelsohne Dinge, die gefährlich werden konnten, wenn sie geweckt wurden. Der Wolf im Schafspelz, dachte Rian. Der Drache in Elfenhaut. Welches ist überhaupt seine wahre Gestalt?
In diesem Moment schüttelte Alberich kurz den Kopf, als wolle er einen unangenehmen Gedanken vertreiben, und drehte sich mit einem Lächeln wieder ihr und David zu. Erneut war er der weltgewandte Mann, der nichts allzu ernst zu nehmen schien.
»Lassen wir diese alten Geschichten vorerst; ich denke, wir werden noch früh genug darüber sprechen. Aber wenn wir damit jetzt anfangen, kommen wir nicht beim Restaurant an, ehe die Küche schließt.«
Sie spazierten den Uferweg hinunter bis zum Fuß des Nibelungentors, durch das ein Stück weiter oben die Bundesstraße führte, die Worms über die Nibelungenbrücke mit dem anderen Rheinufer verband.
Sie gingen ein paar Stufen hinauf und traten in ein rustikal ausgestattetes Gasthaus ein. Sofort wurden sie von einem jungen Kellner begrüßt, der sie zu einem reservierten Tisch in einer ruhigen Ecke des Lokals führte. Eine Frau reichte ihnen Speisekarten und legte eine Weinkarte auf den Tisch.
Letztere schob Alberich zur Seite. »Bringen Sie uns von dem Wein, den ich selbst hier habe einlagern lassen«, sagte er und sah dann fragend zu den Geschwistern. »Möchtet ihr etwas anderes vorweg trinken?«
Rian schüttelte den Kopf. »Ich verlasse mich auf deine Empfehlung, Reginald«, sagte sie. Sie sprachen wieder Deutsch und benutzten somit auch die Namen, die sie gegenüber den Menschen führten.
»David?«
»Ich ebenso. Ich bin gespannt, ob er meinen Ansprüchen genügen wird.«
Alberichs rechter Mundwinkel hob sich leicht zur Andeutung eines Lächelns, ehe er sich wieder der Bedienung zuwandte. »Also, meinen Elfenwein«, sagte er. »Und wie immer einen Krug stilles Wasser dazu.«
Die Frau nickte und nahm die Weinkarte wieder mit.
»Elfenwein?«, wiederholte Rian.
Alberich hob die Augenbrauen. »Willst du Fragen vermeiden, beantworte sie mit der Wahrheit, insbesondere wenn es ohnehin eine unglaubwürdig erscheinende ist. Der Wirt hier hat mich nie wieder gefragt, woher ich diesen vorzüglichen Tropfen habe.«
»Es ist also ein Wein aus Earrach?«, fragte David ungläubig.
Alberich nickte. »Ich habe meine Beziehungen, hier wie dort. Um genau zu sein ist es sogar ein Wein, der direkt aus dem Weinkeller Fanmórs stammt. Er sollte euch also bestens munden.«
Rian erschrak unwillkürlich und setzte sich gerader hin. »Aus Vaters Weinkeller?« War er verrückt?
Alberich lehnte sich zurück und legte auf dem Tisch die Fingerspitzen aneinander. »Exakt. Der Mann, der die Weinkeller eures Vaters hütet, ist ein Meidling und somit ein sehr einsamer Mann. Er glaubt, seine Einsamkeit ertragen zu können, doch gelegentlich ist er durchaus zu einigem bereit, um sie vorübergehend zu verringern. Er weiß allerdings nicht, wo der Wein gelandet ist, den er abgezweigt und gegen etwas … Freundschaft … eingetauscht hat. Und da ihr nun selbst in den Genuss seiner Tat kommt, würde ich euch bitten, ihn bei eurer Rückkehr nicht zu verraten.«
Rian fühlte sich, als habe sie ein Blitz getroffen. Wenn die Beziehungen Alberichs bis in das Baumschloss Fanmórs reichten, ohne dass dort jemals etwas über sein Überleben bekannt geworden war – wie viel weiter mochte sein Netz noch reichen, und wie dicht mochte es sein?
Sie sah zu ihrem Bruder, der ihren Blick erwiderte. Seine Augen hatten sich verdunkelt. Fing er an, diese Verabredung zu bereuen? Aber wie es aussah, war Alberich genau der Mann, der ihnen weiterhelfen konnte! Gewiss, er war sehr gefährlich, aber das hatten sie auch vorher schon gewusst. Und sie beide waren Elfen und ebenfalls gefährlich – auf ihre Weise.
Alberich lachte auf, griff nach der Speisekarte und schlug sie auf. »Macht euch nicht so viele Gedanken, Kinder. Es ist niemandem Schaden zugefügt worden, im Gegenteil. Und wer will es mir verübeln, wenn ich mir das Leben hier etwas angenehmer zu gestalten versuche? Lasst uns bestellen, wenn der Wein kommt.«
Nachdem der Kellner sich mit den Karten zurückgezogen hatte, lehnte Rian sich vor, die Unterarme auf dem Tisch aufgestützt und die Hände gefaltet.
»Also, Regin, oder Alberich, oder Reginald, oder wie auch immer du gern genannt werden willst«, sagte sie auf elfisch. »Meine Neugier ist ein für alle Mal geweckt. Wie kommt es, dass ein Elf, der hier wie dort für tot gilt, quicklebendig vor mir sitzt und Beziehungen aufzuweisen hat, die uns erblassen lassen?«
Ihr Gegenüber lächelte leicht. »Nennt mich ruhig Alberich. Diesen Namen hat man damals in Earrach für mich übernommen, und ich habe mich daran gewöhnt, von unsereins so genannt zu werden.«
Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, während er Rian musterte. Sie hielt seinem Blick ruhig stand. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass ihr Bruder sich auf seinem Stuhl ein wenig zur Seite gedreht hatte, um sie beide mit auf einem Arm aufgestützten Kopf zu beobachten.
