Читать книгу Elfenzeit 2: Schattendrache - Verena Themsen, Uschi Zietsch - Страница 9

2.
Im Reich der Nibelungen

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Hart klang das Klappern von Pferdehufen auf Asphalt von den Wänden der Häuser wider und erzeugte Wellen in den Pfützen am Straßenrand, die das mattweiße Licht der Straßenlaternen zurückwarfen. Hier und da wurde ein Vorhang zurückgezogen, und Kinder in Schlafanzügen drückten ihre neugierigen Gesichter an den Fensterscheiben platt.

Doch ansonsten zeigte niemand Interesse für das seltsame Reiterpaar, das Einzug in der Stadt der Nibelungen hielt. Die geplagten Hundebesitzer, die trotz der späten Stunde und der nassen Wege ihre Tiere ausführen mussten, hoben kaum den Kopf, und die wenigen Autos, die unterwegs waren, fuhren zügig an ihnen vorbei, um so schnell wie möglich ihre trockenen Garagen zu erreichen.

Rian sah sich aufmerksam um, musterte die Sandsteinfassaden und Fachwerkhäuser und zog unwillkürlich Vergleiche zu der einzigen Menschenstadt, die sie bisher kennengelernt hatte.

»Das hier ist so … so völlig anders als Paris«, meinte sie über das Hufklappern hinweg zu David. »So ruhig, verschlafen, keine hohen Gebäude, kaum Beton und Stahl, und fast überall sind hübsche Gärten vor den Häusern.«

David zuckte die Achseln. »Wir sind gerade mal am Stadtrand angekommen. In den Außenbezirken von Paris gibt es bestimmt auch ein paar Orte wie den hier.« Er machte eine ausholende Bewegung, die den hinter ihm sitzenden Pirx beinahe aus dem Gleichgewicht brachte. Der Pixie wedelte leicht mit den Armen und krallte sich dann mit einem Protestknurren am Gürtel des Elfen fest.

Rian rümpfte die Nase. »Die meisten Außenbezirke, die ich dort gesehen habe, waren nicht gerade einladend. Kein Vergleich zu dem hier.«

Grog hinter ihr brummte. »Das hier ist mehr das, was ich kenne, auch wenn sie sogar hier diese stinkenden Vehikel haben. So war es damals, als ich die Menschen besuchte und sie noch mit ehrlichem Holz und Stein bauten anstatt mit Metall und Beton.«

»Mhm«, machte Rian, ohne den Blick von einem etwas nach hinten gerückten Fachwerkhaus mit Türmchen zu nehmen, an dessen Wänden dunkler Efeu emporrankte.

David blieb deutlich unbeeindruckter von der Umgebung. Anstatt der Häuser und Gärten musterte er die Schilder und Wegweiser, während die Pferde weiter in gemächlichem Schritt der Straße folgten.

»Hier steht nirgends etwas von einem Brunnen«, stellte er fest. Dann deutete er auf ein braunes Schild, das eine Querstraße hinunterwies. »Hotel Siegfriedsruh. Da hätten wir zumindest mal Siegfried.«

Rian hob die Augenbrauen. Dies war der erste Beweis, dass David doch das Lesen erlernt hatte und mitnichten nur die Bilder anschaute. Aber sie zog es vor, nicht weiter darauf einzugehen.

»Hotel klingt ohnehin nicht schlecht«, sagte sie stattdessen. »Wir sollten die Pferde freilassen. Es ist schon spät, wir können uns genauso gut morgen auf die Suche machen, ausgeruht und frisch.«

David nickte, und sie lenkten die Pferde mit leichtem Schenkeldruck die Querstraße hinunter. Hier wurde die Bebauung bereits dichter, das Fachwerk seltener, stattdessen überwogen verputzte und teilweise mit Stuck verzierte Häuser in den Fassadenreihen. An einem modernen Haus mit einem verglasten Vorbau prangte ein Schild mit dem Bild eines blondgelockten Kriegers, der auf einem Hügel schlief. Darunter stand in geschwungenen Buchstaben Zur Siegfriedsruh. Rian parierte ihr Pferd und legte den Kopf etwas schräg, während sie das Schild betrachtete.

»Sieht dir ein wenig ähnlich, bis auf die Locken«, sagte sie. David warf ihr einen verächtlichen Blick zu und stieg ab. Er half Pirx herunter und gab seinem Pferd dann einen leichten Klaps, der es davontraben ließ.

Rian glitt ebenfalls vom Rücken ihres Fuchses und setzte Grog ab, ehe sie dem Pferd an den Hals klopfte. »Danke, meine Schöne«, flüsterte sie. »Und jetzt geh zurück.«

Die Fuchsstute schloss mit einem kurzen Galopp zu ihrer Gefährtin auf, und wenig später verschwanden beide Tiere im Trab um eine Häuserecke.

»Ich hoffe, sie finden den Weg nach Hause«, sagte Rian.

»Eher als wir«, meinte David mit deutlich hörbarem Sarkasmus.

Rian warf ihm einen kurzen Blick zu, verzichtete jedoch auf eine Erwiderung und ging stattdessen auf die automatisch aufgleitende Schiebetür in dem Glasvorbau zu. Pirx kletterte auf ihre Schulter, und Grog schloss zu ihr auf. David bildete das Schlusslicht, um das lange Offenstehen der Tür nicht seltsam erscheinen zu lassen.

Sie gingen an einigen Grünpflanzen und Rattanmöbeln vorbei durch einen weiteren Durchgang, der sie in einen marmorgefliesten Eingangsraum mit holzgetäfelten Wänden führte. Zur Rechten beherrschte ein langer und hoher Empfangstisch aus dunklem Holz den Raum, während hinten eine rustikale Treppe und ein Aufzug zu sehen waren. Links gab eine offenstehende, ebenfalls rustikal gearbeitete Tür den Blick auf ein Restaurant mit Bar frei. Der Bereich mit den Tischen war unbeleuchtet, anscheinend wurden keine Essensgäste mehr erwartet. An der Bar saß ein turtelndes junges Pärchen mit einer Flasche Mezcal vor sich.

Rian ging zielstrebig zur Rezeption und läutete die Glocke, während David unschlüssig im Raum stehenblieb, den Blick auf die Bar gerichtet. Grog schlenderte weiter zum Aufzug und setzte sich auf einen dort bereitstehenden Gepäckwagen.

