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Vier Tage zuvor

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Dienstag, kurz nach 14 Uhr, Andy Farmer kam gerade von einer Besprechung mit dem Oberbürgermeister, als seine Sekretärin an die Tür klopfte.

„Entschuldigen Sie bitte, Herr Farmer, in meinem Büro stehen zwei Herren, die Sie dringend sprechen möchten. Sie haben allerdings keinen Termin.“

Wegen der offenen Tür beugte sie sich zu Farmer herab und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

„Für den Präsidenten habe ich natürlich Zeit. Und wer ist dieser Roger Wang?“, entgegnete Farmer laut.

Sie zuckte mit den Schultern. „Herr Wang ist Asiate, er spricht aber ganz ausgezeichnetes Deutsch.“

Farmer machte eine einladende Handbewegung. Er aß sehr gerne gebratene Ente süßsauer, fühlte sich dem Chinesischen essenskulturell also durchaus zugeneigt. Im Moment konnte er gerade einige Minuten erübrigen.

„Schauen wir mal, was sie auf dem Herzen haben. Schicken Sie sie rein.“ Flüsternd fügte er hinzu: „Wenn das Gespräch länger als zehn Minuten dauert, kommen Sie bitte rein und erinnern mich an meinen nächsten Termin.“ Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu. Sie lächelte verstehend und ging wieder hinaus. Einen Moment später betrat der Präsident zusammen mit einem kleinen, zierlichen Asiaten das Büro des Bürgermeisters. In der Nähe der Tür blieben beide kurz stehen und der Präsident breitete die Arme aus. Sein Begleiter machte lächelnd eine leichte Verneigung.

„Lieber Andy, herzlichen Dank, dass du für uns etwas Zeit erübrigen kannst, obwohl wir keinen Termin haben. Ich darf dir Herrn Wang vorstellen.“

Der Asiate verbeugte sich erneut. Der Präsident und Farmer duzten sich schon seit ewigen Zeiten.

Andy Farmer erhob sich, kam hinter seinem Schreibtisch hervor und gab seinen Besuchern die Hand. Dann wies er in Richtung seines Besprechungstisches und bot ihnen Platz an. Der Präsident und Wang ließen sich nieder, Farmer setzte sich ihnen entspannt gegenüber und musterte sie neugierig. Wang stellte einen Aktenkoffer neben seinem Stuhl ab, dann blieb er, ohne sich anzulehnen, kerzengerade sitzen.

Als hätte er einen Stock verschluckt, dachte Farmer. Laut fragte er: „Was führt euch beide zu mir? Wie kann ich helfen?“

Der Präsident fuhr sich durch seine dichten, nach hinten gegelten weißen Haare.

„Lieber Andy, du weißt ja, dass die nächste Faschingssession vor der Tür steht und ich als einer der Verantwortlichen in diesem Narrenzirkus mir rechtzeitig Gedanken darüber machen muss, wie die finanzielle Seite aussieht. Es ist ja nichts Neues, dass es keine ernstere Angelegenheit gibt als den Fasching. Seit Jahren schon haben wir massive Probleme, beispielsweise die Kosten des Faschingszugs zu stemmen.“

Wenn er betteln will, warum hat er dann diesen Asiaten mitgebracht?, dachte Farmer.

Als hätte er Farmers Gedanken gelesen, fuhr der Präsident fort: „Da ich ja weiß, dass auch die Stadt in den Miesen steckt und wir kaum nennenswerte Unterstützung bekommen können, habe ich mir etwas einfallen lassen, das unsere Situation nachhaltig verbessern könnte.“ Er nickte in Richtung Wang. „Dies ist auch der Grund, warum ich Herrn Wang mitgebracht habe.“ Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Ich war gewissermaßen der Türöffner für Herrn Wang und werde mich aus terminlichen Gründen jetzt wieder verabschieden. Herr Wang wird dir erläutern, um was es geht. Es wäre mir ein großes Anliegen, wenn du unsere Vorstellungen unterstützen könntest.“ Hastig stand er auf, gab dem überraschten Farmer die Hand, nickte Wang kurz zu und verließ das Büro.