»Damit ihr versteht, was damals alles geschehen ist, muss ich ein wenig weiter ausholen«, begann Alberich. »Ich nehme an, ihr kennt zumindest in Teilen die Sagen und Geschichten, die sich allerorts um mein Leben ranken?«
»Zuhause habe ich das eine oder andere über dich und deine Brüder gehört«, antwortete Rian. »Ich gebe aber zu, dass ich mich nie allzu sehr für das interessiert habe, was vor meiner Geburt geschehen ist.«
»Ein Fehler, Prinzessin«, meinte Alberich und legte leicht den Kopf zur Seite. »Wir können sehr viel aus der Vergangenheit lernen, wenn wir sie genau studieren. Man kann Dinge wiederholen, die sich bereits als erfolgreich erwiesen haben, und die Fehler anderer vermeiden. Und unter Umständen kann man auch sehr viel Nützliches über Personen erfahren, mit denen man zu tun hat, wenn man mehr als nur ihre eigene unmittelbare Geschichte studiert. Jeder wird direkt oder indirekt von der Vergangenheit geprägt.«
»Sicher. Aber für mich gab es bisher keine Notwendigkeit, mich damit zu beschäftigen.«
»Bisher.« Alberich nickte leicht. »Die Dinge ändern sich in mancherlei Hinsicht, nicht wahr, Prinzessin? Vieles von dem, was man unvermeidlicherweise lernt, wenn man hier lebt, wird bald vielleicht auch dort wichtig, wo man bisher nicht viel darauf gab. Aber ich schweife ab.«
Der Wein kam und wurde formvollendet eingeschenkt. Rian beobachtete eine Gasperle, die sich an der Wand ihres Glases gebildet und schließlich davon gelöst hatte. Nun stieg sie in einer trägen Spirale durch den nahezu glasklaren Wein auf und hinterließ dabei eine schwache, violett schimmernde Spur in der Flüssigkeit. Als sie schließlich an der Oberfläche zerplatzte, wirkte es, als würde ein kleines Feuerwerk aus leuchtenden bunten Funken gezündet, das sich mit denen der anderen Perlen vereinte, welche die Oberfläche erreichten.
»Goldperle«, flüsterte sie. »Einer der Weine, die unser Vater einmal aus Campofiero, dem Wilden Land, mitgebracht hat.«
David nickte und hob das Glas an seine Nase, um den Duft tief einzuatmen.
Alberich nahm ebenfalls sein Glas in die Hand. »Auf euch, treue Kinder Fanmórs und des Reiches Crain«, sagte er und hob das Glas in Richtung der Geschwister. »Möge das Schicksal euch die Enttäuschungen vorbehalten, mit denen es mich so reichlich gesegnet hat.«
Blumig-fruchtig entfaltete sich der Geschmack sofort, ähnlich dem Feuerwerk der Perlen, in Rians Mund, mit einem Hauch der Süße von Blütenhonig darin.
Die Goldperle passte ihren Geschmack perfekter den Wünschen des Trinkenden an als jedes andere Elfengetränk, das Rian kannte. Die Bedingungen, unter denen die Goldperltraube zu solcher Perfektion reifen konnte, fanden sich allerdings nur in wenigen Gebieten, und darum war dieser Wein trotz seiner Beliebtheit nicht in großen Mengen erzeugbar.
Umso mehr erstaunte es sie, dass es Alberich gelungen war, sich ausgerechnet etwas von diesem Schatz aus Fanmórs Weinkeller zu beschaffen. Langsam zweifelte sie an der Wahrheit der Geschichte. Es erschien ihr wahrscheinlicher, dass er den Wein direkt aus Campofiero erhalten hatte, auf welchem Wege auch immer er das bewerkstelligt haben mochte.
Nachdem sie zu dieser Überzeugung gekommen war, entspannte sie sich ein bisschen. Alberich hatte sie beeindrucken wollen, und für eine Weile war ihm das auch gelungen. Doch so leicht wollte sie sich von ihm nicht ins Bockshorn jagen lassen, wie die Menschen das so schön nannten.
»Also?«, meinte sie herausfordernd, als sie ihr Glas wieder absetzte.
Alberich nickte und stellte sein Glas in einer langsamen Bewegung vor sich ab, den Blick darauf geheftet.
»Mein Vater, meine beiden Brüder und ich waren von je her Söldner«, erzählte er. »Unser Vater stammte aus Zyma, dem Kalten Reich, wo auch meine Brüder und ich geboren wurden. Er hatte sich aber schon früh im milderen Earrach eine Bleibe für die Zeiten zwischen den Kriegen geschaffen. Das Frühlingsland gefiel ihm besser als seine frostige Heimat, und man nahm ihn wegen seiner Fertigkeiten im Kampf mit offenen Armen auf. Meine Brüder und ich wuchsen die meiste Zeit in Earrach auf und traten bald in sein Handwerk ein.«
Rian versuchte, sich Alberich als Kämpfer auf dem Schlachtfeld vorzustellen. Ein Bild von ihm in dunklem Wams und elfischem Kettenhemd entstand vor ihrem inneren Auge, mit schützenden Schienen an Armen und Beinen, einem Schwert in der einen und einem Dolch in der anderen Hand. Auf seinem Kopf saß ein schlichter Helm, unter dem seine schwarzen Locken hervorquollen. Hinter ihm loderten Flammen in den Himmel.
Je länger Rian es sich vorstellte, um so realer wirkte es, als sei es mehr eine Erinnerung als eine Vorstellung. Sie musste kurz den Kopf schütteln, um das Bild wieder zu vertreiben und in die Gegenwart zurückzukehren. Das erste, was sie sah, waren Alberichs Obsidianaugen. Funken tanzten darin, die sie auszulachen schienen.
»Wir kämpften mehr als zwei Jahrhunderte in beiden Welten, und wir kämpften gut«, fuhr der Elf fort, als wäre nichts geschehen. Er lehnte sich zurück, und sein Blick bekam etwas Abwesendes, fast Sehnsuchtvolles. »Als Lohn für unsere Dienste verlangten wir Gold, Juwelen und Gegenstände, die uns gefielen oder nützlich erschienen. Einiges magisches Spielzeug bekamen wir auch, besonders, wenn wir drüben kämpften.
Hier wie dort ging es uns gut, und wir verbrachten manchmal lange Zeiten bei den Menschen, da diese leichter zu beeindrucken waren und man einfacher an Macht und Reichtum gelangen konnte.«
Alberich strich mit dem Zeigefinger entlang des Stieles seines Weinglases nach oben.
»In einer weinseligen Nacht erzählte unser Vater einigen von ihnen von seiner Heimat, und sie nannten uns von da an Niflungen, nach ihrem mythischen Ort Niflheim, der wohl in etwa Zyma entsprach. Daher das Wort Nibelungen.
Vater erzählte den Menschen auch ein wenig von unseren Abenteuern und ließ durchblicken, wie lange wir bereits unserem Handwerk nachgingen. Sie glaubten von da an, unsere Truhen müssten vor Gold bersten, aber das war zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht wahr, denn wir lebten nicht gerade sparsam. Nun ja, für die meisten Menschen jener Zeit war das, was wir im Alltag verprassten, wohl schon ein Vermögen, aber unser Wohlstand war nicht mit dem einiger Fürsten der Menschen zu vergleichen.
