Читать книгу Elfenzeit 2: Schattendrache - Verena Themsen, Uschi Zietsch - Страница 8

1.
Aufruhr im Zug

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Alebin strich eine Strähne seines blassblonden Haares zurück und hob sein helles Gesicht dem Licht entgegen, das durch eines der Bogenfenster des Saals im Herzen des Baumschlosses der Sidhe Crain fiel. Niemand sonst der anderen Wartenden, die den ausgedehnten Audienzraum mit ihrem Raunen und dem Rascheln ihrer Gewänder erfüllten, schien das welke Blatt bemerkt zu haben, das von einem Windstoß durch die Öffnung getrieben worden war. Alebin ließ den Blick seiner großen wasserblauen Augen dem Fall des Blattes folgen, während es im Schimmer des diffus durch Äste und Laub dringenden Lichtes in einer langen Spirale zu Boden sank. Seine Gedanken folgten dabei einer ähnlichen Spirale in die Hoffnungslosigkeit.

Verfall.

Sterben.

Endgültiger Tod.

Niemals zuvor hatten diese Begriffe für Elfen irgendeine Bedeutung besessen. Doch nun wechselte das Grün der Blätter des riesigen Baums zu Gelb und Braun, und immer höher wurden die Haufen welken Laubes, die aus dem Baumschloss gekarrt werden mussten. Das Sterben war nicht auf den Baum beschränkt oder die anderen Pflanzen, die ringsherum verblühten und verwelkten.

Man musste nur einen Blick auf die breite weiße Strähne im dunklen Haupthaar des Königs werfen, um zu ahnen, dass der Verfall sich durch alle Teile des vom Thron der Crain aus beherrschten Reiches Earrach zog, wahrscheinlich war die gesamte Anderswelt davon betroffen. Niemand konnte Genaues sagen, denn alle Tore waren versperrt. Alle, außer dem Zugang zur Welt der Menschen, die schon immer sterblich gewesen waren.

Die Elfen waren dem Tod preisgegeben, dem endgültigen Tod, in dem selbst ihre Schatten verwehen würden, anstatt sich im Reich Annuyn zu manifestieren, wo zumindest ihre Erinnerungen bewahrt wurden.

Es bedeutete das endgültige Ende – wenn sich der Herrscher nicht der einzigen Macht zuwandte, die groß genug war, um Hilfe bringen zu können. Und heute würde Alebin ihn daran erinnern, wo diese Macht zu finden war.

*

Rian starrte durch das Fenster des Abteils auf den breiten grauen Fluss, über den sie gerade auf einer Brücke fuhren, und auf die schmutzig wirkenden Industriegebäude und Lagerhallen am Ufer. Kalter Nieselregen traf das Fensterglas und lief in schmalen Rinnsalen herab, die vom Fahrtwind des Zuges zur Seite getrieben wurden. Die zierliche blonde Elfe folgte mit dem Finger einer Wasserspur und seufzte leise. Tief in ihr erwachte die Sehnsucht nach den bunten Lichtern und dem Leben der Straßen von Paris, und eine noch stärkere nach ihrer eigentlichen Heimat, in der es niemals grau und trüb gewesen war, ehe die Zeit ihren Weg dorthin gefunden hatte.

Doch nach Crain konnte sie erst zurückkehren, wenn sie und ihr Bruder den Quell der Unsterblichkeit gefunden hatten. Selbst die Kinder Fanmórs durften es nicht wagen, dem König unter die Augen zu treten, ehe sie ihren Auftrag erledigt hatten, insbesondere wenn daran sprichwörtlich alles hing. Das Überleben der Anderswelt.

Rian fuhr mit einer Hand durch ihr kurzes strubbeliges Haar und schloss einen Moment die Lider über ihren violetten Augen. Die Zeiten, da sie sorgenfrei und unbeschwert mit den Vögeln geflogen war, schienen ein für allemal vorbei. Selbst wenn es ihr und David gelang, das Reich zu retten, würde es nie mehr dasselbe sein. Veränderung. Auch sie war davon betroffen – kontaminiert, wie ihr Vater sagen würde.

Die Elfe öffnete wieder die Augen und musterte ihren Bruder, der ihr gegenüber saß und mit gelangweilter Miene in einem Bahnmagazin blätterte. Er war nur um Rians willen mit in die Menschenwelt gekommen, und es verging kaum ein Tag, an dem er nicht seine Verachtung ausdrückte für die Sterblichen und ihre Art zu leben und miteinander umzugehen. Er hatte schlimmeres Heimweh als sie, das war Rian klar, und manchmal tat er ihr leid. Vor allem aber war sie froh, nicht allein zu sein. Sie hätte sich niemals vorstellen können, ihre Welt ohne ihren Zwillingsbruder zu verlassen. Sie waren noch nie voneinander getrennt gewesen.