Durch eine Tür hinter dem Empfangstisch kam ein bebrillter Mann in mittlerem Alter mit offensichtlich gefärbtem dunklem Haar. Er trug einen dunkelgrünen Anzug, dessen aufgestickte Aufschrift Siegfriedsruh eine Hoteluniform vermuten ließ. Das goldene Schildchen an seinem Revers verriet, dass sein Name Harald Gottmann war.

»Guten Abend, die Herrschaften«, begrüßte er sie in geschäftsmäßig-freundlichem Tonfall. »Was kann ich für Sie tun?«

»Haben Sie noch zwei Doppelzimmer frei?«

Der Rezeptionist musterte Rian kurz, und man konnte förmlich sehen, wie hinter seiner Stirn die Gleichung »Kleidung = Geld« ablief. Schließlich sah er auf einen Bildschirm, der unter der hohen Theke des Tisches verborgen stand, tippte ein wenig auf einer Tastatur herum, und lächelte dann.

»Ja, wir hätten da noch etwas. Mit Blick auf den Dom sogar, wenn Sie möchten.«

»Möchten wir.« Rian zog aus ihrer Umhängetasche den Geldbeutel, den sie sich besorgt hatte, nachdem Nadja die Zwillinge dazu überredet hatte, zumindest gelegentlich mit echtem Geld zu bezahlen. Sie öffnete das Fach für die Scheine und fragte: »Wie viel für eine Nacht?«

Die Augen des Mannes wurden weit, als er Farbe und Menge der Scheine sah.

»Ah … ich könnte Ihnen auch unsere Suite anbieten, die ist ganz ruhig im obersten Stockwerk gelegen …«

»Hat sie zwei breite Betten?«

»Zwei getrennte Schlafzimmer mit Doppelbetten, jedes mit separatem Bad, sowie einen geräumigen Wohnbereich. Es gibt außerdem einen großen Fernseher, Video- und DVD-Spieler, eine Minibar und eine kleine Kochzeile.«

»Gut, dann nehmen wir die. Wie viel?«

Der Mann nannte einen Preis, doch als Rian begann, die Scheine auf den Tisch zu zählen, hob er abwehrend die Hände.

»Meine Dame, normalerweise wird hier erst bei der Abreise bezahlt. Wer weiß, vielleicht verführt Sie unsere schöne Stadt ja doch zu einem längeren Aufenthalt …« Er lächelte ein Werbelächeln, wie man es sonst nur von Plakaten kannte.

Rian hob kurz die Augenbrauen und schob die Scheine dann wieder ein. »Schön ist die Stadt wohl, so weit ich das bisher sehen konnte. Aber wir hoffen, dass wir schnell finden, was wir suchen, und dann rufen uns andere Pflichten.«

»Was suchen Sie denn, wenn ich fragen darf?«

Die Elfe lächelte den Mann gewinnend an. »Wir suchen den Siegfriedsbrunnen. Können Sie uns sagen, wo wir den finden?«

»Siegfriedsbrunnen? Sie meinen den beim Dom?«

Rian wandte den Kopf und wechselte einen schnellen Blick mit ihrem Bruder, doch dieser hob nur die Schultern. Die Elfe sah wieder zurück zu dem Rezeptionisten. »Ja, vielleicht«, antwortete sie vorsichtig. »Warum fragen Sie?«

»Na ja, es gibt in dieser Gegend Siegfriedsbrunnen wie Sand am Meer. Jedes dritte Dorf hat so einen.«

Rian atmete einmal tief durch. Das eben Gehörte war für sie nicht leicht zu verdauen. »Jedes dritte Dorf? Wirklich? Und welcher davon ist der echte?«

Der Mann sah sie fragend und etwas mitleidig an. »Der echte? Was meinen Sie damit? Der, an dem Siegfried angeblich getötet wurde?«

Rian nickte nur stumm.

»Ach so. Na, davon gibt es nur, na, so fünf bis zehn. Überall im Odenwald und sogar bis hinunter ins Kraichgau, glaube ich. Aber nageln Sie mich nicht fest, ich kenne nur den Brunnen hier, und der ist jedenfalls nicht der echte, denn der ist nicht mal hundert Jahre alt.«

Rian seufzte. »Und wo können wir mehr darüber erfahren, wo der echte sein könnte? Oder der, der am ältesten ist?«

»Am ehesten in der Touristeninformation am Markt, würde ich sagen. Da können Sie dann auch gleich unseren Wormser Siegfriedbrunnen bewundern, der steht nämlich auch dort. Und sie sollten unbedingt den Dom anschauen, das Schmuckstück unserer Stadt. Der ist ebenfalls nur wenige Meter weit weg davon.«

Der Mann nahm etwas aus einem Fach und legte es auf den Tresen. »Das hier ist ein Stadtplan. Da finden Sie die Touristeninformation eingetragen, und auch die wichtigsten Sehenswürdigkeiten unserer schönen Stadt. Legen Sie sich nicht zu sehr auf diesen Brunnen fest – Worms hat viel Schönes zu bieten. Dies ist eine der ältesten Städte Deutschlands und ist Ort vieler historisch bedeutender Ereignisse gewesen, von den sagenhaften mal ganz abgesehen. Und nicht umsonst wird es zudem als eines der romantischsten Städtchen Deutschlands bezeichnet. Hier lebt die Geschichte eben noch.«

»Romantisch?« Rian lächelte wieder, und der Mann erwiderte das Lächeln unwillkürlich. »Ja, vielleicht sehe ich mich wirklich noch etwas mehr um. Also sagen wir zwei Nächte. Oder …« Sie sah erneut kurz zu ihrem Bruder, doch dieser studierte die Flaschenreihen im Regal der Bar, und Rian wandte sich wieder dem Rezeptionisten zu. »Nehmen wir drei.«

»Gut. Wenn Sie mir Ihren Ausweis dalassen, fülle ich den Meldeschein für Sie aus. Es sind nur Sie und …« Sein Blick wanderte zu David.

»Mein Bruder David. Ja, nur wir beide.« Rian zupfte ein Blatt von einer Pflanze neben dem Empfangstresen, schüttelte es kurz und reichte es dann dem Mann. »Hier mein Ausweis.«

»Danke schön. Sie erhalten ihn morgen früh zurück.« Der Mann legte das Blatt neben seine Tastatur, kam dann hinter dem Empfangstisch hervor und suchte mit seinem Blick den Boden ab.

»Kein Gepäck?« Er sah Rian fragend an.