Der Bürgermeister fühlte sich etwas überrumpelt, wollte aber nicht unhöflich sein. „Also, Herr Wang, dann legen Sie mal los. Aber meine Zeit ist leider begrenzt.“

Herr Wang verneigte sich, dann begann er zu sprechen. „Ich vertrete eine Interessengruppe, die ihre geschäftlichen Aktivitäten gern auf Unterfranken ausdehnen möchte.“

„Aha“, machte der Bürgermeister. Er musste seiner Sekretärin recht geben, der Mann sprach ganz ausgezeichnet Deutsch, wenn es auch etwas gestelzt klang. „Das ist ja sehr interessant, da wir hier in Würzburg immer an einem Zuwachs neuer Firmen interessiert sind. Können Sie mir sagen, auf welchen Geschäftsfeldern Sie aktiv sind?“

„Die Volksrepublik China ist, wie Sie sicher wissen, eine massiv wachsende Volkswirtschaft, die neben vielen anderen Produkten in zunehmendem Maße qualitativ hochwertigen Wein produziert. Dies gilt auch für das Weingut, das ich hier vertrete.“ Er bemerkte die hochschnellenden Augenbrauen des Bürgermeisters und fuhr fort: „Wir wissen, dass man China nicht unbedingt mit Weinproduktion in Verbindung bringt. Es wird Sie aber vielleicht in Erstaunen versetzen, zu hören, dass wir mittlerweile bei der Weinerzeugung beispielsweise Frankreich bereits überholt haben.“

„Das ist ja sehr interessant“, warf Farmer ein, der noch immer keine Vorstellung hatte, warum der Mann ihm dies alles erzählte.

„Mainfranken als qualitativ hochwertiges und international bekanntes Weinanbaugebiet hat unser Interesse geweckt. Wir würden gern in einem ersten Schritt mit Hilfe etablierter Winzer einen Fuß in die Tür der unterfränkischen Weinproduktion bringen.“

Farmer sah seinen Besucher mit großen fragenden Augen an. Hatte er da richtig verstanden?

„Wollen Sie damit sagen, unterfränkische Winzer sollen chinesischen Wein verkaufen?“ Er schüttelte heftig den Kopf. „Das wird keiner tun! Die würden sich ja ihr eigenes Geschäft kaputtmachen.“

Der Chinese lächelte noch immer.

„Unterfranken ist eine gesegnete Provinz mit zahlreichen wohlhabenden Winzern. Bedauerlicherweise gibt es aber auch vereinzelt Familienbetriebe, die ziemlich kämpfen müssen, um gegen die Konkurrenz der Großen ihr Überleben zu sichern. Bei Menschen dieser Kategorie sind wir mit unserer Geschäftsidee durchaus auf offene Ohren gestoßen.“

„Das heißt, Sie haben jemanden gefunden, der bei dieser verrückten Idee mitmacht?“ Der Bürgermeister war sichtlich betroffen.

Der Chinese nickte lächelnd und verbeugte sich leicht. „Wir setzen unsere Pläne und Vorgehensweisen immer sehr stringent um.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, wie Sie dies in die Praxis umsetzen wollen. Mal abgesehen davon, dass das rechtlich problematisch sein dürfte. Außerdem, was sollte ich mit einem derartigen … Geschäft zu schaffen haben?“ Die Stimmlage Farmers änderte sich merklich. Seine Stirn legte sich in ärgerliche Falten.

„Um Ihnen dieses zu erläutern, bin ich hier“, erwiderte der Chinese unverändert freundlich.

„Da bin ich aber mal gespannt!“, brummte Farmer. Es klang mehr wie ein Knurren.

In diesem Augenblick klopfte es und seine Sekretärin streckte den Kopf herein. „Herr Farmer, ich möchte Sie an Ihren nächsten Termin erinnern. Sie sind schon etwas spät.“

Der Bürgermeister warf ihr einen etwas ärgerlichen Blick zu und winkte ab. „Sagen Sie den Termin bitte ab, ich bin durch eine dringende Angelegenheit hier aufgehalten worden. Und bitte keine weiteren Störungen mehr.“

Die Sekretärin blickte verwundert, nickte dann aber und verschwand wieder. In ihr Büro zurückgekehrt, verdrehte sie die Augen. Mal hü, dann wieder hott, daraus sollte jemand schlau werden. Offenbar hatte der Chef gerade Stress.