Und auch um ihre weiteren Begleiter war sie froh. Sie sah neben sich, wo der Grogoch über den freien Teil der Sitzbank hingestreckt lag und mit offenem Mund leise vor sich hin schnarchte. Der freundliche Feenkobold, dessen Körper von nichts als seinem eigenen Haar bedeckt wurde, hatte schon früher gelegentlich gemeinsam mit Fanmór die Menschenwelt besucht. Deshalb hatte der Herrscher ihn seinen Kindern als Helfer und Beschützer mitgegeben. Leider hatte sich herausgestellt, dass zu viel Zeit in der Welt der Menschen verstrichen war, als dass seine Erfahrungen noch viel Wert gehabt hätten.

Selbst Pirx, der erst vor kurzem seine neugierige Igelnase durch das Tor gesteckt hatte und daher zum Vierten in ihrem Bunde erkoren worden war, war von den vielen Veränderungen überrascht worden. Es war, als würde das Bewusstsein des Todes die Sterblichen zu immerwährender Hast antreiben.

Rian schaute nach oben, wo Pirx gerade in die Gepäckablage kletterte und mit leisem Quietschen darin herumturnte. Ihn schien die lange Zeit, die sie bereits von ihrer Heimat getrennt waren, noch am wenigsten zu berühren. Doch Rian war sicher, dass selbst diesem quirligen Pixie mit dem Aussehen eines aufrecht gehenden Igels gelegentlich die Ruhe und Schönheit der Heimat fehlte.

Rian hoffte inständig, dass sie in Worms den Brunnen fanden, dessen Wasser den Elfen die Unsterblichkeit zurückgeben sollte. Damit konnten sie heim nach Crain und alle heilen. Vater würde einen Weg finden, den Brunnen so zu versetzen, dass er auch von der Anderswelt aus erreichbar war und jeder daraus trinken konnte.

Der Zug fuhr zwischen engen Häuserzeilen hindurch, deren Fenster den grauen Himmel widerspiegelten. Rian beobachtete eine Weile das Vorbeiziehen der Gebäude. Nach der langen Fahrt mit dem Hochgeschwindigkeitszug, der sie und ihren Bruder samt ihren beiden Begleitern von Paris nach Deutschland gebracht hatte, kam ihr das Tempo dieser Bahn schneckenhaft langsam vor.

Sie riss sich schließlich vom Anblick der tristen Umgebung los, um das Buch aus der Tasche zu ziehen, das sie am Umsteigebahnhof mitgenommen hatte. Es war ein neuer Nora Roberts Roman, und der Einband mit den Auszügen aus verschiedenen Buchbesprechungen versprach Liebe und Romantik pur. Außerdem war er einfach zu lesen, denn Rian war keineswegs geübt darin und wollte ihre Kenntnisse erweitern. Auch hinsichtlich des Themas. Die Liebe der Menschen faszinierte Rian, denn es gab dieses Gefühl nicht unter den Elfen. Sie zweifelte jedoch daran, dass das ein echter Verlust war, denn wenn man den Filmen aus dem Fernsehen glauben konnte, ließ die Liebe die Sterblichen seltsame und häufig ausgesprochen dumme Dinge tun. Auch wenn Rian die damit verbundenen romantischen Situationen durchaus zu schätzen wusste – den Schmerz, den sich die Menschen hinterher regelmäßig zufügten, vermisste sie gewiss nicht. Darüber zu lesen tat allerdings nicht weh, und so hoffte Rian mangels Fernseher, durch dieses Buch hinter das Geheimnis zu kommen, warum die Menschen sich immer wieder auf »Liebe« einließen.

Rian legte das Buch auf den Tisch, schlug es auf und verlor sich bald in der Geschichte. Sie nahm es kaum wahr, als Pirx begann, über ihren Köpfen von der einen Gepäckablage zur anderen zu springen. Selbst seine Freudenquietscher oder gemurmelten Flüche konnten sie nicht mehr aus ihrer Lektüre reißen.

