Читать книгу Nur von draußen - Veronika Beci - Страница 5
Die kurze, aber tragische Geschichte der Materialistin Jenny K.
ОглавлениеSie hatte schon immer viele Dinge um sich haben müssen. Sie konnte nicht sagen, warum. Sie brauchte sie einfach. Sie gaben ihr Halt. Sie fühlte sich sicher, wenn viele Dinge um sie herumstanden und -lagen.
Was für schöne Augenblicke, wenn die Eltern ihr damals, als sie noch klein war, ein Geschenk machten und es im Kindergarten hieß „Sieh an, unsere Jenny Koslowski hat wieder so ein hübsches neues Glitzerröckchen, wie süß“, wenn viele Kinder sie umstanden und bewundernd oder neidisch versuchten, den Glitzer zu streicheln. In solchen Augenblicken wusste Jenny, dass es sie gab. Sonst verschwand sie zuweilen vor sich selber wie in einem flüchtigen, verschwommenen Traum. Sie fühlte sich mitunter wie in einem großen Raum, in den sie unablässig hineinfloss und der wiederum in sie eindrang. Alles war weich, nachgebend, fließend. Aber die Dinge gaben ihr dann Festigkeit. Sie konnte sie um sich herum aufbauen und sie an sich tragen. Sie gaben ihr und ihrem Leben die nötige Kontur. Dann konnte nichts zerfließen. Vor allem sie selber nicht.
Jennys Leben verlief wie das Leben der meisten. Sie ging mit mäßigem bis guten Erfolg zur Schule. Sie spielte gemeinsam mit ihren Freundinnen mit Püppchen, denen sie selber die abenteuerlichsten Roben zusammennähten und -bastelten, damit eine herrlicher als die andere aussehen sollte, denn nur eine durfte die Prinzessin sein und das war natürlich das Püppchen mit dem schönsten Kleid und dem samtigsten Haar.
Als Jenny auf die Realschule wechselte, verlor sich das Puppenspiel und nach einer kurzen Begeisterung für den Reitsport – der Vater stiftete schon nach der dritten Reitstunde einen vollständigen Turnieraufzug für sein einziges Kind, und nachdem Jenny diese Dinge besaß, war es ihr, als gehörte ihr das Reiten, die Pferde und alles, was damit verbunden war und sie verlor das Interesse daran – entdeckte sie die Leidenschaft ihres Lebens: shoppen.
Wohl versorgt von Eltern und liebenden Verwandten, gebettet in eine vertraute Normalität floss ihr Leben weiter. Jenny K. verließ mit einem durchschnittlich guten Zeugnis die Schule und begann eine Ausbildung bei der Stadt. Das machte die Eltern, die Verwandten und Jenny selber sehr zufrieden. Sie kaufte sich vom ersten Gehalt – die Eltern hatten ihr gesagt, sie solle dieses erste Gehalt völlig und ganz nach ihren Wünschen nutzen – zwei sehr aparte Business-Outfits und da war es ihr auch schon, als hätte sie die Ausbildung bereits und wäre etwas. Und so geschah es auch. Sie ging aus ihrer Lehrzeit als Sachbearbeiterin bei der Stadt heraus, zog in eine eigene kleine Wohnung, die bald wie das Abziehbild eines Möbelhauses eingerichtet war, fuhr ihren eigenen kleinen Wagen und begann ihr eigenes kleines Leben.
Klein. Eben. Darum schuf sie es sich größer.
Sie tauschte die ersten günstigeren Möbel gegen teure. Ihre Wohnung glich nun dem stylischen Purismus einer Wohnung aus einer Architekturzeitschrift. Kein Ding stand oder lag hier ungeplant. Creme-, natur- und grautönenes Interieur war hie und da mit silberfarbenen Accessoires und Schriftzügen an den Wänden aufgelockert. Sprüche wie 'Carpe diem' oder 'Schöne Augenblicke sind das Glück des Lebens'; Zitate, die Jenny K. besaß, weil es chic war sie zu besitzen, nicht etwa, weil sie sie im mindesten verstand und sie ihr tatsächlich etwas bedeuteten.
Sie füllte ihre Wohnung mit schönen Dingen, die sie anmutig dekorierte und in Szene zu setzen wusste. Ein Besucher fühlte sich in dieser Wohnung wohl, in der es so schmuck aussah. Da lag zum Beispiel auf der Fensterbank in gefälligem Arrangement eine Silberkugel neben einem altsilbernen Kerzenständer, in dem ein weißes, schlankes Licht steckte, einem Einblatt in einem großen weißen Übertopf und einer malerisch aus einem hochstieligen Silberkelch überhängenden Grünlilie. Diese Dinge sagten Jenny, dass hier die Grenze nach draußen war. Hier begann mit dem Grünenden das Außen und sie selbst war drinnen.
Auf dem grauen Sofatisch lag aufgeschlagen ein aufwändiger Bildband über LeCorbusier. Nicht, dass Jenny gewusst hätte, was oder wer LeCorbusier war, aber die dort abgebildeten Dinge schienen ihr passend. Sie sagten: „Hier ist deine Sofaecke und hier ist dein Heim. Hier fühlst du dich wohl, denn du bist hier zuhause, Jenny Koslowski!“
In Bad, Küche und Schlafzimmer war es ähnlich. Die Schubladen und Schränke quollen über von Dingen, prächtigen, feinen, süßen, entzückenden, zumindest aber nützlich-dekorativen Zierraten. Nichts davon war kostbar, alles aber dem Auge sehr gefällig.