So als hätte die Unterbrechung gar nicht stattgefunden, fuhr Herr Wang fort: „Wir wissen, dass Sie aus einer bekannten Winzerfamilie stammen und in der unterfränkischen Weinszene eine bedeutende Persönlichkeit sind. Ihr Wort hat Gewicht.“

Farmer runzelte die Stirn. Anscheinend war dieser Wang gut informiert. Laut sagte er: „Kommen Sie bitte auf den Punkt!“

Der Chinese verneigte sich leicht. „Demnächst finden in Würzburg wieder die Vorbereitungen für die Fernsehsendung Die Närrische Weinprobe statt. In dieser Veranstaltung wird immer ein sogenannter Narrenwein vorgestellt. Wie wir wissen, wurde dieses Jahr das Procedere dergestalt abgeändert, dass Sie, Herr Bürgermeister, diesen Wein im Rahmen einer Blindverkostung aus mehreren von verschiedenen Weingütern eingereichten Weinen auswählen werden.“

„Diese Änderung wurde aufgrund des Ergebnisses einer Zuschauerumfrage vorgenommen.“

„Das ist korrekt“, stimmte Wang zu. „Es waren in der Presse auch die zehn Weingüter namentlich genannt, die im Vorfeld im Rahmen einer Ausschreibung ausgelost worden waren, um an dieser finalen Auswahl teilzunehmen.“

Andy Farmer beugte sich leicht nach vorn und fixierte sein Gegenüber mit schmalen Augen, ließ ihn aber ohne Unterbrechung weitersprechen. Er fühlte, der Mann würde jetzt auf den Punkt kommen.

„Die Interessengruppe, die ich hier vertrete, würde es sehr begrüßen, wenn Sie nun bei dieser Verkostung dem Wein eines bestimmten Weinguts den Vorzug geben würden.“ Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Sie können natürlich sicher sein, dass sich Ihre Kooperation nicht zu Ihrem Nachteil auswirken würde.“

Die Reaktion seines Gesprächspartners kam laut und explosiv. Mit Wucht donnerte Farmers Handfläche auf den Besprechungstisch, so dass der Chinese erschrocken zusammenzuckte und zum ersten Mal sein Lächeln aufgab.

„Was ist denn das für eine gigantische Sauerei!“, brüllte Farmer. Wang wich unwillkürlich mit seinem Stuhl ein Stück zurück. Für einen Augenblick sah es wirklich so aus, als würde der Bürgermeister seinen Besucher am Kragen packen. Etwas gemäßigter fuhr er dann fort: „Sie glauben also, Sie könnten mich für Ihre krummen Geschäfte einspannen, indem Sie mich bestechen?“

Wang hatte sich wieder gefasst. „Ihr Deutschen seid immer so kategorisch“, erwiderte er ruhig. „Es geht doch nur um ein Geschäft. Jeder hat einen Vorteil und damit ist es gut. Win-win, wie man so schön sagt.“

„Ich sage Ihnen jetzt was. Sie schnappen sich Ihr feines Aktenköfferchen und sehen zu, dass Sie Land gewinnen. Dort ist die Tür! Wenn ich Sie noch einmal sehe, dann …“ Den Rest ließ er offen. Er sprang auf die Beine, ging zur Tür, öffnete sie weit und blieb wie ein Zerberus daneben stehen.

Erstaunlicherweise bewegte sich Herr Wang aber nicht. Er warf Farmer einen durchdringenden Blick zu, dann sagte er aufreizend ruhig: „Herr Bürgermeister, Sie sind nicht sehr höflich. Sie sollten bei Ihrem Verhalten bedenken, dass meine Organisation bisher schon immer ihre Interessen durchgesetzt hat. Wir wissen, wo Sie wohnen, und wir wissen auch, dass Sie Familie haben. Wenn man derart angreifbar ist, sollte man bessere Manieren haben. Uns ist es egal, ob Sie das Geld nehmen oder nicht. Wir erwarten nur von Ihnen, dass Sie sich bei der Auswahl des Narrenweines an unser kleines Gespräch erinnern.“

Farmer stand wie versteinert an der offenen Tür und starrte den kleinen Chinesen an, der sich nun geschmeidig erhob und mit einem leisen Lächeln und einer angedeuteten Verbeugung an Farmer vorbei auf den Flur hinaustrat.