Nach einer Weile wurde die Abteiltür aufgeschoben, und eine gelangweilte Frauenstimme erklang. »Die Fahrkarten bitte.«

Rian sah auf. Der Blick der Schaffnerin schweifte durch das Abteil, über den für sie unsichtbaren Grogoch hinweg, und sie stutzte nicht einmal, als Pirx vor ihrer Nase mit einem Salto von der rechten zur linken Gepäckablage sprang. Rian wusste, selbst wenn die Frau eine Bewegung mitbekommen hätte, hätte ihr Gehirn nicht zugelassen, dass sie etwas wahrnahm, das nicht in ihre Welt gehörte. Die Elfengeschwister jedoch sah sie, wenn auch nicht in ihrer wahren Form, sondern so weit angeglichen an das Aussehen der Menschen, wie es notwendig war.

Rians Blick wanderte zu David, der die Fahrkarten hatte. Anstatt in seine Tasche griff dieser jedoch nach dem Faltblatt mit den Haltestationen des Zuges, das neben ihm lag, strich kurz darüber und reichte es dann mit einem freundlichen Lächeln der Schaffnerin.

»Gruppenkarte«, sagte er, und sie erwiderte sein Lächeln mit einem aufkeimenden Leuchten in den Augen, nahm das Blatt und stanzte es, ohne einen weiteren Blick darauf zu werfen.

»Angenehme Fahrt wünsche ich«, sagte sie und schob die Abteiltür wieder zu.

Rian war sicher, dass der Frau das verträumte Lächeln auf ihren Lippen den ganzen Tag erhalten bleiben würde. Das war die Art, wie ihr Bruder auf die meisten Menschenfrauen wirkte. Er selbst hingegen verzog nur kurz verächtlich die Mundwinkel und blätterte dann in seinem Magazin weiter. Rian bezweifelte, dass er las.

»Warum hast du das getan?«, fragte sie. »Nadja hat uns doch echte Fahrkarten gegeben.«

Er zuckte mit den Achseln, ohne aufzusehen. »Weil ich es kann.«

Pirx schaute kopfüber aus der Gepäckablage herunter, und seine rote Mütze fiel genau auf Grogs offenen Mund. Das Schnarchgeräusch ging in ein Röcheln über, und im nächsten Augenblick fuhr der haarige Grogoch unter heftigem Husten hoch. Die Mütze fiel von seinem Gesicht in seinen Schoß, und Grog beäugte den Stoff mit finsterem Blick, während er langsam wieder zu Atem kam. Schließlich sah er zu dem kichernden Pixie hoch.

»Mir scheint, Pirx ist es langweilig«, stellte er mit für seine Körpergröße erstaunlich tiefer Stimme fest.

»Jaaaaa!« schrillte er. »Ja, mir ist langweilig, langweilig, langweilig! Wann sind wir endlich daaaaaaaa?«

Rian seufzte und sah sehnsüchtig zurück auf ihr Buch. »Ich weiß nicht. Es dauert nicht mehr lang, glaube ich. Aber du kannst dich ja ein wenig im Zug umsehen, dann kann ich hier wenigstens in Ruhe lesen. Die Leute da drin tun gerade wieder so seltsame Dinge. Ich möchte wissen, wie dieser Teil zu Ende geht, ehe wir ankommen.« Rian kicherte leise, während Pirx und Grog einander verständnislos ansahen.

»Ich geh!«, rief Pirx und ließ sich mit einer Vorwärtsrolle aus der Gepäckablage direkt auf Grogs Schoß fallen. Dieser schrie auf, als Pirx’ Rückenstacheln in seine Beine stachen, und hastig sprang der kleine Pixie wieder hoch, riss die Abteiltür auf und rannte unter schrillem Lachen hinaus in den Gang. Grog stieß ein tiefes Grollen aus, warf ihm die rote Mütze hinterher und schob dann die Abteiltür wieder zu.

»Ich sollte ihm öfter seinen Stofffetzen in den Hals stopfen«, brummte er, ehe er sich wieder auf dem Sitz einrollte und erneut sein leises Schnarchen erklingen ließ.

David schüttelte ohne aufzusehen den Kopf. Rian sah wieder auf ihr Buch und fuhr fort, die komplizierte Welt der sterblichen Liebe zu erkunden, während der Zug in die Vororte der Stadt hinausrollte.

Leise summend schlenderte Pirx den Gang entlang und blieb nur ab und zu stehen, um besonders interessante Leute oder Dinge zu betrachten. Es juckte ihn in den Fingern, die Menschen ein wenig zu foppen, doch er wusste, dass Rian und David nicht begeistert sein würden. Das Gebot Fanmórs, dass keine Menschen durch Elfen zu Schaden kommen durften, stand in seinen Augen kleinen harmlosen Streichen zwar nicht im Weg, doch die Zwillinge wollten nicht, dass er durch sein Verhalten irgendwelche Aufmerksamkeit auf sie lenkte.