Nun war Jenny Mitte Zwanzig. Sie war hübsch, wie die meisten anderen jungen Frauen auch, sie war freundlich und wusste sich höflich zu benehmen, wie die meisten anderen Menschen auch und ebenfalls wie bei den meisten anderen Menschen umwölkten keine tieferen Gedanken ihre Stirne, sodass sie stets mit gelöster, oft heiterer Miene umherging. So hatte sie natürlich einen festen Freund.
Er schenkte ihr einen Ring.
Als sie den Ring annahm, da war es ihr, als hätte sie ihre ganze Zukunft angenommen. Doch der Freund verließ sie nach zwei Jahren, denn sie hatte ihn vergessen, da sie ihn durch den Ring zu besitzen glaubte.
Da wurde Jenny sehr traurig, sehr bitter. Sie verließ ihre Wohnung und ging wie verloren über die Straßen der Stadt spazieren. Es wurde Mittag – sie lief ziellos über das Pflaster. Es wurde Nachmittag – sie wusste gar nicht mehr, wo sie war, wahrscheinlich war sie immer nur im Kreis gelaufen.
Es kam die Dämmerstunde. Vereinzelt flammten Lichter hinter den Fensterscheiben auf. Dann wurden die großen Schaufenster illuminiert und endlich zündeten auch die Straßenlaternen, während sich die Stadt allmählich entvölkerte.
Das Licht fing den irrenden Blick der traurigen Jenny. Wie verzaubert fand sie sich vor dem riesigen Schaufenster des größten Kaufhauses wieder, in dem eine Vielzahl funkelnder kleiner Gegenstände von weihnachtlicher Nähe sprachen. Endlich musste Jenny nicht mehr laufen! Endlich hielt sie etwas!
Sie kam zu sich. Sie atmete tief ein und aus. Dann warf sie die Niedergeschlagenheit von sich. Sie trat in das Kaufhaus und erstand ein Sammelsurium prahlerisch glitzernder Kleinigkeiten, die ihrem Herzen Freude machten.
Weihnachten ging vorüber und das neue Jahr brach an. Jenny saß zufrieden in ihrer Wohnung. In den Regalen standen noch die vielen Dekostücke aus der Vorweihnachtszeit und zu Weihnachten selbst war sie noch einmal von Familie und Freunden reich beschenkt worden, mit Kostbarkeiten wie mit Nippes. All das war um sie herum und Jenny fühlte sich wohl. Ihre Wohnung hatte den wohlgeordneten Purismus ein wenig verloren, aber Jenny an Zuversicht gewonnen.
Kein Arbeitstag verging, an dem Jenny nicht anschließend in die Stadt ging, um sich hie und da eine Kleinigkeit zu besorgen: eine bunte Vase, ein duftendes Stück Seife, einen witzigen Topflappen, ein bezauberndes Handtäschchen, einen feinen Seidenschal, es war egal, denn sie kaufte ja nicht das Ding an sich.
Im März brach eine schlimme Zeit an, als sich eine Seuche wie eine Plage durchs Land fraß und vor der Stadt, in der Jenny lebte, selbstverständlich nicht Halt machte.
Wie die meisten Menschen bekam es Jenny mit der Angst zu tun, zumal sie jetzt weder ihre alt gewordenen Eltern, noch einige ihrer Freunde und Verwandten besuchen konnte. Die Stadtväter- und mütter wollten ihren Untergebenen Gutes tun und entließen eine Vielzahl von ihnen ins Homeoffice. Jenny war unter denen, die fortan von daheim aus ihre Arbeit zu tun hatten. Sie kaufte sich mehrere Hausanzüge mit denen sie vor dem Laptop gute Figur machte, aber dennoch gemütlich sitzen konnte.
Da saß sie, während die Grünlilie von der Fensterbank her, über die Köpfe goldener Buddhas, lilafarbener Hirsche, rotmütziger Wichtelmänner und zahlreiche, wahllos zusammengestellten Minikakteen zur ihr hinüber nickte und unermüdlich warnte: „Hier ist das Fenster, hier beginnt draußen, der weite Raum!“
Dann genügte ein Mausklick, noch einer, ein dritter und Jenny wurde wieder ruhiger. Wenn der Paketbote dann läutete – und das tat er beinahe täglich – dann kehrte für Stunden eine völlige Ruhe in ihr ein.
Die Seuche verging. Jenny wurde an ihre Arbeitsstätte zurückberufen, doch sie kam nicht. Die Eltern riefen bei ihr an, doch vergeblich. Nach einigen Tagen des verwunderten Wartens wurde die Tür zu Jennys Wohnung von fremder Hand geöffnet, weil sich Nachbarn über Pakete beschwerten, die der Bote nun zu ihnen trug und die Jenny nicht abholte.
Es bot sich ein Bild des Chaos. Die Wohnung war randvoller Dinge, vom Boden bis zur Decke, kaum fand man einen Weg hindurch.
Und niemand fand – und dies ist absolut unerklärlich – die Besitzerin all dieser Dinge.
Jenny K. war in ihnen verschwunden.