Bürgermeister Farmer stand noch geraume Zeit auf der Stelle, bis er langsam seine Bürotür wieder schloss. Er ließ sich in seinen Bürostuhl fallen und versuchte sich zu beruhigen. Schließlich griff er zum Telefon und bat seine Sekretärin, ihn mit dem Büro des Präsidenten zu verbinden. Kurz danach erhielt er die Auskunft, dass der Präsident eine längere geschäftlich bedingte Auslandsreise angetreten hatte. Er überlegte, ob er sofort die Polizei einschalten sollte. Das eben war reine Erpressung! Die Frage war nur, wie er das beweisen konnte.

An dieses bedrückende Erlebnis musste Andy Farmer denken, als er jetzt die Stufen zum Weinkeller hinunterstieg. Seit diesem Tag hatte sich sein Leben irgendwie verändert. Schon wenn das Telefon klingelte, wurde er nervös. Er musterte Menschen kritisch, die an seinem Haus vorbeiliefen. Folgte ihm jemand längere Zeit auf der Straße, wechselte er die Seite.

„Ah, schön, Andy, dass du schon da bist!“ Der Präsident des Fastnachtsverbands, Bernie Schlehbusch, kam mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. „Da können wir ja in aller Ruhe vorher noch die Details besprechen. Der Toni ist auch schon da und macht alle mit seiner Gschaftlhuberei verrückt.“ Mit Toni war Anton Felsmann, der Präsident des Fränkischen Weinbauvereins, gemeint, der bei derartigen Veranstaltungen natürlich nicht fehlen durfte. Die beiden marschierten in den langen Schlauch des Stückfasskellers hinein, der an beiden Seiten von hohen Fässern flankiert wurde, an deren Vorderseiten Kerzen brannten. Am Ende des Kellers, der in eine Art Sackgasse mündete, war eine Bühne aufgebaut, auf der ein langer Tisch stand, der mit einer weißen Tischdecke bedeckt war. Nebeneinander standen dort zehn Bocksbeutel, die alle verhüllt waren. Davor erkannte er eine Reihe Versuchsgläser. Rund um die Bühne wuselten Fernsehtechniker, die Kameras herumschoben, Scheinwerfer justierten und Kabel verlegten. Ein Mann eilte aus dem Hintergrund ins Licht, der sich als Rocky Horror, Regisseur, vorstellte und Andy Farmer zu einer Stell- und Beleuchtungsprobe bat. Es folgte eine Tonprobe. Gleich darauf stürzte sich die Maskenbildnerin auf ihn, bat ihn in eine Ecke, drückte ihn auf einen Stuhl und begann, ihm den Glanz aus dem Gesicht und seiner hohen Stirn zu pudern. Fasziniert musterte Farmer die Reihe von Piercings, welche die Außenränder ihrer beiden Ohren schmückten. Ob das wohl weh tat? Eine gute halbe Stunde später war man dann eigentlich so weit. Eigentlich.

„Wo ist Frau Feen?“, brüllte ein Mann mit Klemmbrett in der Hand, vermutlich der Aufnahmeleiter, quer durch den Keller. „Hat jemand Frau Feen gesehen?“

Andy Farmer wusste natürlich, dass die Sendung von Nikki Feen, der ehemaligen deutschen Weinkönigin, moderiert werden sollte. Auch er wunderte sich. Üblicherweise führten Moderatoren mit den Gästen Vorgespräche. Gewissermaßen ein Warm-up, das als „Eisbrecher“ für nervöse Kandidaten gedacht war. Eine Maßnahme, die bei ihm natürlich nicht erforderlich war. Medienmäßig war er ein alter Hase.

Eine junge Frau, vermutlich die Assistentin, die sich gerade mit den Kameraleuten unterhalten hatte, kam zum Aufnahmeleiter gelaufen.

„Ich habe Frau Feen zuletzt gesehen, als sie aus der Maske kam und mir erklärte, sie wolle noch einmal die Toilette aufsuchen. Das war aber schon vor einer halben Stunde.“

„Mein Gott, dann sehen Sie halt nach! Wir müssen endlich anfangen!“

Hastig eilte die junge Frau davon. Es dauerte keine zwei Minuten, dann tauchte sie wieder auf. Der Aufnahmeleiter sah sie fragend an. „Was ist los? Wo ist sie?“

Die Assistentin näherte ihren Mund seinem Ohr und flüsterte etwas.

