Читать книгу Der Schoppenfetzer und der Narrenwein - Verlag Echter - Страница 7
An einem Herbstabend in der Nähe von Maindorf
ОглавлениеDie Dämmerung breitete sich wie ein Mantel über die Weinberge und verwandelte die kräftigen Herbstfarben der Weinstöcke immer mehr in ein sanftes pastellfarbenes Landschaftsgemälde. Die schwarze Luxuslimousine fuhr mit Standlicht im Schleichgang den geschotterten obersten Weinbergsweg entlang. Der Fahrer bemühte sich, den Steinschlag durch hochschlagenden Split möglichst gering zu halten. Unter den drei Männern im Wageninneren herrschte Schweigen. Die drei waren Hauptakteure eines ungewöhnlichen Plans, dessen Fundamente jetzt in Form gegossen werden sollten.
„Wir sind da“, durchbrach der Fahrer das Schweigen. „Da vorne ist es.“ Aus dem schwachen Licht tauchten etwas entfernt die kantigen Konturen eines weißgestrichenen Weinbergshäuschens auf. Der Mann auf dem Rücksitz beugte sich nach vorn und übersetzte die Worte des Mannes am Lenkrad für den Beifahrer in bestes Mandarin, die chinesische Hochsprache. Der kleine schlanke Mann neben dem Fahrer nickte. Auch im Profil war seine chinesische Herkunft deutlich zu erkennen. Die dichten schwarzen Haare trug er streng nach hinten gekämmt, wo sie mit reichlich Gel an Ort und Stelle gehalten wurden.
„Das ist ja winzig“, übersetzte der Dolmetscher die Worte des Chinesen.
Das steinerne Weinbergshäuschen stand direkt am Grenzweg zwischen den Weinbergen und dem darüberliegenden Trockenrasengebiet oberhalb von Maindorf, einem bekannten Weinort am Main.
Das Häuschen besaß zwei Fenster, die offenbar mit Gardinen verhängt waren, denn erst jetzt, aus der Nähe, erkannte man gedämpften Lichtschein. Der Fahrer lenkte den Wagen nach rechts und parkte ihn dicht neben den obersten Rebstöcken. Die drei stiegen aus und näherten sich der Eingangstür. Der Übersetzer trug eine Kühltasche und einen Aktenkoffer. Ehe sie anklopfen konnten, wurde die Tür geöffnet und die Konturen eines kräftigen Mannes zeichneten sich im Lichtschein ab.
„Guten Abend“, grüßte der Gastgeber und trat zur Seite, damit die Besucher eintreten konnten. Im Vorübergehen gab der Fahrer ihm die Hand. Der Chinese beschränkte sich darauf, sich zu verneigen, während der Dolmetscher ihn vorstellte. Die Eintretenden mussten die Augen etwas zusammenkneifen, denn die einzige, aber kräftige Lichtquelle, eine auf einem kleinen Tisch stehende Gasleuchte, blendete sie.
Der winzige Raum nahm praktisch die gesamte Grundfläche des Häuschens ein und war spartanisch eingerichtet: der Tisch, sechs Stühle, in eine Ecke eingepasst ein kleiner Schrank. Trotzdem strahlte der Raum eine gewisse Gemütlichkeit aus, der man sich nur schwer entziehen konnte.
Der Gastgeber machte eine einladende Handbewegung.
„Herr Präsident, vielleicht nehmen Sie hier Platz.“
Der so Angesprochene hob die Hand. „Den Präsidenten habe ich heute zu Hause gelassen. Also bitte ganz zwanglos.“ Er wartete, bis sich der Chinese niedergelassen hatte, dann nahm auch er Platz. Als das Stühlerücken beendet war, ergriff der Präsident das Wort: „Ich freue mich sehr über das Zustandekommen dieses Treffens. Insbesondere begrüße ich sehr herzlich Herrn Chang Shixin, der den weiten Weg aus dem Reich der Mitte zu uns auf sich genommen hat, um mit uns zusammenzuarbeiten. Ich hoffe, ich habe Ihren Namen richtig ausgesprochen.“ Er blickte um Verständnis bittend in Richtung des Chinesen.
