Читать книгу Nur von draußen - Veronika Beci - Страница 4
Meins!
ОглавлениеIn der Mehlabteilung fing es an.
Der lange Mann bog mit seinem Einkaufswagen von unten in den Gang ein, der dicke Mann von oben. Der eine griff zum Salz, der andere zur Hefe. Sie beobachteten einander aus den Augenwinkeln über ihren Mundschutz hinweg und warfen danach einen unauffälligen Blick auf das Mehlregal. Nur noch ein einziges Paket. Die Männer gingen weiter, jeder ein wenig schneller, doch nicht zu schnell, um sich keine Blöße zu geben und ihre Absicht zu verraten. Jeder bemühte sich, seine Blicke hierhin und dorthin schweifen zu lassen, über Oblaten, Puddingpulver und Kokosraspeln, Fertigkuchen und gemahlene Mandeln, und nach Leibeskräften das Paket Mehl zu übersehen.
Jetzt waren es für jeden von ihnen nur noch wenige Zentimeter.
Da stöckelte auf einmal eine alte Dame in einem schier unglaublichen Tempo an ihnen vorbei, zwischen ihren Einkaufwagen hindurch. Sie bückte sich mit einer Elastizität, die einer hohen Erlangungsaggression geschuldet sein mochte und überhaupt nicht ihrer körperlichen Verfassung entsprach, um mit knorriger Greisinnenhand das eine, letzte Paket Mehl an sich zu reißen und in ihrem Einkaufstrolley zu versenken. Ächzend richtete sie sich dann auf, hielt sich kurz den Rücken, murmelte etwas wie "ne,ne,ne, Herrjöttche, mein Kreuz!" und humpelte langsam davon.
Dem langen wie dem dicken Mann fielen die Unterkiefer vor Staunen herunter, aber sie fingen sich recht schnell. Beide taten jetzt völlig unbeeindruckt und als machte es ihnen nichts aus, dass das Paket Mehl verloren war. Ach, was, sie hatten beide gar kein Mehl gewollt. Sie schoben ihre Einkaufswagen aneinander vorbei. Der eine griff wahllos zu Moccabohnen, der andere zu Pfannekuchenteig aus der Tube. Der eine schob den Wagen unten herum, der andere oben herum.
In Höhe der Tiefkühlware trafen sie sich wieder.
Sie beäugten einander.
Will er auch den Blätterteig, fragte sich der dicke Mann. Hoffentlich nimmt er nicht die Dinkellaugenbrezeln, dachte der lange Mann. Sie schoben ihre Einkaufswagen aufeinander zu. Unauffällig. Kamen einander näher und näher...
Aufatmen auf beiden Seiten! Dicht an dicht griffen der dicke Mann zu dem Blätterteig und der lange Mann zu den Dinkelbrezeln. Und von beidem war reichlich da.
Sie gingen aneinander vorbei.
Der einen schob seinen Wagen oben herum weiter, der andere unten herum. Aus den Augenwinkeln beobachteten sie einander.
Der dicke Mann packte Dosen mit Würstchen in seinen Einkaufswagen. Fresssack, dachte der lange Mann.
Der lange Mann packte eine Tüte Quinoa in seinen Einkaufswagen. Körnerfresser, dachte der dicke Mann.
Fast gleichzeitig kamen sie zur Milch. Der dicke Mann vor dem langen Mann. Doch hier mussten sie mit etwas Abstand warten, denn die alte Dame war ächzend und keuchend, wie ein Schemen, wieder aufgetaucht und als erste am Milchregal. Mit zittrigen Fingern - langsam, langsam - öffnete sie die Kühltür. Sie bückte sich mühsam, dass es in ihren Knien knackte, packte die Milch, die sie mit einer Hand aber nicht zu packen bekam.
"Mein Jott, is' dat schwer", murmelte sie und musste die Milchpackung mit beiden Händen greifen. Langsam, langsam versenkte sie auch die Milch in ihren Trolley und schloss sorgfältig - langsam, langsam - wieder die Kühltür, um seufzend und humpelnd, mit wackelndem Greisinnenhaupt weiterzuziehen.