„Verdauungsprobleme? Was heißt hier Verdauungsprobleme? Wir können doch nicht ewig warten, bis Frau Feen ihre Innereien wieder im Griff hat!“

„Sie hat gesagt, sie kommt in ein paar Minuten“, versuchte die Assistentin ihren Chef zu besänftigen.

Der Regisseur gesellte sich dazu und klopfte fordernd mit dem Finger auf seine Armbanduhr. „Meine Herrschaften, Zeit ist Geld! Wir liegen schon deutlich im Zeitplan zurück.“

Mit wenigen Sätzen erläuterte der Aufnahmeleiter dem Regisseur die Problematik. Der verdrehte die Augen und ging zu dem Mann am Aufnahmepult.

In diesem Augenblick erschien endlich die erwartete Nikki Feen im Lichtkreis der Scheinwerfer. Sie trug einen knallroten Hosenanzug, der ihre schlanke Figur ansprechend betonte.

„Ich muss mich vielmals entschuldigen“, sagte sie mit einem verlegenen Lächeln, „aber das Lampenfieber …“

Der Aufnahmeleiter winkte ab. „Kein Problem!“ Zu seiner Assistentin gewandt: „Ist sie schon verkabelt?“ Als diese den Kopf schüttelte, machte er eine auffordernde Handbewegung. „Also, dann los, worauf wartet ihr noch?“

Nikki Feen wurde von der Assistentin zur Seite geführt, wo eine Tontechnikerin ein Funkmikrofon unter ihrer Kleidung befestigte. Der hautfarbene Mikrofonkopf selbst wurde mit einem Klebepad an ihrer rechten Wange befestigt.

Während Andy Farmer den Vorgang noch interessiert beobachtete, fühlte er sich plötzlich am Arm gefasst. Auch er wurde von einem Tontechniker verkabelt.

Zehn Minuten später betraten die beiden Hauptakteure die kleine Bühne. Der Regisseur wies sie kurz ein.

„Frau Feen, Herr Bürgermeister, Ihnen ist ja bekannt, dass es sich bei dieser Wahl des diesjährigen Narrenweins um eine Blindverkostung handelt. Sie sehen dort oben zehn verschiedene Weine in Bocksbeuteln von unterschiedlichen Weingütern aufgereiht. Ich kann Ihnen hierzu nur Folgendes sagen, es wurden drei Silvaner, drei Müller-Thurgau, zwei Grauburgunder und zwei Riesling eingereicht. Sie können beide natürlich nicht sehen, welcher Wein sich in welchem Bocksbeutel befindet. Von den Flaschen wurden die Originaletiketten entfernt, stattdessen befindet sich auf jedem Bocksbeutel das eigens für den diesjährigen Narrenwein von einem Grafiker entworfene Etikett, das keine Rückschlüsse auf das jeweilige Weingut zulässt. Auf der Rückseite wird später das weinrechtlich vorgeschriebene Etikett aufgeklebt. Während der Verkostung befindet sich dort nur eine Nummer. Frau Feen, Sie moderieren diese Verkostungen ohne jegliche Textvorgabe. Ihre Augen, Herr Bürgermeister, werden verbunden sein, so dass Sie die Bocksbeutel nicht sehen können, da sie teilweise unterschiedliche Formen haben. Anfassen dürfen Sie sie natürlich auch nicht. Auch die Zuseher haben keinen Wissensvorsprung. Frau Feen nennt für das Protokoll die Nummer des Weines und schenkt Ihnen anschließend ein. Der Bocksbeutel wird dann sofort wieder verhüllt. Jetzt können Sie die Binde abnehmen und versuchen. Anschließend bleibt es Ihnen überlassen, sich auf dem bereitliegenden Zettel zum jeweiligen Wein Notizen zu machen. Wenn Sie die zehn Weine durchprobiert haben, geben Sie in die Kamera die Nummern der Weine bekannt, die Ihrer Meinung nach ausscheiden sollen. Anschließend werden Ihnen wieder die Augen verbunden und Frau Feen hält die Nummern der ausgeschiedenen Bocksbeutel in die Kamera. Der soeben beschriebene Vorgang wird so oft wiederholt, bis nur noch ein Wein übrig ist, der dann als Sieger zu küren ist. Den Sieger geben Sie dann persönlich in der Fernsehübertragung bekannt.“ Er sah Feen und Farmer prüfend an. „Haben Sie das so verstanden oder haben Sie noch Fragen?“

Beide schüttelten einträchtig den Kopf.