Er betrat den dritten Wagen und begann, auf und ab zu springen, um zu sehen, wer in den Abteilen saß. Zugleich schnitt er den Leuten unsichtbare Grimassen. Plötzlich ging weiter vorn Radau los.

»Oh je, hoffentlich nichts, von dem sie nachher denken, ich wär’s gewesen«, flüsterte Pirx. »Aber nachschauen schadet nix, und vielleicht kann ich ja doch ein wenig Spaß haben, ohne dass es auffällt!«

Schnell huschte er den Gang weiter um herauszufinden, was geschehen war. Als er den Großraumbereich des Waggons erreichte, sah er in der Mitte einen aufgesprungenen Koffer wie ein Dach über einem Haufen Kleidung stehen. Ein Mann im Sitz daneben hielt stöhnend eine Hand an die Stirn gepresst, und einige Reisende standen besorgt um ihn herum.

»Wie kann so was nur passieren?«, schimpfte eine Frau. »Sie müssten diese Ablagen besser sichern!«

Zustimmendes Gemurmel wurde laut. Pirx achtete nicht weiter auf die Leute, denn er hatte einen ihm bekannt vorkommenden Schatten bemerkt, der in die andere Richtung davonhuschte. Mit einem Sprung tauchte der Pixie in den Kleiderhaufen und starrte zwischen den Beinen der Leute hindurch den Gang hinunter zum Ende des Wagens. Dort stand, nur für ihn sichtbar, ein spindeldürrer Zwerg mit spitzem Gesicht und hochaufragenden Ohren und amüsierte sich offensichtlich köstlich über die Aufregung, die zweifelsohne er verursacht hatte.

»Der Kau!«, flüsterte Pirx und rutschte tiefer zwischen die Kleidungsstücke, um ja nicht von dem anderen entdeckt zu werden. »Was macht denn dieser Giftzwerg hier?«

Während Pirx ihn beobachtete, drückte der Kau die Tür zum nächsten Waggon auf und schlüpfte hindurch, sobald der Schlitz groß genug war. Als er sicher war, dass der andere ihn nicht mehr würde sehen können, verließ Pirx sein Versteck und folgte ihm.

Im nächsten Waggon stand der Kau mitten im Gang und sah suchend um sich, wohl auf Ausschau nach neuen Möglichkeiten für böse Streiche. Pirx wich zur Seite, ehe der andere ihn sehen konnte, und legte sich auf den Boden, um seinen Gegner unter der Sitzbank hervor im Auge zu behalten.

Die Schaffnerin kam, und Pirx beobachtete, wie sich das Gesicht des Kaus bei ihrem Anblick zu einem breiten Grinsen verzog. Er heckte offensichtlich wieder etwas aus. Pirx war fest entschlossen, das zu verhindern.

Schnell sah sich der Pixie um, und sein Blick blieb an einem schlafenden Hund fünf Reihen weiter vorn hängen. Es war einer von der kleinen langhaarigen Sorte, die meist durch giftiges Bellen auffielen, mit denen Pirx aber im Allgemeinen schnell Freundschaft schloss. Geschickt robbte er unter den Sitzen hindurch vorwärts zu dem Hund. Nachdem er um einige Füße und Taschen herumgekrochen war, erreichte Pirx sein Ziel und stupste den Hund vorsichtig an, um ihn zu wecken. Das Köpfchen des Tieres ruckte hoch, und er richtete verschlafene schwarze Knopfaugen auf den Pixie. Im nächsten Augenblick begann der kurze Schwanz des Tieres zu wackeln, und eine kleine rote Zunge fuhr über das Gesicht des Pixies.

»Bah!« machte Pirx leise, wischte sein Gesicht ab und gab dem Hündchen einen sanften Nasenstüber, ehe er näher zu ihm hinkroch, um ihm seinen Plan ins aufgestellte Ohr zu flüstern. Der Hund gab ein kurzes Bellen von sich, als Pirx fertig war.

»Ruhig, Bella«, kam eine Frauenstimme von oben.

Pirx zwinkerte dem Hund zu und löste die Leine von seinem Halsband. Dann spähte er wieder unter der Sitzbank hindurch zum Gang.