Nach der Übersetzung des Dolmetschers verbeugte sich der Chinese knapp und begann zu sprechen. Der Gastgeber lauschte andächtig der für ihn fremden Sprachmelodie. Der Übersetzer transferierte seine Worte fast synchron ins Deutsche.
„Meine Herren, es ist mir eine große Ehre, Ihr Gast zu sein, um mit Ihnen Geschäfte zu machen. Ich bin überzeugt, dass sich unsere Interessen und die Ihren sich auf wunderbare Weise vereinen lassen.“ Er schloss mit einer neuerlichen Verneigung.
Der Präsident fuhr fort: „Herr Chang, ich darf Ihnen Max Runkelbauer vorstellen, der uns hier in dieses idyllische Weinbergshäuschen eingeladen hat.“
Der Übersetzer hatte offenbar Mühe, die Bezeichnung „Weinbergshäuschen“ ins Chinesische zu übersetzen, und musste allerlei Umschreibungen bemühen, bis der Gast verstehend nickte.
„Unser Gastgeber ist selbständiger Winzer, der seinen Wein selbst vermarktet. Ein Geschäft, bei dem man in Deutschland zwar große Eigenständigkeit genießt, bei dem man aber auch in ständigem Wettstreit mit den großen Weingütern und den Winzergenossenschaften liegt. Ein harter Wettstreit, bei dem durchaus mit Ellbogen gearbeitet wird. Es ist deshalb notwendig, sich ständig Neues einfallen zu lassen, um den Absatz sicherzustellen. Leider laufen die Geschäfte bei Herrn Runkelbauer seit zwei Jahren nicht mehr ganz so gut.“
Nicht mehr ganz so gut ist wirklich stark geschmeichelt, dachte Runkelbauer. Wenn dieser Handel heute nicht zustande kam, würde sein Betrieb das nächste Jahr nicht mehr überstehen.
Der Präsident ließ dem Dolmetscher wieder etwas Zeit, damit er mit dem Übersetzen nachkam. Herr Chang hielt den Kopf währenddessen leicht gesenkt und hörte konzentriert zu, dann nickte er zum Zeichen, dass er alles verstanden hatte.
„Als ich vor einigen Monaten aus geschäftlichen Gründen in Nordchina in der Provinz Shandong zu tun hatte“, fuhr der Präsident fort, „lernte ich Herrn Chang kennen. Er leitet dort ein großes Weingut, in dessen Weinbergen, man höre und staune, unter anderem auch Müller-Thurgau angebaut wird. Bei einer ausgiebigen Verkostung konnte ich mich von der Qualität des Weines überzeugen. Herr Chang und ich haben uns dann lange und ausgiebig unterhalten. Dabei haben wir eine Geschäftsidee entwickelt, die ich nach meiner Rückkehr mit meinem Bekannten, Herrn Runkelbauer, diskutiert habe. Das Ergebnis dieser Kontakte ist dieses heutige Treffen. Wir sind uns darin einig, dass die Umsetzung dieser Idee von allen Seiten eine gewisse … Risikobereitschaft verlangt. Die ist aber, soweit ich das verstanden habe, durchaus vorhanden.“
Alle am Tisch, mit Ausnahme des Dolmetschers, stimmten dieser Aussage kopfnickend zu.
„Dann würde ich vorschlagen“, fuhr der Präsident fort, „zunächst einmal den Wein, um den es geht, zu verkosten. Schließlich will keiner die Katze im Sack kaufen. Anschließend können wir ja die Einzelheiten besprechen.“
Auf einen Wink hin öffnete der Dolmetscher die Kühltasche und stellte eine Bordeauxflasche auf den Tisch, auf der sich ein Etikett mit chinesischen Schriftzeichen befand. Herr Chang griff sich die Flasche und fuhr mit den Fingern über das Glas, auf dem sich sofort Tau gebildet hatte. Runkelbauer holte aus einem Eckschrank mehrere Probengläser. Während Chang den Schraubverschluss öffnete, erläuterte er: „Meine Herren, das hier ist ein Müller-Thurgau aus der Ernte des letzten Jahres meines Weinguts. Es ist mir eine Ehre, Ihnen diesen Wein jetzt präsentieren zu dürfen.“ Während der Dolmetscher noch übersetzte, schenkte Herr Chang in jedes Glas eine angemessene Menge ein. Nachdem er alle bedient hatte, erhob er sein Glas. „Wie sagt man hier? Zum Wohl.“ Die beiden Worte des Trinkspruchs versuchte er auf Deutsch zu sagen, was ihm nur mäßig verständlich gelang.