„Na, dann fangen wir einfach mal an. Da es sich ja um eine Aufzeichnung handelt, können wir erforderlichenfalls wiederholen oder durch den Schnitt korrigieren. Der Vorgang wird von Dr. Rosenberger, dem Notar, beobachtet.“

In diesem Augenblick hörte man vom Eingangsbereich des Weinkellers her laute Stimmen. Dort wurde offenbar gestritten. Der Regisseur drehte verärgert den Kopf in Richtung des Stimmenwirrwarrs und rief: „Kann ich hier mal Ruhe haben! Hier läuft gerade eine Fernsehaufzeichnung!“

Die Assistentin des Aufnahmeleiters hastete nach vorne, um nach der Ursache des Lärms zu sehen. Einen Moment später kam sie zurück und erklärte: „Am Eingang steht ein gewisser Herr Schöpf-Kelle, der behauptet, er sei Reporter der Würzburger Mainpostille. Er beharrt darauf, dass er ein Recht darauf habe, über die Vorauswahl des Narrenweins berichten zu dürfen. Ich habe es nicht geschafft, ihn abzuweisen.“

„Der hat schon ganz andere geschafft“, mischte sich Bürgermeister Farmer ein. „Am besten, Sie lassen in rein, sonst faselt er morgen in der Zeitung eine Ente zusammen, die sich gewaschen hat. Sie müssen nur dafür sorgen, dass er nicht mitbekommt, welchen Wein ich letztendlich aussuche. Sonst weiß es morgen schon der ganze Landkreis.“

Der Regisseur gab der Assistentin ein Zeichen und sie eilte nach vorn, um den Reporter ans Set vorzulassen.

Vergnügt grinsend kam Schöpf-Kelle heran und winkte den Beteiligten gut gelaunt zu. Sofort zückte er seine Kamera, die ihm um den Hals hing, und begann, Bilder zu schießen.

Der Aufnahmeleiter eilte mit beiden Händen abwinkend auf den Reporter zu, fasste ihn am Arm und schob ihn ein Stück zur Seite. Dort redete er ziemlich intensiv auf ihn ein. Schöpf-Kelle erwiderte etwas, hob dann aber beide Hände zum Zeichen seiner Kapitulation und ließ die Kamera wieder sinken.

„Ich habe ihm gesagt, dass wir anschließend die von ihm geschossenen Bilder gerne ansehen würden. Letztendlich hat er zugestimmt.

„Also, nun aber los!“, kommandierte der Regisseur leicht genervt.

„Ton okay?“ – „Ton okay!“

„Kamera bereit?“ – „Kamera bereit!“

„Dann Action!“ Er ließ seine Hand wie ein Fallbeil von oben nach unten fallen.

Nikki Feen, die neben dem am Tisch sitzenden Andy Farmer stand, blickte freundlich lächelnd in die Kamera, an deren Vorderseite ein Rotlicht aufleuchtete.

„Guten Abend, meine Damen und Herren, ich begrüße Sie sehr herzlich zur ersten Wahl des Würzburger Narrenweins, der in dieser Faschingssession eigens für diesen Zweck in einem speziellen Bocksbeutel abgefüllt wird.“ Sie gab einen kurzen Abriss über die bisher gepflegte Praxis der Auswahl des Narrenweins und berichtete von dem Wunsch der fränkischen Fernsehzuschauer, zukünftig diesen für die Region so repräsentativen Wein im Rahmen einer Blindverkostung durch einen Weinexperten auswählen zu lassen.

„Neben mir, meine Damen und Herren, sitzt der bekannte Würzburger Bürgermeister Andy Farmer, dessen Qualifikation als Weinkenner und Neutralität als Juror wohl niemand anzweifeln wird.“ Sie schilderte kurz das neue Verfahren und erklärte, dass die Bekanntgabe des ausgewählten Weines in der Fernsehsendung Die Närrische Weinprobe erfolgen wird.

Der Regisseur unterbrach mit einem Handzeichen die Aufzeichnung und trat nach vorn.