Der dicke Mann schoss vor, riss die Tür auf, schnappte zweimal Vollmilch, warf sie in seinen Einkaufswagen und ließ die Türe hinter sich zuknallen. Nach ihm sprang der lange Mann heran, riss die Tür auf, schnappte sich die Lactosefreie und stellte sie in seinen Einkaufswagen. Ich bin nicht so ungehobelt wie der Dicke, dachte er und schloss betont sorgfältig die Kühltür.
Das hatte der dicke Mann durchaus gesehen. Betont geruhsam hielt er sich nun bei den Tiefkühlerbsen, dem Spinat und dem Rosenkohl auf, eine Abteilung, die ihn nur selten zu Gesicht bekam. Aber er wusste, was der Lange wollte.
Der lange Mann verzog wie erwartet verdrießlich sein Gesicht. Dann setzte er eine hochmütige Miene auf und stolzierte an dem dicken Mann vorbei. Bloß nicht durchblicken lassen, dass er sich ärgerte!
Dafür rächte er sich beim Wurst- und Fleischwarensortiment. Er prüfte umständlich jedes Paket Speck, als wäre er der größte Kenner der Fleischproduktion. Der dicke Mann hatte sich erst wartend angestellt. Aber als der Lange in allergrößter Ruhe nun Salami- und Cervelatwurstverpackungen in seinen Wagen legte, gab er, böse funkelnd, das Warten auf, drängelte mit einem "darf ich mal" hinter dem Langen her (der mit betont höflichem "aber natürlich" den Wagen ein wenig zur Seite nahm) und stürmte weiter zum Keksregal. Sollte der Lange am Speck ersticken! Ihm war es ja überhaupt nicht um den Speck zu tun, er hatte für diese Woche Erbsen und Spinat genug, pah, Speck!
Der Lange war ebenfalls behände bei den Keksen. Der dicke Mann warf ein, zwei, drei Pakete Schokoladencookies in seinen Wagen, der lange Mann warf ein, zwei, drei Pakete glutenfreie Dinkelkekse hinein.
Sie hätten mit diesem unsinnigen Wettstreit des Kekseeinladens weitergemacht, wäre nicht die alte Dame angekeucht, hätte sich zwischen sie gestellt, durch ihre halb beschlagene Brille großmütterlich-hilfeheischend zu ihnen aufgesehen und beide höflich gefragt: "Ach, könnten Sie mich mal mit de' Weinbrandböhnchen helfen, die steh'n so weit da oben, da komm' ich nich' mehr dran."
"Aber natürlich, gerne", sagte der Lange freundlich lächelnd und langte ihr hilfsbereit die Pralinen herunter. Siegesgewiss blickte er auf den Dicken und sein Blick sagte: Siehst du, so benimmt sich ein anständiger Mensch!
"Wat kosten die denn, ich kann et nich' lesen", fragte die alte Dame.
"Zwei-Euro-neunundvierzig-Cent", beeilte sich der Dicke, ihr freundlich zulächelnd, zu vermelden. Die Dame bedankte sich bei den beiden Männern. Sie verstaute die Weinbrandbohnen mit einem kopfschüttelnd gemurmelten "Ach, Jott, dat wird all' immer teurer" in ihrem Trolley und wackelte davon.
Kaum war sie fort, verdunkelten sich die Blicke der beiden Männer. Sie sahen sich kurz an und schoben ihre Einkaufswagen aneinander vorbei. Der eine oben herum, der andere unten herum.
Der Dicke warf Fisch-, der Lange Katzenfutter in seinen Einkaufswagen. Der Dicke fügte Salzerdnüsse und Chips, der Lange Reiswaffeln und naturbelassene Macadamiakerne hinzu. Der Dicke hatte eine Flasche Eierlikör im Wagen, der Lange nicht, dafür aber eine Tube Reissirup.
Das preiswerte Küchenkrepp war ausverkauft. Sie griffen beide kurz nacheinander und stirnrunzelnd zur teuren Marke, von der noch genügend in den Regalen lag.
Dann hatten sie es beide auf einmal sehr, sehr eilig. Der Dicke kam von unten in den Gang, der Lange von oben und es lag nur noch ein Paket günstiges Vierlagiges da!
Ich werde es dir nicht gönnen, Fatty, dachte der Lange.
Du Spargeltarzan wirst das Paket nicht kriegen, dachte der Dicke.
Wir wollen nicht über Lebensstile und Leibeskonstitutionen rechten, aber diesmal war der Lange aufgrund der Spannweite seiner unteren Extremitäten im Vorteil. Zwei plötzliche Sprünge und das Toilettenpapier lag in seinem Wagen. Triumphierend schob er ab Richtung Kasse.