Die Herren, die sich alle als Weinsachverständige verstanden, rochen, schlürften und ließen den Tropfen auf der Zunge zergehen, um anschließend den Abgang auszukosten. Anerkennende Lautäußerungen kamen von allen Seiten aus den Kennerkehlen.
„… eindeutig ein ausgezeichneter Müller-Thurgau mit einem beeindruckenden Nachhall“, stellte Runkelbauer anerkennend fest. „Der aus meinem Wengert ist nicht besser.“
Die anderen schlossen sich dem Lob an. Der Dolmetscher übersetzte, Herr Chang verneigte sich und lächelte.
Der Präsident stellte sein Glas ab und ergriff wieder das Wort. „Meine Herren, kommen wir auf den Punkt: Bei meinen Gesprächen mit Herrn Chang haben wir beide festgestellt, dass sich unsere Interessen auf erfreuliche Weise überschneiden, deshalb sind wir hier. Als Präsident einer … gewissen Institution habe ich in den letzten Jahren mit zunehmender Sorge zur Kenntnis nehmen müssen, dass unsere Ausgaben für diverse Veranstaltungen horrend gestiegen sind. Als Verantwortlicher bin ich daher bemüht, uns jede nur erdenkliche Einnahmequelle zu erschließen. An diesem Punkt kommen unsere gemeinsamen Interessen“, er deutete auf Max Runkelbauer und verneigte sich in Richtung des Chinesen, „auf wunderbare Weise zusammen. Herr Chang würde es begrüßen, wenn er seinen Wein nach Franken exportieren könnte mit dem Fernziel, sich den Markt in Europa zu erschließen.“
Der Dolmetscher übersetzte so schnell, dass ihn Herr Chang mit einer Geste bat, etwas langsamer zu sprechen. Der Präsident legte geduldig eine Pause ein. Nach der Übersetzung nickte der Chinese heftig und lächelte.
„Herr Chang und ich sind uns darin einig“, nahm der Präsident wieder den Faden auf, „dass er, würde er den offiziellen Weg des Marktes beschreiten, auf absehbare Zeit keine Chance hätte, sich zu etablieren. Chinesischer Wein in Franken wäre, außer vielleicht für einige experimentierfreudige Kenner, ein absolutes ‚No-Go‘.“ Er blickte fragend in die Runde. Runkelbauer stimmte ihm vollkommen zu.
Der Präsident räusperte sich und sah den Chinesen direkt an. „Manchmal muss man die Menschen ganz einfach zu ihrem Glück zwingen. Max Runkelbauer ist bereit, durch das Zurverfügungstellen seines Namens und durch die Bereitstellung diverser Lagerressourcen das Experiment ‚chinesischer Müller-Thurgau in Unterfranken‘ zu unterstützen. Herr Chang seinerseits wird sich, wie er mir sagte, selbstverständlich durch großzügige finanzielle Investitionen und äußerst günstige Konditionen beteiligen.“ Er gab durch ein Handzeichen zu verstehen, dass er nun dem chinesischen Gast das Wort überlassen wollte.
Der Dolmetscher übersetzte ins Deutsche: „Es wird mir eine Ehre sein, mich mit einem Tanklastzug unseres Weines an dem Experiment zu beteiligen. Außerdem kann der geschätzte Herr Winzerkollege mit einer Finanzbeteiligung an seinem Unternehmen rechnen, als Ausgleich für das zu tragende Risiko. Ich habe Verträge aufsetzen lassen, die vom Herrn Präsidenten juristisch geprüft und für gut befunden wurden.“
Er gab dem Übersetzer ein Zeichen, der daraufhin einen Aktenkoffer auf den Tisch hob und mehrere Schriftstücke herausnahm. Der Text war sowohl in chinesischer als auch deutscher Schrift geschrieben. Dann zog er einen edlen Kugelschreiber aus der Aktentasche und legte ihn neben die Papiere.