„Das war schon sehr schön, aber nach einem Blick auf die bisherigen Muster der Aufnahmen müssen wir noch etwas an der Beleuchtung ändern. Das heißt, alles noch mal auf Anfang.“

Die Moderatorin atmete einmal tief durch, dann lächelte sie Andy Farmer zu. „So ist das halt mal bei Aufzeichnungen. Da braucht man immer Geduld.“

Die Maskenbildnerin nützte die Pause, um bei den beiden Protagonisten das Make-up aufzufrischen. Ein paar Minuten später ging es weiter.

Nach vier weiteren Unterbrechungen standen nur noch fünf verhüllte Bocksbeutel vor Andy Farmer. Es waren die Weine mit den Nummern 1, 3, 7, 8 und 10. Bürgermeister Farmer gab dem Regisseur ein Zeichen, dass er eine Pause benötigte. Der Regisseur unterbrach und Farmer stand auf, um die Toilette aufzusuchen. Er stand gerade am Waschbecken und wusch sich die Hände, als ein Mitarbeiter des Fernsehteams hereinkam. Zumindest trug er ein T-Shirt mit dem Emblem des Bayerischen Rundfunks. Seine Basecap hatte er so tief ins Gesicht gezogen, dass man seine Gesichtszüge nicht erkennen konnte. Als Farmer sich abwandte, um den Waschraum wieder zu verlassen, trat der Mann von hinten an ihn heran und legte ihm die Hand auf den Arm. Der Bürgermeister drehte sich überrascht herum. Da drückte ihm der Mann einen kleinen Zettel in die Hand. Jetzt konnte Farmer kurz seine asiatischen Gesichtszüge sehen. Ehe er reagieren konnte, war der Mann wieder draußen. Farmer faltete den kleinen Zettel auseinander und erschrak. Das Blatt zeigte ihm ein Foto der vertrauten Vorderfront seines Wohnhauses, darunter stand die Ziffer 7. Sonst gab es keinerlei Hinweise. Für Farmer war die Botschaft aber klar. Die Organisation erinnerte ihn an seine Aufgabe. Der kalte Schweiß brach ihm aus. Hastig faltete er die Notiz zusammen, steckte sie in die Hosentasche und verließ die Toilette. Draußen sah er sich um. Von dem Asiaten war weit und breit nichts mehr zu sehen.

Als er gerade zum Set zurückkehren wollte, versperrte ihm der Zeitungsreporter Schöpf-Kelle den Weg.

„Herr Bürgermeister, es wäre schön, wenn Sie mir für unsere Leser ein kurzes Statement zu dem neuen Auswahlverfahren des Narrenweins geben könnten. Es ist ja, seit es die Närrische Weinprobe gibt, das erste Mal, dass nicht von vornherein feststeht, von welchem großen Weingut der Narrenwein kommt.“

Andy Farmer winkte ungeduldig ab. „Lieber Schöpf-Kelle, Sie sehen doch, wir sind mitten in der Aufzeichnung. Wenn Sie mich interviewen wollen, dann machen Sie bitte einen Termin mit meinem Sekretariat aus. Jetzt muss ich aber weiter!“

„Auch kein Foto?“

Kopfschüttelnd eilte Farmer davon. Der Reporter sah ihm verwundert hinterher. Er konnte sich überhaupt nicht erinnern, dass sich Bürgermeister Farmer einmal der Presse verweigert hätte. Für ein schönes Foto stand er normalerweise immer zur Verfügung. Farmers Verhalten war für ihn so ungewöhnlich, dass der Sensor in seiner Reporternase Alarm schlug. Stimmte hier etwas nicht? War hier vielleicht eine echte Story abzugreifen? Schöpf-Kelle nahm sich vor, am Ball zu bleiben. In diesem Augenblick tippte ihn ein Finger auf die Schulter. Aus seinen Gedanken gerissen, bemerkte er erst jetzt die Assistentin des Aufnahmeleiters, die sich ihm unbemerkt genähert hatte.

„Herr Schöpf-Kelle, es tut mir sehr leid, aber Sie müssen nun den Weinkeller verlassen. Wir zeichnen jetzt die Wahl des Siegerweines auf. Das ist streng geheim und muss leider ohne Sie erfolgen. Sie haben sicher Verständnis dafür, dass wir die Auflösung nicht schon vorher in der Zeitung lesen möchten.“ Sie wies freundlich, aber bestimmt zur Treppe.