Die Schaffnerin war inzwischen auf Höhe des Kaus angekommen, und Pirx sah, wie dieser in aller Seelenruhe im Schutz der Unsichtbarkeit ein Bein ausstreckte. Gleichzeitig griff er nach dem elektronischen Gerät, das die Frau an einem Schulterband umgehängt trug. Mit einem Ruck zog der Kau die Frau daran nach vorn. Sie stolperte über sein Bein, verlor das Gleichgewicht und fiel mit einem überraschten Ausruf auf Knie und Hände. Erstaunte und besorgte Stimmen wurden laut, und ein Mann in der Sitzreihe gegenüber von Pirx stand auf, um der Schaffnerin aufzuhelfen. Gleichzeitig trat der Kau neben sie und streckte seine Hand in Richtung ihrer Mütze aus.

»Los, Bella!«, flüsterte Pirx.

Sofort schoss die Hündin unter der Bank hervor und versenkte mit einem Knurren ihre Zähne tief in der linken Wade des Kaus. Der Zwerg schrie auf und machte einen Satz, der so hoch war, dass er ihn aus Pirx’ Sichtbereich brachte. Doch Bella war unerbittlich und hing wie eine Klette an ihrem Opfer.

Tobend und fluchend begann der Kau einen seltsamen Tanz den Gang entlang, das eine Bein immer wieder hebend und kräftig schüttelnd. Ringsherum sprangen die Leute auf und drängten nach vorn, um den für ihre Augen wild in der Luft herumtanzenden Hund zu begaffen. Überdeckt wurde dies von den hysterischen Schreien der Hundebesitzerin und den Aufforderungen der Schaffnerin, sich wieder zu setzen und den »gottverdammten Hund« zur Ruhe zu bringen.

Pirx grinste und rieb sich die Hände, ehe er sich vorsichtig an den Rückzug unter den Bänken hindurch machte.

»Der Kau?« Erschrocken ließ Rian das Buch zuklappen und starrte erst Pirx und dann ihren Bruder an. »Wenn der Kau hier ist …«

»… ist Bandorchus Getreuer vermutlich auch nicht weit«, ergänzte David ihren Satz. Sein angespannter Gesichtsausdruck zeigte, dass die Nachricht ihn beunruhigte. Zu frisch waren die Erinnerungen an das, was Rian in Paris zugestoßen war, als sie in die Hände des Getreuen und seiner Helfer gefallen war. Einen Moment herrschte Schweigen, in dem die Angst fast spürbar zwischen ihnen schwebte, während die Geschwister sich ansahen.

Grogs Schnarchen brach unvermittelt ab. Er schloss den Mund, rollte herum und öffnete blinzelnd ein Auge. »Niemals kann man schlafen, ohne dass irgendwelche Ruhestörer dazwischen kommen«, brummte er und setzte sich auf. Die Zwillinge schauten zu Grog, und es war, als hätten seine Worte einen Bann durchbrochen, der ihre Gedanken gelähmt hatte.

»Der Kau ist im Zug«, sagte Rian leise.

»Der Kau, hm? Hrrm. Ruhestörer, sag ich doch.« Grog rubbelte sein Gesicht und kratzte sich dann ausgiebig und genüsslich den Bauch.

David strich eine Haarsträhne zurück und sah wieder zu Rian. »Wenn der Getreue und seine Helfer hier sind, kann das zweierlei bedeuten: Entweder er ist uns gefolgt, oder aber er hat einen ähnlichen Hinweis bekommen wie wir, und das Zusammentreffen ist nur Zufall.«

»Wäre ihm bewusst, dass wir hier sind, hätte er den Kau nicht frei herumlaufen lassen«, stellte Rian fest.

David nickte. »Aber spätestens, wenn wir in Worms aussteigen, wird er uns bemerken. Und wenn ich jemanden nicht an meinen Fersen haben will, dann ihn.«

»Aber was können wir dagegen tun?«

Mit einem halben Lächeln wies David auf eine Stelle über dem Fenster. »Vorher aussteigen.«

Rians Blick folgte Davids Hand und fiel auf die Notbremse. Sie runzelte die Stirn.

»Aber wird er nicht erst recht aufmerksam werden, wenn der Zug plötzlich auf freier Strecke hält?«

»Warum sollte er? Er wird so wenig Erfahrung mit der Menschenwelt haben wie wir, und was wissen wir schon, warum Züge gelegentlich außerhalb der Station halten?«

Pirx sprang auf die Sitzbank neben Rian und hob eine Hand. »Ich könnte dem Zugführer vorgaukeln, dass etwas auf die Schienen springt«, erbot er sich. »Es gibt dann bestimmt eine Durchsage oder so, die allen sagt sie sollen ruhig bleiben und all das.«

David hob eine Augenbraue, und Rian lächelte den Pirx an. »Das klingt nach einer guten Idee. Was meinst du, David?«

Rians Zwillingsbruder nickte zögernd. »In Ordnung.«

Mit lautem Kreischen von Metall auf Metall kam der Zug wenige Minuten später zwischen einigen Feldern auf der einen Seite sowie Wiesen und einer Schrebergartensiedlung auf der anderen ruckelnd zum Stillstand. Die Geschwister und Grog standen an der Ausgangstür ihres Wagens bereit. Unruhig sah Rian durch die Scheibe auf die Schrebergärten hinaus.