"He, das ist meins", schrie der Dicke ihm nach: "Ich habe das Papier zuerst gesehen!" Er schob hinter dem Langen her. Der legte bereits seine Waren aufs Band.
"Sie da", rief der Dicke und ordnete sich hinter ihm ein, bevor die kleine alte Dame sich mit ihrem Trolley und ihrem wackelnden Köpfchen zwischen sie drängeln konnte: "Das Papier ist meins!"
"Ach, das sehe ich nicht so", antwortete der Lange: "Ich habe es in meinem Wagen und ich kaufe es."
Der Dicke wollte zufassen und das Paket aus dem Wagen des Langen reißen, doch der kam ihm zuvor und hielt das Paket der Kassiererin unter die Nase.
"Meins", sagte er zu ihr und sie scannte es ein, nicht, ohne die Augen himmelwärts zu drehen. Schon wieder so welche!
"Das ist eine Unverschämtheit", brüllte der Dicke.
"Ach, ja, wer ist hier wohl der Unverschämte", zickte der Lange und warf einen spöttischen, vielsagenden Blick auf die nicht unbeträchtliche Leibesmitte seines Widersachers.
"Also, also," stammelte der Dicke fassungslos. Betont langsam packte der Lange seine Sachen ein und bezahlte. Der Dicke hatte es nun eilig mit seinen Einkäufen.
"Haben Sie schon mal so etwas Unverfrorenes gesehen", fragte er die Kassiererin. Aber die zuckte nur mit den Achseln. Ja, hatte sie, jeden Tag sah sie das. Es war kaum Benehmen bei den Kunden. Ihre Memoiren sollte man mal lesen!
Der Dicke bezahlte hastig. Den Körnerfresser wollte er sich auf dem Parklatz krallen!
Hinter ihm kramte die alte Dame ihre paar Einkäufe aufs Band.
"Sagen Sie, junge Frau, wann kriegen Sie denn neues Clopapier, von dem jünstigen", hörte der Dicke sie im Hinausrennen mit krächzendem Stimmchen fragen.
Auf dem Supermarktparkplatz kam es nun zu einem Handgemenge. Der Dicke riss einfach das Toilettenpapier aus dem Wagen des Langen.
"Das ist meins!"
"Nein, meins, ich habe es bezahlt!"
"Ich habe es zuerst gesehen!"
"Sie sind ein Dieb!"
"Sie sind noch Schlimmeres!"
"Meins!"
"Meins!"
Erst bollerten sie mit ihren Wagen aneinander, dann packten sie sich gegenseitig am Kragen und rüttelten und schubsten sich. Der eine war zwar flinker, der andere dafür umso standfester, also wurde es ein zäher Kampf. Die Leute rundherum wichen zurück und einige riefen bereits per Handy die Polizei. Das Handgemenge wurde zur Keilerei, die Wagen stürzten um. Die Waren purzelten heraus, eine Packung Erbsen sprang auf, die Tube Reissirup zerplatzte und zeigte klebrige Wirkung. Das Toilettenpapier-Paket zerriss. Die Rollen rollten davon.
"Ach, ne, wat'n Glück", freute sich die kleine alte Dame halblaut. Sie war eben aus dem Supermarkt gekommen, ganz in Anspruch genommen von dem schwer gewordenen Trolley (immerhin: ein Liter Milch!) und dem Nachgrübeln über das Wechselgeld (hatte sie tatsächlich einen Fünfer gegeben?) und darum hatte sie den Streit gar nicht mitbekommen. Sie war nur erpicht darauf, nach Hause zu kommen und ihre müden Rheumabeine hochzulegen, da rollte ihr das Toilettenpapier vor die Füße.
"Ach, un' da liegt noch 'n Rolle! Nanu? Wat die Leute so alles wegschmeißen", murmelte sie verwundert: "Dat is' doch noch jut!"
Sie bückte sich mühsam, hob fünf, sechs Rollen Clopapier auf, die nur auf den ersten Blättchen etwas verschmutzt waren, und steckte sie in ihren Trolley. Dann wackelte sie still und leise davon.
Und was wurde aus dem Dicken und dem Langen? Ach, lesen Sie es doch in der Tageszeitung nach!