Schöpf-Kelle zuckte mit den Schultern. „Ist schon in Ordnung.“ Er wandte sich ab und verließ den Weinkeller. Immerhin hatte er Interviews mit dem Weinbaupräsidenten und dem Faschingspräsidenten auf seinem Aufnahmegerät sowie einige Fotos gemacht, die er dem Aufnahmeleiter auch brav vorgezeigt hatte. Das würde zunächst mal für einen informativen Artikel genügen. An der Geschichte mit Farmer würde er auf jeden Fall dranbleiben. Sein journalistischer Instinkt sagte ihm, dass da irgendetwas im Busch war.

Als Farmer zum Set zurückkehrte, warf ihm die Maskenbildnerin einen kritischen Blick zu. Der Mann hatte während der Pause heftig geschwitzt. Warum auch immer. Jedenfalls musste sie noch einmal gründlich nacharbeiten. Während sie am Gesicht des Bürgermeisters arbeitete, wollte er von ihr wissen, ob es in der Crew auch Asiaten gab. Sie verstand zwar nicht, was diese Frage sollte, verneinte aber. Was aber offenbar bei dem Mann einen neuerlichen Schweißausbruch verursachte. Wahrscheinlich hat er zu hohen Blutdruck, dachte sie, der sein Blut bei Stress in Wallung bringt. Wenig später hatte sie das Problem durch den Einsatz von massenweise Puder wieder im Griff. Auf dem Bildschirm würde man das später nicht sehen.

Andy Farmer kehrte nach der Aufforderung des Regisseurs an seinen Platz auf der Bühne zurück. Er wusste jetzt, was er tun musste, sosehr ihm das auch widerstrebte.

Eine halbe Stunde später fiel die Klappe. Regisseur Rocky Horror war mit dem Ergebnis ihrer Arbeit zufrieden und entließ Nikki Feen und Andy Farmer.

Nachdem die Exweinkönigin und der Bürgermeister wieder abgeschminkt waren, gesellten sich die beiden Präsidenten zu ihnen.

„Das ist ja prima gelaufen“, stellte Toni Felsmann händereibend fest. „Ich denke, wir haben uns alle einen guten Schoppen und etwas Ordentliches zu essen verdient.“ Er blickte beifallheischend in die Runde.

Nikki Feen hob bedauernd die Hand. „Tut mir leid, aber ich muss in den Sender und ein Nachmittagsmagazin moderieren. Ein anderes Mal gern.“ Sie gab jedem die Hand und verabschiedete sich.

„Wie sieht es mit den beiden Herren aus? Sie werden mir doch keinen Korb geben? Ich habe in den Juliusspital-Weinstuben Plätze reservieren lassen.“

Schlehbusch nickte zustimmend. „Von mir aus gern.“

Andy Farmer war es jetzt nicht gerade nach Feiern zumute, stimmte aber zu. Es gab noch einige Punkte zu besprechen, was man bei dem Essen erledigen konnte.

Nachdem man ausgiebig gespeist und getrunken hatte, die Herren waren mittlerweile beim Du, wurde Felsmann noch einmal geschäftlich.

„Es wurde ja bei der Festlegung der Regularien dieses Auswahlverfahrens vereinbart, dass dem Siegerweingut eine Urkunde ausgestellt wird, die seinen Erfolg ausweist. Wir drei werden diese Urkunde unterzeichnen, wodurch sie im Geschäftsverkehr für den betreffenden Winzer auch einen gewissen Wert erhält. Die Urkunde ist noch im Druck und wird in den nächsten Tagen geliefert werden. Wenn ich sie unterschrieben habe, werde ich sie mit einem Fahrradboten an dich, Bernie, weiterleiten. Du bist dann so nett und schickst sie an Andy weiter. Wir legen sie dann in einen schönen repräsentativen Rahmen und überreichen sie während der Närrischen Weinprobe an den Sieger.“

„Sehr gut gelöst!“, stimmte der Faschingspräsident zu.

„Kann ich nur beipflichten!“, erklärte der Bürgermeister.

Die drei Herren hoben ihre Gläser und stießen auf ihren Erfolg an. Dass einer der drei die Begeisterung nur sehr gebremst teilte, fiel den beiden anderen nicht auf.

Der Schoppenfetzer und der Narrenwein

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