Den großen Gewinn in Sachen Gold und Edelsteinen machten wir erst, als wir die Aesir, die Asen, in einer ihrer unzähligen Streitereien mit den Riesen unterstützten, und der Unfall geschah. Keiner von uns wäre jemals im offenen Kampf gefallen, doch einer der Asen brachte versehentlich unseren jüngsten Bruder um, als der in Tiergestalt in einem Fluss badete. Die Asen entrichteten einen hohen Blutpreis als Wiedergutmachung, denn sie konnten und wollten zu diesem Zeitpunkt nicht riskieren, dass wir die Seiten wechselten.«
Alberich lachte auf. »Hätten wir damals geahnt, wie hoch der Preis am Ende für uns selbst sein würde, wir hätten vermutlich die Finger davon gelassen und weiter gemacht wie zuvor. Aber wir nahmen den Schatz an, und bald juckte es jeden von uns, ihn allein zu besitzen.« Er schüttelte den Kopf.
»Manchmal denke ich, einer der Asen hat den Schatz damals mit einem Fluch belegt, als Rache für unsere hohe Forderung. Aber vielleicht lag es in unserer Natur, dass wir zwar Weniges teilen konnten, aber bei etwas so Großem wie diesem Schatz unsere niedrigsten Triebe zum Vorschein kamen. Wie auch immer … ah, das Essen.«
Der Kellner erschien mit mehreren Tellern, die er vor den Elfen abstellte.
»Dann wünsche ich allerseits einen guten Appetit«, sagte Alberich und wickelte sein Besteck aus der Serviette. »Ich würde vorschlagen, dass wir die Fortsetzung dieser Erzählung auf später verschieben, wenn wir unter uns sind, in meinem Haus.«
Eine Stunde später verließen sie das Lokal und gingen durch die deutlich abgekühlte Luft der Novembernacht die Uferpromenade entlang zum Auto. Wieder ruhte Rians Hand dabei auf Alberichs Unterarm.
»Legen deine Schiffe auch hier an?«, fragte Rian, als sie an einem der Bootsstege vorbeikamen.
»Gelegentlich. Ich miete dann eine Anlegestelle von einer der größeren Gesellschaften. Unser Schwerpunkt liegt auf dem Warentransport von und nach Holland und Belgien, wir legen nördlich von hier, im eigentlichen Hafen an. Nebenbei bieten wir Bergungsarbeiten im Rhein. Der touristische Personenverkehr ist erst vor ein paar Jahren dazugekommen, ich habe nur zwei Schiffe laufen. Ich muss allerdings sagen, er gibt der Sache eine neue Nuance, die mir zusehends besser gefällt.«
»Ist dein Unternehmen groß?«
Alberich grinste. »Groß genug, um angenehm leben zu können, insbesondere, da ich einige einträgliche Handelsnischen gefunden und fest besetzt habe. Aber es ist nicht so groß, um aufzufallen. Ein Familienunternehmen, seit Hunderten von Jahren fest in der Hand der Albrechts.«
Rian lachte auf. »Ich nehme an, das heißt, in deiner Hand?«
»Natürlich, unter wechselnden Personae. Das war früher sehr einfach. Niemand hat damals so genau hingeschaut, solange nur die Abgaben weiter flossen. Jetzt muss ich mich schon ein wenig mehr mit der Technik befassen, um alles lückenlos hinzubekommen, aber es ist noch immer möglich, es fortzusetzen. Doch ich hoffe, dieses Spiel bald nicht mehr nötig zu haben.«
Rian hob die Augenbrauen. »So? Willst du eine erfolgreiche Firma aufgeben?«
Alberich sah zum Rhein hinüber. »Ich bin aus einem ganz bestimmten Grund hiergeblieben. Ein Problem hielt mich fest, das ich nicht lösen konnte. Es haben sich aber in den letzten Monaten Perspektiven ergeben, die dieses Problem nun lösbar erscheinen lassen.«
»Ah? Wodurch?«
Alberich sah zurück zu Rian, lächelte sie funkelnd an und strich ihr leicht über die Hand. »Die Technik entwickelt sich in dieser Welt unaufhörlich weiter, schöne Prinzessin. Und manchmal haben die Menschen wirklich gute Ideen, die auch für unsereins nützlich sind. Ich werde euch später mehr davon erzählen.«
Sie hatten das Auto erreicht und stiegen ein. Langsam fuhr Alberich wieder zurück zur Hauptverkehrsstraße und bog dann Richtung Norden ab. Sie fuhren durch das östliche Worms hindurch, am Hafen und den anschließenden Gewerbegebieten vorbei. Danach kamen sie in immer spärlicher besiedeltes Gebiet. Alberich bog mehrfach ab, bis Rian die Orientierung verloren hatte. Als er schließlich in einen Ort hineinfuhr, ließ der Name auf dem Ortsschild Rian jedoch stutzen.
Neuhausen, stand dort. War das nicht der Ort, in dem das Gemälde gefunden worden war? Sie sah sich um, konnte einen Kirchturm hinter den Häusern an der Straße erkennen, doch mehr war nicht zu sehen – keine Hinweisschilder auf eine Ausgrabung oder die historische Vergangenheit des Orts.
Zu Rians Bedauern fuhr Alberich nur hindurch. Er durchquerte zwei weitere Dörfer und wurde erst ein ganzes Stück hinter dem letzten Ortsausgang langsamer. Schließlich bog er in einen kleinen Weg ein, der als »Privat« gekennzeichnet war. Der Weg führte durch ein schmiedeeisernes Tor, an das sich kein für menschliche Augen sichtbarer Zaun, wohl aber ein für Rian erkennbares magisches Geflecht anschloss. Danach verlief er weiter unter einigen Baumwipfeln hindurch, bis er schließlich auf einem mit Kies befestigten Platz endete, um dessen Rand mehrere orange leuchtende Kugellampen standen.
Alberich fuhr in einem Bogen vor dem Gebäude am Ende des Platzes vor und stellte den Motor ab.
»Willkommen in meiner bescheidenen Zuflucht«, sagte er und wies durch Rians Seitenfenster.