»Oh, ja …« Erst jetzt fiel der Elfe auf, dass sie die beiden in Paris gepackten Reisetaschen im Zug vergessen hatten. »Ähm … das Gepäck kommt nach. Hoffentlich.«

»Ah. Auf dem Flug verloren gegangen?«

»Ja. Genau so ist es.«

»So etwas kommt leider häufig vor. Sollten Sie etwas brauchen – Kosmetikartikel oder ähnliches –, sagen Sie mir Bescheid, ich kümmere mich darum.«

»Nein danke, alles was wir heute Abend brauchen, haben wir, und morgen werden wir uns einfach neue Sachen kaufen, falls das Gepäck nicht rechtzeitig ankommt.«

»Gut.« Der Mann nickte und reichte Rian eine Schlüsselkarte und erklärte die Nutzung. »Ich wünsche eine gute Nacht.«

»Danke. Ich denke, die werden wir haben.«

Rian ließ den Stadtplan und die Schlüsselkarte in ihre Umhängetasche fallen und drehte sich zu David um. In diesem Moment kreischte die junge Frau an der Bar auf und ließ ihr Glas fallen. Blass deutete sie auf die Flasche auf der Theke.

»Der … der Wurm … er hat sich bewegt! Er ist rumgeschwommen! Da, schau!«

»Aber Mausi, das kann doch nicht sein, der ist tot!« Der junge Mann lachte auf.

Der Mann vom Empfang murmelte eine Entschuldigung und hastete zur Bar, um die Scherben aufzusammeln.

»Pirx, lass das!« zischte Rian dem Pixie zu.

»Tut mir leid«, piepste er. »Manchmal geht es einfach mit mir durch …«

»Tunichtgut«, brummte Grog leise und packte den Pixie mit geübtem Griff durch die Mütze hindurch an den Kopfstacheln, um ihn hinter David und Rian her zum Aufzug zu ziehen. »Man weiß manchmal wirklich nicht, was man mit dir anfangen soll.«

Am nächsten Morgen standen die Elfen bei Sonnenaufgang auf und bedienten sich am Frühstücksbuffet an Früchtesalat und süßen Brotaufstrichen. Grog und Pirx bekamen ebenfalls unauffällig ein paar Früchte zugesteckt mit der geflüsterten Anweisung, sich aufs Zimmer zurückzuziehen. Durch die Fenster des Frühstücksraums konnte man sehen, dass die Regenwolken des Vortags zum Großteil vom Wind davongetrieben worden waren, und als die Elfen später auf die Straße traten, spiegelten sich die Strahlen der Morgensonne in den verbliebenen Pfützen und tauchten das Städtchen in ein angenehmes goldgelbes Licht.

»Es ist schön hier, wenn es nicht gerade regnet«, sagte Rian, während ihr Blick an einer stuckverzierten Hausfront ein Stück weit die Straße hinunter hängenblieb. Die Verzierungen zeigten ineinander verschlungene Blumenranken und Blüten, die in Rian erneut die Erinnerung an ihr Heimweh vom Vortag weckten.

»Wie du meinst«, meinte David. »Aber das hilft uns nicht weiter. Wo ist dieser Stadtplan?«

Rian zog den Plan aus ihrer Tasche und entfaltete ihn. Gemeinsam mit ihrem Bruder enträtselte sie die Einträge darauf, bis sie schließlich einigermaßen einig waren, welchen Weg sie wählen mussten. Rian steckte den Plan wieder weg und eine zweistündige Odyssee durch die Straßen von Worms begann.

Als sie schließlich zum fünften Mal auf den alles überragenden gotischen Dom zuhielten, um sich von dort aus neu zu orientieren, fanden sie sich unvermittelt an einer Kreuzung wieder, auf deren anderer Seite neben einer zurzeit geschlossenen Eisdiele einige Marktstände und -wagen aufgebaut waren. Erfreut stopfte sich Rian einen von den Nougattrüffeln in den Mund, die sie umgehend erworben hatte, und zeigte auf die Kirche, die sich darüber erhob.

»Das muss diese Heilig-Geist-Kirche sein«, rief sie. »Dahinter ist es!«

»Wenn du nicht an jedem Laden mit Süßigkeiten oder Glitzerzeug angehalten hättest, könnten wir schon längst da sein«, bemerkte David lakonisch. »Also gehen wir.«

Sie warteten nicht bis zur nächsten Grünphase, sondern eilten schnell über die ohnehin leere Straße. Die Aufregung ließ Rian wie ein junges Reh weiterrennen, zwischen den wenigen Marktbesuchern hindurch und zur Ecke der Kirche. Dort erhob sich ein zweistöckiger Brunnen, auf dessen Spitze ein steinerner Krieger sein Schwert in einen schlangenartigen Drachen trieb. Erstaunt blieb sie stehen und starrte hinauf, bis sie Davids Schritte neben sich hörte.

»Schau mal!«, rief sie aus und wandte sich ihm zu. »Glaubst du, dieser Siegfried hat tatsächlich einen der Drachen getötet?«

»Ist mir einerlei«, antwortete David gereizt. »Aber da drüben ist das große I für Information, und da gehe ich jetzt hin!«

»Oh.« Rian warf einen letzten Blick auf die Statue, ehe sie David folgte. Als Grog keuchend zu ihr aufschloss, Pirx hinter sich im Schlepptau herziehend, sah sie zu ihm hinunter und lächelte. »Sag mal, Grog, hast du welche von den alten Drachen gekannt?«

»Uff«, antwortete der Kobold und versuchte, wieder zu Atem zu kommen, während er neben ihr in einen gleichmäßigen Trott fiel, um ihren langen Schritten zu folgen. »Schon. Ich habe den einen oder anderen von ihnen getroffen. Ist aber eine ganze Weile her. Ich schätze, die sind noch seltener geworden als die Riesen.« Grog blinzelte leicht, und Rian musste schlucken, als sie an ihren Vater dachte.

In diesem Moment erklang vor ihr die leise Glocke der Eingangstür zur Touristeninformation, und Rian beeilte sich, die Tür für Grog und Pirx aufzuhalten, ehe sie selbst eintrat. Eine Viertelstunde später kamen sie wieder heraus, um einige Karten und Broschüren zu Worms, dem Nibelungenlied und der Siegfriedstraße reicher.