»Sollten wir nicht sofort aussteigen?«, sagte sie leise, damit die Fahrgäste der angrenzenden Abteile sie nicht hören konnten. »Wer weiß, ob es wirklich eine Durchsage geben wird.«

»Wir warten noch, bis Pirx zurück ist«, antwortete David bestimmt. »Notfalls können wir rausspringen, wenn der Zug wieder anfährt. Er wird ja nicht gleich zur Höchstgeschwindigkeit übergehen.«

In diesem Moment knackte es im Lautsprecher.

»Sehr geehrte Fahrgäste«, hörten sie eine unpersönliche Frauenstimme sagen, »der Zug musste aufgrund eines Hindernisses auf der Strecke anhalten. Wir werden die Fahrt in wenigen Minuten wieder fortsetzen. Bitte gedulden Sie sich so lange.«

Rian atmete erleichtert auf, als Pirx verschmitzt grinsend bei ihnen eintraf. Ohne zu Zögern stieß David den Notgriff der Tür herunter und drückte sie gemeinsam mit Grog auf. Geduckt sprangen die vier Elfenwesen hinaus, rannten den Zug entlang nach hinten und versteckten sich zwischen ein paar niedrigen Büschen, die eine Wiese begrenzten. Während vorn an der Lok zwei Bahnangestellte in Regenponchos ausstiegen und den Zug zu inspizieren begannen, rückten die Elfen längs des Wiesenrandes vorsichtig in Richtung der Schrebergärten vor, immer auf Deckung gegen den Zug bedacht. Als sie die ersten Hütten erreichten, verschwanden sie zwischen den Hecken und niedrigen Büschen der Gärten und kamen nun zügiger voran. Ihr Weg führte weg vom Bahndamm mit dem noch immer stehenden Zug und ihren Feinden darin. Schließlich erreichten sie das andere Ende der Siedlung. In diesem Moment hörten sie, wie die Bahn wieder anfuhr.

»So, das war das«, meinte David. Er wischte Regenwasser von seinem Gesicht. »Bleibt nur die Frage, wie wir jetzt rechtzeitig unser Ziel erreichen sollen, um vor dem Getreuen den Brunnen zu finden.«

»Wir werden nicht lange nach ihm in der Stadt ankommen«, meinte Rian. Sie machte eine Kopfbewegung zu einer nahegelegenen Koppel hin, auf der einige Pferde dicht zusammengedrängt unter einem schützenden Baum standen. »Wir hatten bereits den größten Teil der Fahrt hinter uns, und mit Hilfe von denen schaffen wir es in kurzer Zeit nach Worms.«

David sah zu den Tieren und runzelte die Stirn. »Es sind Menschenpferde, dumm und blind wie die Menschen selbst«, meinte er.

»Dann beschaff du uns doch einige Pferde von zu Hause, oder noch besser, einen Pegasus«, erwiderte Rian spitz. »Die Olympier überlassen dir bestimmt gern einen oder zwei.«

David hob die Hände und verdrehte die Augen. »Ist ja gut. Sie sind besser als nichts.«

Rian stand auf und ging auf die Koppel zu. Die anderen folgten ihr.

Rings um die Weide waren auf zwei verschiedenen Höhen weiße Bänder gespannt. Pirx schnaubte.

»Wie sollen diese dünnen Fädchen die Pferde aufhalten?«, fragte er.

Er streckte eine Hand aus, um an dem unteren Band zu zupfen, und sprang dann mit einem Aufschrei zurück. Rian lachte glockenhell auf, während der Pixie seine Hand ausschüttelte und leise quietschte.

»Es scheint, da steckt doch etwas mehr dahinter als nur ein Faden, hm?«, sagte die Elfe und ließ ihre eigene Hand dicht über dem oberen Band verharren. »Elektrizität«, stellte sie fest. »Du hast einen elektrischen Schlag bekommen. Nicht gefährlich, aber unangenehm genug, um Pferde oder Pixies fernzuhalten.«

»Und wie bekommen wir die Pferde da raus?«, fragte David.