Rian sah von ihrem Sitz aus zu einem zweistöckigen Haus auf, das nicht auffallend groß war. Es erinnerte in der Form an eine kleine Burg, mit einem runden Turm an einer Seite und zinnenartigem Mauerabschluss an der Giebelfassade auf der anderen Seite. Dazwischen war es mit einem Rotziegeldach abgedeckt.
Die Höhe der in einem hellen Erdton gestrichenen Wände darunter hätte normalerweise auf zwei Stockwerke unterhalb des Dachgeschosses hingewiesen. Die völlig unregelmäßig über die Wände verteilten Fenster ließen Rian allerdings vermuten, dass es keine feste Geschosseinteilung im Inneren gab.
Ebenso unregelmäßig wie ihre Lage war die Form der Fenster. Es gab Panoramafenster, große Rosetten, schmale Bogenfenster in Zweier- und Dreiergruppen sowie ein paar Öffnungen, die eher an Schießscharten erinnerten. Der Teil des Turms, der über das restliche Haus hinausragte, zeigte zudem statt dem Verputz ein verspieltes Fachwerkmuster. Dazwischen saßen in sich unterteilte Fenster, wie Butzenfenster ohne gebogenes Glas.
»Das ist dein Haus?«, fragte Rian, ohne den Blick von dem Gebäude zu lösen, als Alberich ihr die Tür öffnete.
»Ich konnte mich nicht recht für einen Stil entscheiden, also ließ ich einfach alles irgendwie mit hineinspielen. Ich denke aber, die Komposition ist in ihrer Gesamtwirkung gelungen, oder?«
»Mir gefällt es«, antwortete die Elfe, während sie mit seiner Unterstützung ausstieg. Er verbeugte sich leicht.
»Aus dem Munde einer Frau, welche die Standards eines Schlosses gewohnt ist, nehme ich das als Kompliment. Und du, David? Was meinst du dazu?«
David, der gegen das Auto gelehnt das Gebäude betrachtete, kniff die Augen etwas zusammen und rieb sich mit der Hand über das Kinn. »Es erinnert mich in manchen Punkten an das Baumschloss, auch wenn der Stein und die vielen Ecken mir eher unsympathisch sind. Aber daran habe ich mich im Verlauf der letzten Monate ohnehin gewöhnen müssen. Das endgültige Urteil behalte ich mir für später vor, nachdem wir das Innere gesehen haben.«
»Das Innere.« Alberich hob eine Hand und schnippte. »Ja, da wartet noch die eine oder andere Überraschung auf euch, die gerade dir gefallen könnte, David.«
Er sprang die drei Stufen zur breiten zweiflügligen Eingangstür hoch und stieß sie auf, um sich dann mit ausgebreiteten Armen umzuwenden. »Kommt hoch, Kinder Fanmórs! Herein herein, und seid heute Abend meine geehrten Gäste – und wenn es euch gefällt, auch noch die ganze Nacht hindurch!« Er zwinkerte Rian kurz zu, drehte sich dann wieder um und verschwand im dunklen Hausinneren.
Rian sah mit gemischten Gefühlen erneut an der Fassade des so eigenwillig gebauten Hauses hoch. Ein wachsender innerer Zwiespalt machte sich bei ihr bemerkbar. Einerseits elektrisierte sie Alberichs Nähe, und sie wünschte sich, Zeit gemeinsam mit ihm verbringen zu können. Andererseits flüsterte tief in ihr eine Stimme voller Misstrauen, dass sie sich vorsehen und am Besten von ihm fernhalten sollte.
»Er ist seltsam unberechenbar«, flüsterte sie David zu, während sie nebeneinander die Stufen hochstiegen. »Etwas so Verspieltes wie dieses Haus hätte ich nicht von ihm erwartet. Außerdem fällt es mir bei ihm ungewohnt schwer, zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. Alles scheint eng ineinander verwoben, und ich habe den Eindruck, dass er manchmal Wahrheiten bewusst einsetzt, um Lügen zu kaschieren, nicht nur anders herum. So wie er die Goldperle als Elfenwein hat einlagern lassen.«
David sah Rian mit einem schrägen Lächeln von der Seite an. »Du hast dich zu sehr an die Menschen gewöhnt, Schwester«, sagte er. »Er ist durch und durch ein Elf, wie wir sie zu Hunderten am Hofe unseres Vaters haben, ohne dass wir uns jemals viele Gedanken gemacht hätten. Er hat sich nicht so von der Welt der Sterblichen verändern lassen wie Talamand. Talamand hat all seinen elfischen Biss verloren. Alberich hat ihn sich bewahrt, vielleicht sogar noch ein wenig feiner geschliffen. Ich vermute, er benutzt die Menschen für seine Zwecke, aber er hat sich niemals mit ihnen eingelassen, und das macht ihn mir sympathisch.«
»Und wer sagt uns, dass er nicht auch uns für seine Zwecke benutzt?«
»Wahrscheinlich will er das sogar, sonst würde er nicht so viel Aufwand mit uns treiben. Aber das ist gut, denn es heißt, dass wir ihm etwas bieten können, und somit die Basis für einen Handel gegeben ist.«
Rian nickte, aber die Zweifel in ihr blieben.
Am Ende des dunklen Gangs betraten sie einen großzügig ausgelegten und über drei Ebenen verteilten Raum, der an der gegenüberliegenden Seite komplett verglast war. Die Panoramascheiben boten Ausblick auf eine nächtliche Parklandschaft in englischem Stil, die von den gleichen Lampen beleuchtet wurde wie der Vorplatz. Große Schiebetüren gaben Zutritt zu diesem Park, waren im Moment jedoch geschlossen. Der Raum selbst wurde von unzähligen Leuchtpunkten in der hellen Holzdecke und den Wänden in ein warmes, diffuses Licht getaucht. Selbst in den Parkettboden waren an einigen Stellen glimmende Leuchtdioden eingebaut. Die Möbel aus Glas und hellem Holz, die cremefarbene, ausladende Couchgarnitur, sogar der hohe Kerzenständer aus geschwärztem Metall und der riesige Fernseher an einer der Seitenwände warfen nicht mehr als schwache, diffuse Schatten. Als Rian das bewusstwurde, wanderte ihr Blick unwillkürlich zu ihrem eigenen künstlichen Schatten. Er hatte sich unsicher unter ihr verkrochen und waberte hin und her. Sie lächelte.
Alberich stand inmitten des Raums und sah ihnen mit einem erwartungsvollen Gesichtsausdruck entgegen. Kaum dass Rian seinem Blick begegnete, spürte sie auch schon wieder dieses leise Prickeln, das seine Gegenwart in ihr auslöste, und die Bedenken von zuvor rückten in den Hintergrund.