Rian seufzte. »Das ist zwar nett, und sie waren hilfsbereit, aber zu den Siegfriedsbrunnen wissen wir auch nicht viel mehr als vorher.«

»Scheint kein so beliebtes Touristenthema zu sein – was für uns nur gut sein kann«, meinte David. »Sie sagten etwas von einem Nibelungenmuseum. Lass uns auf deiner Karte schauen, wo das ist, vielleicht weiß dort jemand mehr.«

Rian nickte, schob mit bedauerndem Blick die letzte Praline in den Mund und warf die Schachtel in den Abfalleimer. Sie kramte in ihrer Tasche zwischen den Tütchen mit Modeschmuck und Süßigkeiten, die sich unterwegs darin angesammelt hatten, bis sie den Plan gefunden hatte. David war derweil ein Stück weiter zu einer großen Tafel gegangen und winkte sie zu sich. Es stellte sich heraus, dass die Tafel eine Karte von Worms war. Seufzend ließ Rian ihren Stadtplan wieder in der Tasche verschwinden.

Gründlich studierten sie gemeinsam den Plan.

»Sieht doch einfach aus«, meinte Rian. »Hier die Straße runter, und dann links, und dann wieder rechts. Also … da lang.« Sie zeigte in Richtung der Fußgängerzone, aus der sie zuvor gekommen waren.

»Da lang«, brummte Grog und zeigte die Straße hinunter, an der sie standen.

David kniff die Augen zusammen, musterte ein nahes Straßenschild, schaute hinauf zum Dom, dessen massige Türme auch von diesem Platz aus sichtbar waren, sah wieder auf die Karte und zuckte die Achseln. »Grog hat Recht«, stellte er fest. Er wandte sich um, um der Straße in der vom Dom wegführenden Richtung zu folgen, einen »Hab ich doch gesagt!« brummelnden Grogoch und einen auf dem Kantstein balancierenden Pirx im Schlepptau. Rian warf einen kurzen sehnsüchtigen Blick in Richtung der Fußgängerzone mit all den netten Läden, ehe sie sich ebenfalls der Gruppe anschloss.

Ein gutes Stück weiter fanden sie ein Schild, das nach links zeigte. Die nächste Abzweigung verpassten sie, da dort kein Schild mehr stand, bogen dafür eine Straße später ab und standen tatsächlich wenig später vor dem Nibelungenmuseum.

Es wirkte auf Rian, als habe jemand sieben riesige ovale Weinfässer der Länge nach halbiert, die Wände außen mit Blech verkleidet, die Deckel durch Glas ersetzt, und die Rückseiten gegen die an dieser Stelle gut erhaltenen Reste der Wormser Stadtmauer geschoben. Zwischen der vierten und der fünften Fasshälfte stand außerdem ein quadratischer Blechturm mit spitzem Dach. Das mittlere Fass war der Eingang. Was Rian im Vorbeigehen durch die verglasten Außenwände der drei Fässer links daneben gesehen hatte, deutete darauf hin, dass dort eine Ausstellung oder ein Laden war.

Rian stieg die Stufen zum Eingangsfass hoch und trat ein, gefolgt von den Kobolden und David. Vom Eingangsbereich aus kamen sie an einigen Garderobenständern vorbei in einen breiten Quergang, der innerhalb der Stadtmauer lag. Nun verstand Rian die Form der modernen Anbauten: Die Mauer musste an dieser Stelle einen Bogengang beherbergt haben, und in die Bögen dieses Gangs hatten die Erbauer die Räume eingepasst. Vielleicht war sogar in früheren Zeiten jeder dieser Bögen ein eigener Raum gewesen, und der Quergang war erst nachträglich erschaffen worden.

Rian blieb unschlüssig stehen und sah in beide Richtungen des Quergangs. Links sah man einen Bereich, der als Verkaufsraum diente. In einer Vitrine lagen nachgearbeitete historische Fundstücke, Bücher und Broschüren aus, und allerlei andere Souvenirs waren dazwischen verteilt. Rechts sowie über eine geradeaus befindliche Wendeltreppe schien es in verschiedene Teile des eigentlichen Museums zu gehen.

Während Rian noch zögerte, steuerte David direkt auf einen links im nächsten »Fass« aufgestellten Tresen zu, hinter dem eine junge Frau mit schulterlangem schwarzem Haar saß und etwas sortierte. Rian gab den Kobolden Zeichen, im Eingangsbereich zurückzubleiben.

Als David sich mit verschränkten Armen auf den Tresen lehnte, sah die Frau dahinter auf und schob eine störende Haarsträhne hinter ihr Ohr, ehe sie zu lächeln begann. Ihre leicht mandelförmigen Augen leuchteten dabei in einer Weise auf, die Rian verriet, dass ihr Bruder sie bereits für sich eingenommen hatte, ehe er auch nur ein Wort gesagt hatte.

Die Elfe empfand etwas zwischen Amüsiertheit und Mitleid für die Menschenfrau. Sie war hübsch und könnte seine nächste Eroberung werden. Unter Elfen war so etwas üblich, doch Menschenfrauen schienen damit oft Probleme zu haben, was ihr Leben in Rians Augen unnötig kompliziert machte.

Die Elfe seufzte leise und nahm von einem Tischchen einen kleinen bunten Stoffdrachen auf, der mit Sand gefüllt war, um damit herumzuspielen, während sie ihren Bruder und die Frau am Tresen beobachtete.

»Wir sind auf der Suche nach dem echten Siegfriedsbrunnen«, sagte David. »Können Sie uns sagen, wo wir ihn finden?«

Die Frau lachte auf, und der helle Klang machte sie Rian spontan sympathisch.

»Wenn ich das wüsste, müsste ich mir um das Thema meiner Doktorarbeit keine Sorgen mehr machen«, antwortete sie. »Seit Jahrhunderten wird darüber gestritten, welcher der vielen Kandidaten der richtige ist, und für jeden gibt es gute Argumente. Welcher es wirklich ist, und ob es überhaupt einen echten Brunnen gibt – wer kann das schon wissen?« Sie hob die Hände in einer hilflosen Geste, und ihre Augen funkelten fröhlich, während sie lächelnd von David zu Rian sah. Die Elfe erwiderte das Lächeln und setzte den Stoffdrachen wieder ab.

David fuhr sich durch das Haar und fing den Blick der jungen Frau damit wieder für sich ein. »Wir würden es vielleicht herausfinden, wenn wir diese Orte einmal besuchen könnten.«

Die Augenbrauen der Frau wanderten hoch. »So? Inwiefern?«

»Wir haben ein Gespür für so etwas.« Rian hörte das Lächeln in seinen Worten, ohne es sehen zu müssen.