„Lassen Sie mich noch einmal die Parameter dieser Kooperative zusammenfassen“, meldete sich der Präsident wieder zu Wort. „Es sind, das gebe ich unumwunden zu, knallharte wirtschaftliche Notwendigkeiten, die mich veranlasst haben, diesen Deal einzufädeln. Aber keinesfalls, das möchte ich klarstellen, geht es dabei für mich um persönliche Bereicherung.“ Er räusperte sich. „Wie hier in dieser Runde teilweise bekannt, wird jedes Jahr in der sogenannten Närrischen Weinprobe, einer Sendung des Bayerischen Fernsehens, die aus dem Stückfasskeller des Staatlichen Hofkellers übertragen wird, der sogenannte Narrenwein vorgestellt. Bisher kam bei diesem speziellen Bocksbeutel immer ein uns bekanntes großes Weingut zum Zuge und machte das damit verbundene Geschäft. Meine Organisation war hierbei immer außen vor. Das werden wir jetzt mit unserer kleinen Kooperative ändern!“
Runkelbauer zog ein nachdenkliches Gesicht. „Sind Sie sicher, dass wir diesmal zum Zuge kommen? Ich bin da immer noch etwas skeptisch!“
„Letztes Jahr hätte ich Ihre Bedenken geteilt. Es wurde jedoch das Auswahlkonzept für den Narrenwein geändert. Bisher hat die Vorstellung des Weines eine ehemalige Weinkönigin in der Sendung vorgenommen. Dieses Jahr wird das Procedere auf Wunsch der Zuschauer des Bayerischen Fernsehens geändert. Unterfränkische Weingüter können ihre Weine einreichen und der Weinexperte der Stadt Würzburg, Bürgermeister Andy Farmer, wird im Rahmen einer Blindverkostung seine Auswahl treffen. Diese wird etwa zwei Wochen vor der eigentlichen Veranstaltung unter notarieller Aufsicht stattfinden. Während der eigentlichen Aufzeichnung der Fernsehsendung wird dieser Wein dann von Herrn Farmer vorgestellt.“ Der Präsident hielt das Probierglas gegen das Licht. „Was Ihre Frage betrifft, Herr Runkelbauer, das lassen Sie mal unsere Sorge sein. Herr Chang und ich haben da unsere Mittel und Wege.“ Er grinste leicht. Herr Chang verneigte sich wieder lächelnd, schob den Vertrag über den Tisch und reichte den Kugelschreiber weiter.
Schon wenige Tage später verließ ein Kühltankwagen mit der Aufschrift „Wang-Transporte Frankfurt a. M.“ das Weingut Chang in der chinesischen Provinz Shandong und machte sich auf den weiten Weg. Zwischen dem Weingut Chang und dem Ziel, dem Weinort Maindorf in Unterfranken, lag eine halbe Weltreise.
Weitere zwei Wochen später läutete mitten in der Nacht, kurz nach drei Uhr, Max Runkelbauers Handy. Er war sofort hellwach, schnappte sich das Telefon und huschte auf nackten Füßen aus dem ehelichen Schlafzimmer in die Küche. Seine Frau hatte einen gesegnet tiefen Schlaf und bekam davon nichts mit.
Runkelbauer meldete sich und hörte die Stimme eines unbekannten Mannes, der ihm erklärte, die bestellte Lieferung aus China sei eingetroffen. Der Winzer bekam vor Aufregung feuchte Hände. Er erklärte dem Anrufer, dem Fahrer des Tankwagens, wie er in den Hof des Weinguts fahren konnte, ohne den Weg durch den Ort nehmen zu müssen. Runkelbauers Weingut lag etwas außerhalb von Maindorf. Eine halbe Stunde später wurde hektoliterweise Müller-Thurgau aus China in einen von Runkelbauers Edelstahltanks gepumpt. Als der letzte Tropfen im Tank war, bestätigte Runkelbauer die Lieferung auf einem Lieferschein, und wenig später war der Tankwagen wieder verschwunden. Danach stand Runkelbauer nachdenklich in seinem Weinkeller und betrachtete das silbrig schimmernde Metall des Tanks. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Er löschte das Licht im Keller, ging zurück in seine Wohnung und legte sich wieder ins Bett. An Schlaf war jetzt allerdings nicht mehr zu denken.