»Nun, was sagen Fanmórs Kinder hierzu?«, fragte er mit einer ausladenden Geste.
»Schön, schön«, antwortete David und sah sich um. Sein Blick blieb an der Bar hängen, die vor der dem Fernseher gegenüberliegenden Seitenwand stand. Die Regale dahinter wirkten gut bestückt, und Rian erkannte einige Flaschen, deren Inhalt vermutlich nicht aus der Menschenwelt stammte. Die Augen ihres Bruders leuchteten auf. »Darf ich?«
»Es wäre mir eine Ehre«, antwortete Alberich und machte eine einladende Geste. David ging ohne zu zögern die vier Stufen hinauf, welche die mittlere Ebene des Raumes von der Seite mit der Bar trennten, und trat hinter die Theke. In diesem Moment klang das Klackern von Pumps auf glattem Boden auf, und alle drehten sich zu einem Durchgang um, der neben dem Fernseher in ein angrenzendes Zimmer führte.
Eine hochgewachsene blonde Frau in einem langen roten Kleid, dessen Ausschnitt mehr zeigte als er verbarg, trat in den Wohnraum. Sie trug ein Tablett mit verschiedenen Schälchen voller süßer und salziger Naschereien. Als ihr Blick auf die Zwillinge fiel, blieb sie stehen, schüttelte mit einer knappen Kopfbewegung ihr welliges langes Haar zurück und lächelte, wobei sich ihre in zum Kleid passendem Rot geschminkten Lippen ein wenig öffneten, als sie David ansah.
»Das ist Angelina, meine Assistentin«, stellte Alberich die Frau vor. »Engelchen, das sind David und Rian Bonet, die beiden, mit denen du gestern telefoniert hast.«
»Erfreut, Sie kennenzulernen«, sagte sie und neigte etwas den Kopf. Ihre Stimme klang in natura noch angenehmer als am Telefon, und auch ihr Aussehen war durchaus angetan, das Interesse jedes Elfen zu erwecken.
Während Angelina die drei Stufen zum mittleren Teil des Raums hinunterstieg, sah Rian zu David, der sich mit beiden Unterarmen auf die Bar aufgestützt hatte und jede Bewegung der Frau genau beobachtete. Dann schweifte ihr Blick wieder zurück zu Alberich. Die Aufmerksamkeit des Nibelungen ruhte auf ihr. Rian straffte sich unbewusst etwas, als ihre Augen seinen begegneten, und drückte die Schultern zurück. Ihre Bewegung brachte ihr von Alberichs Seite ein leichtes Heben der Augenbrauen und einen anerkennenden Blick über ihren Körper ein. Sie spürte ein angenehmes Kribbeln ihre Wirbelsäule hinaufwandern und lächelte.
Angelina stellte die Schälchen auf dem Tisch ab und wandte sich dann David zu. »Darf ich Ihnen an der Bar helfen, Monsieur Bonet? Ich kann Ihnen zeigen, was wo steht.«
»Gern.« David stieß sich von der Bar ab, trat einen Schritt zurück und lächelte sie an. »Aber nennen Sie mich doch einfach David.«
»Und Sie mich Angelina, oder Engelchen, wie Sie mögen.«
Die Art, wie Angelina Davids Lächeln erwiderte, hatte etwas Laszives. Rian fiel auf, dass sie David mit voller Absicht mit ihren Brüsten streifte, als sie sich an ihm vorbei hinter die Bar schob. Das würde ihrem Bruder sicher guttun und ihn aus seiner Niedergeschlagenheit reißen.
Als sie sich abwenden wollte, um zu Alberich zu gehen, stellte sie fest, dass er bereits hinter ihr stand. Er berührte einen ihrer langen Strassohrringe und ließ die Fingerspitzen dabei ihren Hals streifen, ehe er die Hand in einer auffordernden Geste vor ihr verharren ließ.
»Wollen wir uns nicht setzen?«
Sie neigte etwas den Kopf und legte ihre Hand in seine. »Warum nicht.«
Während er sie zur Couch führte, spürte sie noch immer die kurze Berührung seiner Finger auf ihrer Haut, als habe er dort eine Spur aus kleinen Flämmchen gezogen. Die Weichen des Abends waren gestellt.
Mit halbgeschlossenen Augen ließ Alberich sich etwas tiefer in die Polster der Couch zurücksinken und schwenkte in der einen Hand das Cocktailglas, das David ihm gegeben hatte, als er und Angelina von der Bar zur Couch gekommen waren. Sein anderer Arm ruhte auf dem Rückenpolster, gegen das Rian sich lehnte, und die Hand glitt mit den Fingerspitzen Rians Halsbeuge entlang und wanderte von dort aus langsam tiefer.
Rian nahm einen tiefen Schluck von ihrem Cocktail, rutschte mit einem zufriedenen Seufzer etwas zur Seite und lehnte den Kopf an Alberichs Schulter. Sie war gespannt darauf, was nun kommen würde.
»Als sie den Schatz brachten, eingenäht in die Haut meines toten Bruders«, sagte Alberich, »war das der Anfang vom Ende für die Nibelungen.«
Seine Finger erreichten den Ausschnitt von Rians hautengem Oberteil und fuhren spielerisch daran entlang. Er sprach elfisch, und Rian nahm an, dass Angelina ihn nicht verstehen konnte. Das schien die Frau jedoch nicht allzu sehr zu stören. Sie war zufrieden damit, über die andere Couch hingebreitet zu liegen, den Kopf auf Davids Schoß, und ihm alle Einblicke zu bieten, die er sich wünschen konnte. Der Prinz nutzte das Angebot gern und ließ seine Hände seinen Blicken in der Erkundung ihrer Körperformen folgen.
»Wir stritten uns Tag und Nacht«, fuhr Alberich fort. »Vater wollte, dass wir mit dem Schatz so umgingen wie mit allem anderen – ihn aufbewahrten und dann nutzten, wenn wir ihn brauchten. Mein Bruder Fafnir und ich hingegen forderten die Aufteilung. Wir waren es leid, stets von ihm gegängelt zu werden, wollten unsere eigenen Entscheidungen treffen, vielleicht eigene Söldnertruppen gründen. Doch er blieb hart, und eines Abends beendete er den Streit kurzerhand, indem er den Schatz in einer mehrfach gesicherten Truhe verschloss und den Schlüssel verschluckte.« Alberichs Mundwinkel verzogen sich zu einem sarkastischen Lächeln, während sein Zeigefinger auf dem Seidenstoff von Rians Bluse eine Wanderung um ihre Brust herum aufnahm.