Ohne ein Wort packte Grog einen Pfosten, zog ihn aus dem Boden und legte ihn dann ab, sodass er an den Bändern hing. Dann ging er zum nächsten und wiederholte das Vorgehen. Zwei weitere Pfähle, und der Zaun lag über eine Länge von mehreren Metern komplett am Boden.

»So«, brummte der Grogoch.

Rian stieß einen leisen Pfiff aus, und sofort ruckten die Köpfe der Tiere hoch und zu ihr herum. Die Elfe winkte und rief ein paar beruhigende und lockende Worte in ihrer Sprache.

Ohne zu zögern trotteten zwei Pferde auf sie zu, die anderen senkten wieder die Köpfe und stöberten zwischen den welken Blättern. Die zwei Tiere blieben vor den Elfen stehen und stupsten Rian mit der Samtschnauze an. Die Elfe lachte auf, strich ihnen über die Nüstern und redete weiter im melodischen Singsang auf sie ein. »Sie sind bereit.«

Rian schwang sich auf einen Rücken und zog Grog hinter sich, während David und Pirx auf das zweite Pferd sprangen. Die Elfen griffen in die Mähnen, die beiden Kobolde klammerten sich an ihnen fest. Ein kurzer Ruf, ein Schnauben, und unter freudigem Johlen von Pirx galoppierten die Pferde los, die Feldwege hinunter, immer an den Schienen entlang und durch den nachlassenden Nieselregen in Richtung Worms.

*

Knapp über dem von unzähligen Füßen blankgeschliffenen Boden wurde das welke Blatt noch einmal herumgewirbelt und kratzte dann mit seinen trockenen Spitzen über das alte Holz. Nicht weit vor Alebin kam es schließlich zur Ruhe. Die Hände in die weiten Ärmel seines silberbestickten nachtblauen Gewandes geschoben, betrachtete der Elf es einen Moment nachdenklich, ehe er einen Schritt vortrat und sich bückte, um es aufzuheben. Die braunen Spitzen knisterten und brachen, als er seine Hand darum schloss. Hastig erhob er sich und trat wieder in die lockere Reihe der Audienzsuchenden zurück, bemüht, nicht vorzeitig aufzufallen.

Doch er hätte sich keine Sorgen machen müssen. Niemand schenkte ihm Aufmerksamkeit. Das war nicht verwunderlich, denn im Tageslicht wirkte er so verblasst und unscheinbar wie das Blatt in seiner Hand. Wenn nicht das Funkeln in seinen großen Augen gewesen wäre, hätte man sogar glauben können, Alebin sei ein Sterblicher, den es nur durch Zufall in diese Halle verschlagen hatte. Doch er war ein Elf, einer, dessen schillernde Natur nur im Dunkel der Nacht zum Vorschein kam, und der das Licht der nächtlichen Sterne daher mehr liebte als das Blauschimmern des Taghimmels.

Es war der Grund, weshalb er eine Audienz nach Einbruch der Nacht erhofft hatte, doch sein Wunsch war nicht in Erfüllung gegangen. Auch Fanmór ermüdete dieser Tage schneller als früher, und Alebin konnte froh sein, überhaupt so früh einen Platz in der Reihe der Audienzsuchenden erhalten zu haben, welche die Wände des Saales säumten.

Allerdings hätte selbst jemand, der ihn bemerkt hätte, vermutlich wenig darauf gegeben, was er tat. So wie die meisten Crain würden auch die hier Anwesenden sich nur dann mit ihm beschäftigen, wenn es unumgänglich war. Nicht umsonst nannte man das, was er war, einen Meidling. Man mied ihn, wo man konnte. Er hatte an Gwynbaens Seite gegen Fanmór gekämpft, doch als der Moment der Entscheidung gekommen war, war er nicht freiwillig mit ihr ins Exil gegangen, sondern hatte den Meidlings-Schwur geleistet. Es war ihm nicht schwergefallen, denn es war niemals das Volk der Crain gewesen, gegen das er hatte kämpfen wollen, sondern stets nur Fanmór, der kein Crain war und nun dennoch die Herrschaft über sie an sich gerissen hatte.

Doch diese Tat hatte ihn als doppelten Verräter abgestempelt, und niemand wollte mehr etwas mit ihm zu tun haben. Nur seinen besonderen Fertigkeiten in der Brennkunst war es zu verdanken, dass er dennoch bei Hof hatte bleiben und seinen Dienst weiter verrichten können. Wenn es um ihr Vergnügen ging, konnten die Elfen durchaus einmal großzügig sein. Aber er war ab diesem Tag einsam geblieben, ohne echte Freunde, und selbst die wenigen Elfen, die mit ihm Umgang pflegten, taten dies meist nur widerwillig. Seine besten Freunde waren und blieben seither die Erzeugnisse seiner eigenen Kunst.