»So ein Gespür käme mir zupass«, erwiderte die junge Frau trocken. »Allerdings würde es mir keinen Gewinn bringen, solange ich es nicht mit Fakten untermauern könnte.«

»Vielleicht können wir auch Fakten dazu liefern«, warf Rian ein, während sie zu einem Tischchen mit wassergefüllten Halbkugeln schlenderte, in denen grüne Drachen saßen.

»Sie?« Der Unglaube war klar aus der Stimme der Frau herauszuhören.

Rian nahm eine der Kugeln auf, sah dann zu der jungen Frau und nickte. Diese runzelte die Stirn.

»Was sind Sie – Historiker? Warum wissen Sie dann nicht bereits, wo die Brunnen liegen?«

»Wir sind nicht von hier«, antwortete Rian und drehte die Kugel auf den Kopf, um kurz darauf goldenen Flitter und Sternchen auf den Drachen regnen zu lassen. Der Anblick ließ sie lächeln. »Und nein, wir sind keine Historiker. Wir sind … Journalisten.« Es war das Erste, was ihr einfiel. Und sie hielt es für keine schlechte Idee. Als sie Davids seltsamen Blick auffing, war sie sich jedoch nicht mehr so sicher.

»Journalisten, ah. Na ja, da können Sie kaum die Fakten liefern, die ich bräuchte.« Die Frau lachte wieder auf, machte eine Handbewegung, als wolle sie etwas wegwischen, und sah dann erneut zu David. »Demnach schreiben Sie eine Reportage über die Siegfriedbrunnen?«

»Genau«, antwortete er. »Und wenn Sie uns mit ein paar Auskünften unterstützen, wären wir äußerst dankbar. Wir könnten Sie zum Beispiel im Gegenzug heute Abend im Restaurant unseres Hotels zum Essen einladen, und ich werde Ihnen an der Bar dort Cocktails mixen, die Ihnen unter Garantie munden.«

»Na das werden wohl spezielle Cocktails sein«, antwortete die Frau mit einem schrägen Lächeln. Die vorsichtige Skepsis in ihren Worten stand dabei in krassem Widerspruch zum Leuchten ihrer Augen, während sie David ansah.

Herz und Verstand kämpften offensichtlich um die Vorherrschaft, doch Rian war klar, wer siegen würde. Bei diesen Frauen siegten immer die Herzen, und erstaunlicherweise sogar dann, wenn sie genau spürten, dass David nicht mehr als eine kurze Liaison anstrebte. Elfenzauber verfehlte nie seine Wirkung.

»David mixt hervorragende Cocktails«, sagte sie, während sie erneut die Traumkugel herumschwenkte. »In Paris hat mein Bruder damit sein Geld verdient.«

»Paris? Sie kommen aus Paris?«

»Nicht ursprünglich«, antwortete David. »Aber wir haben eine Weile dort gelebt.«

»Ich möchte dort auch irgendwann hin«, bemerkte die junge Frau. »Im Studium hat es mit dem Austausch nicht geklappt, aber …«

Ein paar Leute kamen herein und schauten sich um. Die junge Frau sah zu ihnen hin und dann zurück zu den Elfen.

»Ich werde sehen, was ich herausfinden kann«, meinte sie unvermittelt. »Gehen Sie doch einfach so lange in das Museum. Sicher finden Sie dort Stoff für Ihre Reportage.« Sie zog zwei Geräte hervor und reichte sie ihnen. »Kopfhörer auf, Knopf auf die gewünschte Sprache stellen, dann erhalten Sie an jedem Punkt Informationen.« Kurz zwinkerte sie David zu und wandte sich dann den neuen Kunden zu.

David trat zur Seite und reichte Rian eines der Geräte. Sie sahen sich an, zuckten die Achseln und gingen in das Museum, ihre beiden unsichtbaren Begleiter mit dabei.

Im Museum erfuhren Rian und David viel über das anscheinend sehr berühmte mittelalterliche Gedicht namens »Nibelungenlied«, das über die Sage um Siegfried und den Niedergang des burgundischen Königshauses berichtete. Über das, was sie wirklich wissen wollten, fanden sie jedoch nichts heraus, obwohl auch die Hintergründe der Entstehung des Gedichtes, die zugrundeliegende Sage und die damit verknüpften historischen Ereignisse erläutert wurden. Dennoch besuchte Rian mehrfach diejenigen Stellen der Ausstellung, an denen die sonore Stimme im Kopfhörer teilweise romantische, größtenteils aber eher tragische Ausschnitte aus der Sage nacherzählte. Sie konnte sich kaum satthören, während David, Grog und Pirx sich für andere Teile der multimedialen Ausstellung interessierten.

Als sie schließlich in den Eingangsraum zurückkehrten, war es bereits Mittag. Die junge Frau hinter dem Tresen hob bei ihrem Anblick mit einem bedauernden Lächeln die Hände.

»Ich hatte noch keine Zeit für Recherchen«, sagte sie. »Heute ist erstaunlich viel los, wenn man die Jahreszeit bedenkt.«

Rian sah David an und sagte: »Wir müssen ohnehin einkaufen. Danach könnten wir wieder vorbeikommen.«

David schüttelte den Kopf. »Ich habe eine bessere Idee.« Er wandte sich der jungen Frau zu. »Kommen Sie doch heute Abend zu uns ins Hotel Siegfriedsruh. Wir essen zusammen, und Sie erzählen uns dabei, was Sie herausgefunden haben. Wir wohnen in der Suite, und unsere Namen sind David und Rian Bonet.«

»Nina Eberts«, antwortete die Frau und reichte David die Hand.

David nahm sie und hob sie an seinen Mund, um in höfischer Manier mit einem leichten Lächeln einen Kuss darüberzuhauchen. Die junge Frau konnte nicht sehen, was Rian sah – die hauchfeinen glitzernden Fäden aus Elfenmagie, die in diesem Moment mit dem Atem des Elfen und über seine Berührung auf ihren Körper übergingen und dort eine Gänsehaut erzeugten. Ninas Augen weiteten sich kurz erstaunt, dann wurde ihr Blick weich und etwas abwesend.

»Ich komme gern«, sagte sie. »Ich freue mich schon darauf.«

»Es wird ein interessanter Abend«, versprach David. »Komm einfach, wann du willst, wir werden da sein.«

Sie nickte nur, und als David ihre Hand losließ, hielt sie sie noch einen Moment in der Luft, ehe sie zurückzog und sie anblickte, als sähe sie sie zum ersten Mal. Die Elfen verließen das Museum.