»Es war nicht die Beste seiner Ideen. Fafnir und ich waren uns einig, dass wir uns für Vaters Betrug rächen und uns den Zugang zum Schatz verschaffen mussten. Also brachte ich ihm einen Schlaftrunk, und Fafnir ging in der Nacht in sein Zimmer und schlitzte ihn auf, um den Schlüssel herauszufischen. Gemeinsam öffneten wir dann die Truhe und konnten uns kaum am Inhalt sattsehen. Wir beschlossen, den Schatz gleich am Morgen zu teilen. Dann wollte jeder von uns seiner Wege gehen, während Vaters ausgeweideter Leichnam in seinem Bett erkaltete.«
Alberichs Zeigefinger hatte sich in einer enger werdenden Spirale Rians Brustwarze angenähert und umkreiste sie nun. Die Gänsehaut, welche die Berührung bei ihr hervorrief, mischte sich mit dem Schauder über seine Erzählung.
»Doch – welche Überraschung! – am nächsten Morgen waren weder Fafnir noch der Schatz in unserem Haus zu finden. Zurückgeblieben waren Vaters Leiche in ihrem Blut, ich in meiner Wut, und der Junge, in all seiner Unschuld und Ahnungslosigkeit.«
Rian drehte leicht den Kopf. »Ein Junge?«
Alberich nickte. »Ein wahres Goldstück, ein Schatz für sich. Ich hatte ihn aus einem von uns niedergebrannten Dorf in Xanthen mitgenommen, in dem ansonsten nichts und niemand überlebt hatte. Dieser kleine Junge, der da plötzlich verwirrt und rußbeschmiert die Dorfstraße entlang stolperte, seine blonden Locken, seine hellen klaren Augen, und dieser Blick voller Unschuld – kein Elf hätte diesem Schmuckstück widerstehen können. Und ich am Allerwenigsten, denn ich hatte meinen Wünschen und Gelüsten niemals Beschränkungen auferlegt. Was ich nicht mit schönen Worten gewann, nahm ich mir damals mit dem Schwert.«
Er lächelte leicht auf Rian hinunter, und sie zog die Augenbrauen hoch. »Heutzutage haben sich meine Manieren in dieser Hinsicht deutlich gebessert, möchte ich versichern.«
Wieder schwang dieser Hauch von Gelächter in seiner Stimme mit, doch Rian achtete nicht darauf.
»Sigurd hieß der Knirps, der damals vielleicht zwei oder drei Jahre alt war. Du kennst ihn wohl besser unter dem Namen Siegfried. Er erinnerte sich später nicht mehr daran, wie wir ihn gefunden hatten, nur das Bild des Feuers begleitete ihn gelegentlich in seine Träume. Ich erklärte ihm, das sei die Waberlohe, innerhalb derer er gezeugt worden sei, und machte ihn glauben, seine Mutter sei ein hohes Wesen aus unserer Welt gewesen, und sein Vater ein berühmter Held. Das ließ ihn sich nicht so fremd fühlen.
Manchmal frage ich mich, ob nicht ein Quäntchen Wahrheit darin steckte. Mit dem Alter entwickelte er eine solche Schönheit und ein so ausgeprägtes Geschick in allem, was ich ihn lehrte, dass ich heute noch manchmal vermute, ob er nicht ein Halbblut oder ein Wechselbalg war.«
Alberich zuckte leicht die Schultern, und die Bewegung ließ seinen Fingernagel über den Stoff kratzen, der sich über Rians Brustwarze spannte. Sie zuckte unter der Berührung zusammen und sog leicht den Atem ein, doch Alberich schien zu sehr in seinen Erinnerungen versunken, um es zu bemerken.
»Als Fafnir mich betrog, war Siegfried gerade mal alt genug, um aufrecht gehen zu können. Während ich all meine Beziehungen spielen ließ, um herauszufinden, wohin mein Bruder sich verkrochen hatte, formte ich meinen blondlockigen Jüngling zu einem Werkzeug meiner Rache. Ich lehrte ihn die Kampfkünste und das Schmieden. Ich tat alles, um ihn in Dankbarkeit und Liebe an mich zu binden.
Schließlich fand ich heraus, dass Fafnir nichts Besseres eingefallen war, als sich in eine Höhle in einem der entlegensten Gebirge zurückzuziehen. Dort hütete er seinen gestohlenen Schatz Tag und Nacht. Ich überzeugte Siegfried, dass der Tod eines Drachen durch seine Hand ein wichtiger Schritt für ihn wäre. Nach solch einer Tat würde er als ruhmreicher Held zu seinem eigenen Volk zurückkehren können und dort zu einem Herrscher unter seinesgleichen werden. Der Gedanke gefiel ihm. Er hatte keine Ahnung, dass der Drache niemand anderes als der Mann war, der ihn als Kind oft auf den Knien geschaukelt hatte.«
Rian drehte den Kopf und biss leicht in Alberichs Schulter. Der Nibelunge blinzelte kurz, als erwache er aus einem Tagtraum, dann sah er zu ihr und hauchte mit einem leichten Lächeln einen Kuss in ihr Haar. Seine Finger hatten inzwischen zurück zu Rians Ausschnitt gefunden, und dieses Mal nahmen sie von dort aus den Weg unterhalb des Stoffes.
»Siegfried erfüllte alle meine Erwartungen«, fuhr er in seiner Erzählung fort. »Mit seiner Unterstützung gelang es mir, das beste Schwert zu erschaffen, das jemals meine Schmiede verlassen hatte. Es war ein Schwert, das in jedem Aspekt – von der Wahl der Metalle über den Zeitpunkt des Schmiedens bis hin zur abschließenden Abkühlung im Blut eines noch lebenden Wesens – darauf ausgelegt war, einen Drachen zu töten. Und niemand wusste besser als ich, was dazu benötigt wurde. Alles, was ich nicht in das Schwert selbst binden konnte, lehrte ich Siegfried, und nach zwei Jahren harter Übung und Vorbereitung war es dann soweit. Siegfried zog mit dem Schwert Gram in der Hand aus, um den Drachen zu erschlagen, der mein verräterischer Bruder war.«
Alberich leerte sein Glas und starrte dann nachdenklich hinein.