Aber ich werde mich sicher nicht beklagen, dachte Alebin. Nicht nur, dass mir das Schattenland erspart geblieben ist, ich kann aus meiner Position heraus am Besten helfen, unser Volk zu retten. Was dieser Usurpator nicht zu tun gewillt scheint, oder zumindest nicht mit den angemessenen Mitteln betreibt.

Der Blick des Elfen wanderte über die vor ihm Wartenden hinweg zum Kopfende des Saals. Dort saß Fanmòr in leicht vorgebeugter Haltung auf seinem mit Fellen und Stoffen gepolsterten Thronsessel und hielt Hof. Neben ihm standen seine Berater, und gerade jetzt trat Regiatus vor und reckte sich, um seinem Herrscher etwas ins Ohr zu flüstern. Alebin fragte sich, woher der Cervide die grünen Ranken genommen hatte, die er um sein Geweih gelegt hatte. Kein einziges verfärbtes Blatt war daran. Vermutlich hatte er magische Hilfmittel angewandt, um die Blätter zu färben, oder alle befallenen einfach herausgepickt.

Neben dem Hirschköpfigen flatterte eine Blumenelfe auf und ab, und Alebin wunderte sich, wie die Umstehenden das permanente Klingeln der über ihr hängenden Glockenblumen ertrugen. Doch weder den Baummann, dessen oberste Kopfzweige schon nahezu die Decken berührten, noch die nur in hauchdünne Gischt gekleidete Flussnixe schien es zu stören. Vielleicht hatte aber auch schon jemand einen Stillezauber über die Blumenelfe verhängt. Es hätte das hektische und zornige Flattern erklärt, und würde zu der vorgetäuschten Sorglosigkeit passen, die hier alle so gekonnt an den Tag legten.

Niemand schien an das zu denken, was in diesem Moment draußen geschah, an das Altern, das Sterben. Niemand wollte sich mehr des alten Morvidian erinnern, der vor kurzem noch an den Toren des Schlosses als Fels gestanden hatte. Alebin hatte zugesehen, wie er verblasst und schließlich ohne Wiederkehr verweht war. In diesem Moment hatte er begriffen, dass die Dinge zu langsam vorangingen, und dass es seine Pflicht war, sie zu beschleunigen. Er musste seinen Herrscher darauf hinweisen, dass es eine große Macht gab, die er nutzen konnte, um zu verhindern, dass es für allzu viele zu spät wurde.

Alebin sah wieder zurück zu Fanmór und runzelte die Stirn. Vor kurzem erst hatte der König seine beiden Kinder in die Welt der Sterblichen geschickt, und nun hielt er Hof, als sei nichts Besonderes geschehen. Die anderen Elfen klammerten sich an die Zuversicht ihres Herrschers und zogen es vor, ebenfalls so zu tun, als gäbe es den überall einsetzenden Verfall nicht. Alebin ballte unwillkürlich seine Hand zur Faust, als er daran dachte. Erneut spürte er die brüchigen Blattkanten mit unangenehmer Deutlichkeit in seine Haut schneiden.

Wie dumm musste man sein, zu glauben, dass zwei Elfen, die zu jung waren, um den Krieg gegen Bandorchu miterlebt zu haben, in der fremden Welt der Sterblichen irgendetwas erreichen konnten? Und wenn sie tausendmal vom herrschaftlichen Blut der Sidhe Crain waren und durch die Umstände ihrer Zwillingsgeburt hervorgehoben – sie hatten weder die notwendige Erfahrung noch genug Macht, um etwas gegen eine Kraft ausrichten zu können, welche die Tore zwischen den Elfenländern verschloss und die Bewohner Crains und der anderen Reiche den Folgen der Zeit und damit dem endgültigen Tod überantwortete.

Die für den Kampf gegen eine solche Kraft notwendige Macht musste anderswo gesucht werden, dort, wohin Fanmór sie verbannt hatte, damit sie ihm nicht mehr gefährlich werden konnte. Alebin würde dem Herrscher eine letzte Gelegenheit geben, dies einzusehen und das einzig Richtige zu tun.

Sollte Fanmór dennoch nicht einsehen, was allein das Beste für die Elfen war, dann würde Alebin andere Wege gehen, um dafür zu sorgen, dass die Dinge sich entsprechend entwickelten.

Elfenzeit 2: Schattendrache

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