»Meine Schwester nimmt den großen Salatteller und ein Tiramisu und ein Stück Sachertorte. Für mich bitte das große Rindersteak, medium rare. Was nimmst du, Nina?«

»Ente in Orangensauce«, sagte die junge Frau aus dem Museum. Sie reichte dem Kellner die Karte zurück und sah neugierig zu Rian. »Wie kann man sich nur so viel Nachtisch erlauben und trotzdem so eine gute Figur haben?«

»Die Figur liegt bei uns in der Familie«, antwortete Rian lächelnd und klopfte fürsorglich David auf den Rücken, der sich gerade an seinem Aperitif verschluckt hatte. Vermutlich war ihm das Bild des Vaters vors innere Auge geraten.

Nina schloss die Hände um ihr Glas und sah mit einem schelmischen Lächeln von Rian zu David. »Das scheint ja eine ganz besondere Familie zu sein«, stellte sie fest.

David nickte und räusperte sich, um die Kehle wieder zu reinigen. »Ist sie. Königliches Blut. Das ist alles, was es braucht.«

Nina lachte auf. »Na gut, das habe ich verdient für meine Neugierde. Obwohl man es euch beiden direkt glauben könnte.« Einen Moment sah sie David sinnierend an, dann wandte sie sich ihrer Handtasche zu und kramte darin herum.

»Ich habe zwar unter anderem Mediävistik studiert, aber das Nibelungenlied und die Siegfriedsage waren nicht mein Spezialgebiet«, sagte sie. »Fast alles, was ich darüber weiß, habe ich erst im Museum gelernt, und dort interessiert man sich mehr für den Text an sich und dessen Umfeld als für die genaue Lokalisierung einzelner Schauplätze. Aber das Internet hat schon einiges ausgespuckt, ohne dass ich mich an die Spezialisten wenden musste. Ich habe die betreffenden Seiten gedruckt, samt der Links dazu, sodass ihr selbst prüfen könnt, was für euch von Belang ist.«

Sie zog einige Blätter heraus, die teilweise Bilder von Landschaften zeigten und an den Seiten handschriftliche Ergänzungen aufwiesen. Zuoberst lag ein handbeschriebener Zettel mit sieben Namen, den Nina herunternahm und David reichte.

»Das hier sind die Orte, die ich im Zusammenhang mit den Begriffen Siegfriedsbrunnen oder Siegfriedsquelle gefunden habe und die am vielversprechendsten erscheinen. Die meisten liegen an der Nibelungenstraße, die von hier in den Odenwald führt, oder an der Siegfriedstraße. Das sind sehr schöne Strecken, und wenn ihr etwas Glück mit dem Wetter habt, sind das perfekte Ausflüge.«

David sah auf die Liste und reichte sie dann an Rian weiter, während er sich Nina zuwandte. »Mehrere Ausflüge? Du glaubst, das kann man nicht an einem Tag schaffen?«

Sie lachte auf. »Auf keinen Fall! Nicht, wenn ihr wirklich alle anschauen wollt. Der oberste Ort auf der Liste, Odenheim, liegt im Kraichgau. Das allein ist schon eine halbe Tagesreise, wenn man nicht gerade in einem Ferrari unterwegs ist und sich nicht um Geschwindigkeitsbegrenzungen kümmert.«

»Ferrari. Bekommt man hier so einen?«

Nina schüttelte den Kopf. »Nein, einen Ferrarihändler haben wir hier nicht, so weit ich weiß. Aber es gibt unten in Richtung Hafen einen Autohändler, der auch Autos verleiht, nicht allzu weit von meiner Wohnung weg. Falls ihr keines habt, könnt ihr euch dort eins mieten.«

Rian sah auf das Blatt hinunter, das David ihr gegeben hatte, und las die sieben Ortsnamen darauf.

»Da ist einer, den du in Klammern geschrieben hast. Warum?«

»Das ist Bad König, ja. Da gibt es einen Fafnirquell. Vielleicht nicht das, was ihr sucht, wenn ihr den Brunnen haben wollt, an dem Siegfried getötet worden sein soll, aber ich dachte mir, es ist eine Erwähnung wert. Er liegt ohnehin in der Gegend der meisten anderen Brunnen. Ich weiß allerdings nicht, ob der Name irgendeinen echten Bezug zur Sage um den Drachen Fafnir hat, oder ob sie nur einfach eine ihrer Heilquellen so benannt haben, weil es zum Tourismusthema Nummer eins der Gegend passt.«

Ein Kellner kam und servierte die Gerichte. Nina machte sich sofort mit sichtbarem Appetit darüber her. Rian legte den Zettel neben ihren Teller, rollte mit der Gabel ein Salatblatt auf und knabberte daran herum, während sie erneut die Liste studierte.

»Odenheim, Heppenheim, Amorbach, Bad König, Hiltersklingen/Hüttenthal, Reichenbach, Grasellenbach«, murmelte sie leise und sah zu David. »Mir sagt ein Name so wenig wie der andere. Am besten suchen wir diese Orte nacheinander so auf, wie sie auf der Liste stehen.«

Nina lachte. »Es wäre besser, zuerst auf der Karte eine Route festzulegen, denn die Orte sind nicht regional sortiert. Das kostet sonst zu viel Zeit.«

Etwas in Rian zog sich zusammen als Nina dieses Wort verwendete, und vor ihrem inneren Auge tauchten fallende Blätter auf und die weiße Strähne im Haar ihres Vaters. Sie spürte, dass sie blass wurde.

Auch Nina schien aufzufallen, dass etwas nicht stimmte. Sie hielt im Kauen inne und starrte Rian an.

»Habe ich was Falsches gesagt?«, fragte sie mit besorgtem Blick.

Rian schüttelte den Kopf. »Nein, mir ist nur etwas eingefallen. Ja … ja, ich denke auch, wir sollten uns erst auf einer Karte anschauen, wo diese Orte sind.«

Nina nickte. »Wenn ihr morgen nicht zu früh loswollt, hätte ich einen Vorschlag für euch.«

»Ja?«, fragte David.

Nina warf ihm einen kurzen Blick zu, der von schüchterner Koketterie war, und starrte dann mit leicht geröteten Wangen wieder auf ihren Teller, ohne dass ihre Gabel auch nur zuckte. »Ihr könntet mich morgen nach der Arbeit im Museum abholen. Ich fahre mit euch zu dem Autohändler und bringe eine Karte der ganzen Region vom Odenwald bis zum Kraichgau mit, damit können wir eure Routen planen.«

»Oh, aber wir wollen dir keine Umstände machen«, meinte Rian und warf ihrem Bruder einen scharfen Blick zu. Keine Frage, dass er das gerade eingefädelt hatte.