»Ich erfuhr nie genau, was geschehen ist. Er erschlug Fafnir und schleppte seinen Kopf mit sich, zusätzlich zu dem Schatz, von dem er mir unter vielerlei Auflagen geschworen hatte, ihn zurückzubringen. Wir wollten das Gold teilen, und ich hätte mich ausnahmsweise daran gehalten, denn auch der halbe Schatz war ein Königreich wert. Aber es kam alles anders. Siegfried behauptete später, ein Vogel hätte ihm zugezwitschert, ich würde ihn um des Schatzes willen töten wollen. Vermutlich hat aber eher Fafnir vor seinem Tod ihm dieses Gift ins Herz geträufelt, wie man bei den Menschen so schön sagt.
Jedenfalls kam Siegfried eines Abends mit dem Schatz und dem Drachenkopf zurück. Wir feierten bis tief in die Nacht mit reichlich Bier und Met den Sieg und sanken gemeinsam aufs Lager. Und am nächsten Morgen war ich tot. Ermordet mit der einzigen Waffe, mit der man mich ohne weiteres umbringen konnte, dem Schwert, das ich selbst für ihn geschmiedet hatte. Ironie des Schicksals.«
Er beugte sich etwas vor und stellte vorsichtig das Glas auf dem Tisch ab. Als er sich wieder zurücklehnte, schlang er den zweiten Arm ebenfalls um Rian und zog sie enger an sich. Sie ließ es widerstandslos zu und schmiegte sich an ihn, genoss die Wärme seines Körpers an ihrem Rücken und die tastende Berührung seiner Hände. Sie spürte, wie er seine Wange in ihr Haar drückte, und es gefiel ihr, zu denken, dass er Halt bei ihr suchte gegen die Erinnerungen, die er nun durchlebte.
»Der Tod war keine angenehme Erfahrung«, fuhr er leiser fort, »aber Zorn, Hass und pure Willenskraft halfen mir, ihn vergleichsweise schnell zu überwinden, was keinem anderen aus meiner Familie gelungen ist. Und das war gut so. Ich denke, eine glückliche Familie wären wir wohl niemals mehr geworden.«
Er lachte leise, küsste erneut Rians Haar und legte dann sein Kinn auf ihrer Schulter ab. Ein Duft wie von glimmenden Tannennadeln streifte Rians Nase, und sie schmiegte mit geschlossenen Augen ihre Wange an seine.
»Die eigentliche Frage hast du aber immer noch nicht beantwortet«, sagte sie. »Warum bist du, als du wieder lebtest, hiergeblieben und nicht nach Earrach zurückgekehrt? Und warum genau hier, in Worms?«
»Ich hatte einen Schatz verloren, den ich entschlossen war, zurückzugewinnen«, antwortete Alberich. »Nach meinem Tod hatte Siegfried Schatz und Drachenkopf hierher geschleppt und sich damit genau das aufgebaut, was ich ihm prophezeit hatte. Dummerweise konnte er seine Finger nicht von den Frauen und seine neugierige Nase nicht aus den falschen Angelegenheiten lassen. Er fand etwas heraus, das ihm einen Mörder auf den Hals setzte.
Sie mögen erzählen was sie wollen in ihren Sagen und Liedern – Hagen hat ihn nicht wegen der Ehre seiner Königin getötet. Hagen war ein Wächter und tat nichts anderes als das, wofür er verpflichtet worden war. Dummerweise hat er dadurch, dass er danach alle Habseligkeiten Siegfrieds beseitigte, auch mir enorm ins Handwerk gepfuscht. Man mag mir daher verzeihen, dass ich nicht unbedingt mit Zuneigung an ihn denke.
Seit ich davon erfahren hatte, versuchte ich, herauszufinden, wo und wie er meinen Schatz verborgen hat. Darum blieb ich in Worms. Darum suche ich mit Schiffen seit Jahrhunderten den Rhein ab. Darum durchforste ich alle Archive und folge jeglichem Hinweis, den ich bekomme. Am Anfang war es wie ein Zwang. Ich hatte nicht Anteil am Tod meines Vaters und meines Bruders und dann meinen eigenen Tod durchlebt, um am Ende mit leeren Händen nach Earrach zurückzukehren. Das ließ mein Stolz nicht zu.
Inzwischen ist es schon eher Gewohnheit, das einzige, was meinem Leben eine Art Sinn gibt. Und damit sind wir in der Gegenwart. Bald wird die Sache auf die eine oder andere Weise endlich abgeschlossen, denn ich hoffe auf eine Lieferung, die mir neue Möglichkeiten der Nachforschung eröffnet. Sollte dies ebenfalls fehlschlagen, werde ich aufgeben und zurückkehren, um meine Fertigkeiten zumindest noch für den Rest meines Lebens wieder in den Dienst der Fürsten der Elfen zu stellen. – Und das ist das Ende der Geschichte.«
Alberich drehte den Kopf und biss Rian spielerisch ins Ohrläppchen. Sie quietschte protestierend, entzog ihm das Ohr und funkelte ihn strafend an. Er nutzte die Gelegenheit, um seine Lippen dicht an ihre zu führen. Kurz davor verharrte er jedoch. Sie sah nur noch seine tiefschwarzen Augen, wie endlose Schächte, in denen man sich verlieren konnte. Mit einem leisen Seufzen schloss sie die Lider und hob ihren Kopf dem seinen ein Stück entgegen, bis ihre Lippen sich berührten.
Erwartungsvoll beschleunigte sich ihr Atem, und die Härchen auf ihrer Haut stellten sich auf. Sie öffnete leicht den Mund, doch zu ihrer Überraschung zog er sich bereits wieder zurück. Zugleich löste er seinen Griff um sie. Verwirrt öffnete Rian die Augen. In diesem Moment umfasste er sie an Rücken und Oberschenkeln, stand auf und hob sie mit sich hoch. Ein überraschter Laut entfuhr der Elfe. Hastig schlang sie ihre Arme um seinen Hals.
»Nun, meine schöne Prinzessin, möchte ich dich in meinen magischen Turm entführen«, sagte Alberich. »An der Spitze ist ein Zimmer, dessen Fenster in alle Welten schauen, und darin steht mein hoffentlich auch einer Prinzessin wie dir angemessenes Bett. Dort würde ich dann gerne über dich herfallen und einige meiner Lüste und Triebe an dir ausleben. Wäre das in deinem Sinne?«
Sie lachte auf. »Solange du dabei Wert auf meine Zustimmung legst, ist das genau in meinem Sinne.«
»Das erfreut mein altes Herz. Angelina, du solltest David bei Gelegenheit unser romantisches Gästezimmer zeigen. Ihr entschuldigt uns dann?«
Ohne auf eine Antwort zu warten trug Alberich Rian aus dem Zimmer und in seinen Turm hinauf.
*
Alebin schnalzte mit der Zunge und sämtliche Fenster seines Hauses flogen auf. Trübes rotes Abendlicht ergoss sich in den großen Raum, den der Elf zu seinem Atelier gemacht hatte. Eine Handbewegung ließ die feuchten Tücher herabgleiten, mit denen er das Werk seiner Hände vor der Austrocknung geschützt hatte.
Zufrieden betrachtete der Elf die stehende, mannshohe Tonfigur eines nackten Mannes, die darunter zum Vorschein kam. Mit den Fingerspitzen fuhr er die sorgfältig aufmodellierten Gesichtszüge nach, strich den Hals entlang und über Brust und Bauch hinunter bis zum Geschlecht. Dann trat er einen Schritt zurück, legte den Kopf etwas zur Seite und verschränkte die Arme.
»Wenn man dich recht betrachtet, bist du doch ein schönes Wesen«, sagte er mit einem schiefen Lächeln. Er nahm ein mit dunkelrotem Wein gefülltes Glas von dem Tischchen mit seinen Modellierwerkzeugen, stürzte einen Teil des Inhaltes hinunter, stellte es dann wieder beiseite und rieb sich die Hände.
Er spuckte auf seine Fingerspitzen, trat wieder vor und verteilte die Flüssigkeit im Gesicht der Tonfigur. Das gleiche wiederholte er noch an einigen anderen Stellen, ehe er sich eine Haarsträhne auszupfte und hinter die Statue trat. Er legte die Ansätze der Haare an den Hinterkopf der Figur, drückte sie vorsichtig hinein und verstrich dann den Ton wieder so, dass nichts mehr von dem Eingriff zu erkennen war außer den herabhängenden dünnen Härchen. Noch immer dahinter stehend trat er dicht an die Figur heran, sah ihr über die linke Schulter und drückte vorsichtig seine Wange gegen die des Tonelfen.
»Du wirst meine Stelle einnehmen, während ich Besseres zu tun habe«, flüsterte Alebin. »Du wirst mein Stellvertreter sein, mein Haus bewohnen, meine Aufgaben erledigen, meine Besucher unterhalten … du wirst ich sein, für eine Weile.« Alebin zuckte die Achseln. »Allzu viel wird es ohnehin nicht zu tun geben, denn im Schloss bin ich vorerst nicht gern gesehen, und man hat mir für eine Weile frei gegeben. Zweifellos werden mich infolgedessen auch meine wenigen sogenannten Freunde meiden. Und das ist besser so, denn dein Denken kann ich in der kurzen Zeit, die uns bleibt, leider nur mit wenigen Dingen füllen.«
Langsam ging er um die Figur herum, bis er wieder vor ihr stand. Er nahm einen spitzen Dolch vom Tischchen, stach sich damit in die Fingerkuppe des linken Zeigefingers und beobachtete, wie sich ein stetig größer werdender Blutstropfen über dem Einstich bildete. Ehe der Tropfen groß genug wurde, um abzulaufen, legte Alebin den Finger dort gegen die Figur, wo bei ihm selbst das Herz schlug, und bohrte ihn tief hinein.
»Viel von mir steckt bereits in dir, mein Freund. Nun schenke ich dir von meinem Blut. Spüre meinen Puls, damit auch du einen Herzschlag erhältst.«
Als Alebin ein schwaches Echo seines Pulses in der Figur spürte, zog er den Finger zurück und wischte ihn mit einem Tuch ab. Die Wunde hatte sich bereits verschlossen. Erneut griff er nach dem Glas, trank den Rest des Inhalts und füllte es dann wieder aus einer geschliffenen Kristallkaraffe, die unter dem Tisch stand.
Die nächste Viertelstunde verbrachte Alebin damit, das geschaffene Loch zu verschließen und die Oberfläche zu glätten. All diese Dinge musste er ohne die Unterstützung seiner Magie tun, und es hatte ihn viele Jahre gekostet, diese Kunst zu perfektionieren. Doch es war der Mühe wert, wie er fand – und sei es nur, damit er selbst sich am eigenen Körper erfreuen konnte.
Als keine Spur mehr von der Stelle zu finden war, an der er sein Blut in den Tonelf eingebracht hatte, war die nebelverhangene rote Sonne vom Himmel verschwunden und hatte der Dunkelheit der Nacht Raum geschaffen. Kleine leuchtende Kügelchen erhellten stattdessen das Atelier mit vielfarbigen Lichtschimmern, die scharfe Löcher in die Finsternis stanzten.
Alebin legte den Spatel beiseite und breitete lächelnd die Arme aus. Neue Energie schien ihn zu erfüllen, straffte seine Gestalt und brachte seine Augen zum Funkeln. Sein Haar bekam einen rötlichen Glanz und zog sich zu leichten Locken zusammen, und die Blässe seiner Haut gewann einen anziehenden seidigen Schimmer. Die Magie der Nacht vollzog die Veränderung, die in der Natur des Elfen lag, und er genoss es.
»Und nun kommt der beste Teil, mein Freund«, murmelte er. Er trat auf die Figur zu, die eine exakte, spiegelbildliche Kopie seiner selbst war, umarmte sie und küsste sie auf die irdenen Lippen.
»Ich schenke dir von meinem Atem«, flüsterte er und hauchte in die ausgehöhlten Nasenlöcher.
Von einem Moment zum nächsten wandelte sich der kalte Ton unter Alebins Händen zu weicher Haut und warmem Fleisch. Goldschimmerndes Haar spross überall aus dem kahlen Schädel hervor, bis es die Länge erreicht hatte, die Alebins Haare vorgaben. Gleichmäßige Atemzüge drangen aus der schwach zuckenden Nase, und unter den Augenlidern waren die Bewegungen von Augäpfeln zu erkennen.
Alebin ließ seine Finger an der Brust des Spiegelelfen hinuntergleiten, bis er den Herzschlag spürte. Dann trat er erneut zurück und schlug drei Mal kräftig die Hände zusammen.
»Erwache, Nibela!«, rief er. »Erwache, und sei Alebin, bis ich dich von deinem Dienst entbinde!«
Der irdene Elf schlug die Augen auf, und sein Blick begegnete dem seines Schöpfers. Alebin lächelte, nahm das Glas auf und prostete seinem Werk zu.
»Alles Gute zum Geburtstag, mein Freund.«