»Ehrlich gesagt, ich habe ein paar Tage frei und weiß nicht, was ich damit anstellen soll. Da ich ohnehin für meine Arbeit recherchieren muss, warum sollen wir das nicht gemeinsam unternehmen?«

»Das klingt verführerisch«, antwortete David.

Rian sah, wie Ninas Brust sich kurz unter einem tiefen Atemzug hob und senkte. »Großartig!« Nina errötete leicht und konzentrierte sich hastig auf ihren Salat.

*

Nina starrte auf den Bildschirm des Computers, ohne wirklich etwas zu sehen. Es war ein Fehler gewesen, nach dem Abendessen noch im Hotel zu bleiben. Nicht wegen der tollen Cocktails, die David gemixt hatte, und die am Morgen keinerlei Nachwirkungen gezeigt hatten. Auch nicht, weil sie viel zu spät ins Bett gekommen war. Sie war ein gewisses Maß an Schlafmangel gewohnt, denn sie dehnte ihre Abende auch unter der Woche ab und zu aus. Nein, der Fehler hatte darin bestanden, dass es am Ende nicht ihr eigenes Bett gewesen war, in dem sie geschlafen hatte, sondern Davids.

Sie hob in einer unbewussten Bewegung die Hand und berührte ihre Wange dort, wo David es getan hatte. Noch immer spürte sie das leichte Prickeln, als sei ein Funke übergesprungen, der ausgehend von seinen Fingern ihren ganzen Körper erfasste. Wieder durchlief sie das leichte Schaudern und ihre Härchen richteten sich auf. Unwillig schüttelte sie den Kopf, und ihr Blick wurde wieder klar.

Wie dumm muss man sein?, dachte sie. One-Night-Stands gaben ihr schon seit einiger Zeit nichts mehr, denn sie hinterließen am Morgen danach zusehends ein schales Gefühl.

Und trotzdem wusste sie, dass sie jederzeit wieder mit ihm gehen würde, und sei es nur, um noch einmal eine solch magische Nacht zu erleben, die sich mit nichts zuvor vergleichen ließ. Seine Küsse brannten noch jetzt auf ihrer Haut, und seine Berührungen schienen feurige Bahnen durch ihre Nerven gezogen zu haben, die selbst Stunden danach nicht erloschen waren.

Erneut rief Nina sich zur Ordnung. Nach der Eingabe der Datensätze warteten ein paar Kisten mit neu eingetroffenen Souvenirs auf das Auspacken und Einräumen, und später würde sie wieder für eine Weile die Kasse übernehmen müssen. Das sollte ablenken.

Einige Stunden ermüdender und langweiliger Arbeit später konnte Nina endlich den Rechner herunterfahren. Durch die breite Fensterfront hatte sie bereits Rian und David auf der anderen Seite des Platzes erspäht. Nachdem sie sich ihre Jacke übergeworfen und den Kollegen den Abschied zugerufen hatte, verließ sie das Museum.

Nina musste sich beim Betrachten der Geschwister mit leichtem Neid eingestehen, dass Rian mit ihrer modischen Kleidung und ihren geschmackvoll ausgesuchten Accessoires auch ungeschminkt auf eine Weise schön war, wie Nina es niemals sein würde. David hatte sich mit deutlich weniger Modebewusstsein gekleidet, doch gerade die legere Kombination von Jeans und Pullover brachte das Jungenhafte in ihm, das Nina so sehr faszinierte, noch mehr zum Ausdruck.

Die Geschwister kamen Nina mit einem Lächeln entgegen, und Rian legte in französischer Art ihre Wangen kurz an ihre. Auch David trat zu Nina, fasste sie leicht an den Armen und neigte sich vor.

»Hallo, Nina.«

Der schwache Duft nach Blüten und Wald, den er verströmte, die Berührung seiner Wange und der warme Klang seiner Stimme nahmen Nina nahezu den letzten Rest der Kontrolle. Sie musste sich zurückhalten, um sich nicht einfach an ihn zu drängen und statt der in die Luft gehauchten Küsse mit ihren Lippen richtige zu fordern. Stattdessen trat sie mit brennenden Wagen hastig von ihm weg und wandte sich ab, als sie seinen fragenden und leicht überraschten Blick sah.

»Lasst uns zur Bushaltestelle gehen, zu Fuß ist es ein bisschen weit«, sagte sie.

Sie nahmen den Bus bis zur Haltestelle in der Nähe des Rheinufers, und von dort führte Nina die Geschwister in das Gewerbegebiet, in dem der Gebrauchtwagenhändler sein Geschäft betrieb. Rian plauderte die ganze Zeit über die Sehenswürdigkeiten, die sie sich im Laufe des Tages angesehen hatte, den Dom, die vielen interessanten Brunnen in der Innenstadt, und den hübschen Park mit den Statuen auf einem großen viereckigen Block.

Nina erzählte ihr etwas geistesabwesend vom Auftritt des Reformators Luther vor dem Kaiser beim Reichstag, der mit diesen Statuen dargestellt wurde. Sie hatte jedoch nicht den Eindruck, dass der geschichtliche Hintergrund Rian besonders interessierte. Da die Geschwister den Namen und ihrem weichen Akzent nach zu urteilen vermutlich Franzosen waren, erschien das Nina nicht weiter verwunderlich.

Danach kam Rian wieder auf das Nibelungenlied zu sprechen. Es wirkte, als fiele es ihr schwer, manche der berichteten Geschehnisse nachzuvollziehen, und sie stellte ein paar Fragen, die Nina seltsam vorkamen. Zudem schien sie sich besonders für die Geschichte um die Tötung des Drachens Fafnir zu interessieren.

»Glaubst du, dass Siegfried wirklich einen Drachen erschlagen hat?«, fragte sie, als sie am Hof des Gebrauchtwagenhändlers ankamen.

»Da es niemals Drachen gab, nein«, antwortete Nina. »Wahrscheinlich ist es eine mythische Umschreibung für eine große Schlacht oder ein wichtiges Duell. Etwas in der Art. Wenn es denn Siegfried überhaupt gab. So jemand klingt ja eigentlich zu gut, um wahr zu sein.«

Unwillkürlich wanderte Ninas Blick zu David, der die vor dem Autohaus stehenden Wagen begutachtete. Dann nickte sie in Richtung des Eingangs. »Lasst uns erst mal reingehen.«

Während die Geschwister mit dem Händler verhandelten, schlenderte Nina wieder hinaus auf den Hof und zwischen den Gebrauchtwagen hindurch. Jeder Einzelne lag jenseits dessen, was sie sich von ihrem schmalen Gehalt als wissenschaftliche Assistentin und zeitweilige Aushilfe im Museum leisten konnte.

Gerade als Nina sich darüber zu wundern begann, wie lange das Gespräch dauerte, kamen die beiden Geschwister heraus. Rian schwenkte fröhlich einen Autoschlüssel in Ninas Richtung.

»Du kannst doch bestimmt Auto fahren, Nina, oder?«, fragte Rian.

»Klar«, antwortete Nina.

»Super. Du kannst es uns beibringen.«

Nina riss die Augen auf. »Ihr habt keinen Führerschein? Wie habt ihr dann ein Auto mieten können?«

»Es war kein Problem.« Rian tauschte mit ihrem Bruder ein schelmisches Grinsen.

»Und jetzt wollt ihr, dass ich euch das Fahren beibringe? Auf die Schnelle?«

»Es kann nicht so schwer sein«, meinte David mit einem seltsam abfälligen Unterton, der Nina gar nicht gefiel. »Jeder Mensch scheint es zu können.«

»Man braucht Wochen dazu«, erwiderte Nina. »Und selbst wenn ihr es von mir lernt, habt ihr noch immer keinen Führerschein und dürft gar nicht fahren!«

»Das lass unsere Sorge sein«, antwortete Rian lächelnd. »Wir haben bisher noch nie Probleme mit diesen Dingen gehabt. Es gibt nichts, das wir nicht auf unsere Weise regeln können.«

Nian zog kurz die Augenbrauen zusammen, zuckte dann jedoch die Achseln. Es war nicht ihr Problem, wenn die beiden ohne Führerschein erwischt wurden und eine saftige Strafe aufgebrummt bekamen. Wenn man sich ansah, wie sie wohnten und was für Sachen sie trugen, konnten sie es sich vermutlich leisten. Doch die Unbekümmertheit, mit der die beiden an die Sache herangingen, ließ Nina erneut staunen.

Sie nahm von Rian den Schlüssel entgegen und los ging die Fahrt.

*

Fanmór machte aus dem Sitz einen Sprung nach vorn, und der Aufprall sowie der Wutschrei des Riesen ließen die Audienzhalle erzittern. Die Rankenvorhänge kamen ins Schwingen, trockene Blätter und eingeflochtene Blüten lösten sich von Decken und Wänden und rieselten auf die sich ängstlich an die Wände drückenden Elfen herab. Hätte Alebin nicht ohnehin vor dem König der Sidhe Crain gekniet, hätte die Gewalt des mit diesem Wutausbruch verbundenen Sturms ihn von den Füßen geworfen.

»Wie kannst du es wagen, so etwas auch nur zu denken, geschweige denn offen vor mir auszusprechen?«, brüllte Fanmór. »Wie kannst du es wagen, so etwas von mir nicht nur zu erbitten, sondern nachgerade zu verlangen? Was glaubst du, wer du bist, Meidling? Denkst du, kein anderer kann sich um meine Weinkeller kümmern? Oder nimmst du an, nur weil mein Haar die Farbe ändert, könne jemand wie du ungestraft meine Macht anzweifeln? Was sollte mich wohl davon zurückhalten, dir mit meinen bloßen Fäusten für deine Unverschämtheit den Schädel zu zertrümmern und dich nach Annuyn zu schicken?«

Alebin zog die Schultern hoch, beugte sich vor und stützte sich mit den Händen am noch immer bebenden Boden ab. Er sah zu Fanmór auf, eine Spur bleicher als er ohnehin schon war, und sammelte all seinen Mut zusammen.

»Der gleiche Grund, der mir erlaubte, nach dem Schwur hier an Eurem Hof zu bleiben, als die Feinde der Sidhe Crain mit Bandorchu ins Schattenland verbannt wurden«, antwortete er mit einer Stimme, die ihm selbst viel zu schwach erschien, um überhaupt die Ohren des über ihm aufragenden Riesen erreichen zu können. »Weil Ihr wisst, dass ich unserem Volk treu bin und nur sein Wohlergehen im Sinn habe, und weil Ihr Gerechtigkeit schätzt. Darum hoffe ich, dass Ihr meine Worte überdenkt, und mich nicht dafür straft, dass ich sage, was ich für richtig halte.«

Fanmór öffnete den Mund, und alle Anwesenden einschließlich Alebin zuckten unwillkürlich in Erwartung eines weiteren Wutausbruchs zurück. Doch dann presste er die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Der Riese wandte sich ab, kehrte zu seinem Thronsessel zurück und setzte sich darauf. Der Blick, mit dem er Alebin bedachte, machte der eisigen Kälte des Totenreiches Annuyn Konkurrenz.

»Aye, Gerechtigkeit«, sagte er mit einer Stimme, welche die Efeuranken erneut in Schwingungen versetzte, ohne jedoch die ganze Halle zu erschüttern.

»Es war Gerechtigkeit, die Bandorchu dorthin brachte, wo sie nun ist. Und die gleiche Gerechtigkeit verlangt von mir, dafür zu sorgen, dass sie auf immer dortbleibt. Sie hat mit dem, was sie getan hat, viel Leid über unser Volk gebracht, es gespalten und geschwächt. Gerade diese Schwäche mag sogar dem, was jetzt geschehen ist, Tür und Tor geöffnet haben. Sie wäre die Allerletzte, an die ich mich um Hilfe wenden würde, und wenn es den Untergang unseres Volkes bedeutete – denn sie wäre ganz sicher unser Untergang.«

»Warum seid Ihr Euch da so sicher? Tausend Jahre sind vergangenen! Kann sie sich nicht gewandelt haben in der langen Zeit? Sollte man ihr nicht zumindest die Möglichkeit geben, erneut ihre Treue gegenüber unserem Volk zu beweisen, indem sie uns hilft, das aufziehende Unglück abzuwehren? Wollt Ihr lieber unser ganzes Volk dem endgültigen Verwehen preisgeben, als auch nur einen Schritt in dieser Sache zurückzugehen? Selbst wenn es damals kein Fehler war, sie in die Verbannung zu schicken – kann es nicht heute einer sein, sie dort zu halten? Ist solches Verhalten mit Eurer Gerechtigkeit zu vereinbaren?«

Elfenzeit 2: Schattendrache

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