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Nur von draußen
ОглавлениеDer alte Mann hat den Krieg noch erlebt, aber so schlimm ist es ihm damals nicht vorgekommen. Zwölf Jahre alt ist er bei Kriegsende gewesen, geboren gerade in dem unsäglichen Jahr der Machtergreifung.
Hans-Hermann Maier legte das Kreuzworträtselheft an die Seite. Es war ihm jetzt nicht mehr zum Rätseln zumute. Die Erinnerungen nahmen zu viel Raum ein. Sie wollten nicht vor einem Fluss zum Duero vier senkrecht und einem peruanischen Adeligen vier waagerecht weichen.
Als Kind hatte man ja gar keinen Begriff vom Ernst. Nicht, so lange man sich behütet fühlte, einen vollen Bauch hatte und spielen konnte. Das war bei Hans-Hermann Maier der Fall gewesen. Seine Mutter, oja, die war resolut gewesen, der konnte keiner was! Die hatte einem auch schon mal die Haare gezaust und einem die Ohren lang gezogen und schimpfen hatte sie gekonnt, man hatte ihr einfach gehorchen müssen. Aber man hatte sich auch gut hinter ihr verstecken können. Sie blieb fest und unerschütterlich vor einem stehen, selbst gegenüber dem Hauswart, wenn das Fußballspiel im Hof mal wieder außer Rand und Band geraten war. Sie hatte einen auch in den Arm nehmen und herzen können und kochen außerdem, ach, geradezu herrlich hatte sie kochen können, denn das hatte sie gelernt. Und weil sie halbe Tage als Verkäuferin gearbeitet hatte, war die Familie auch in der schlimmen Notzeit immer an Butter und gutes Mehl und vielerlei sonst gekommen, war doch klar gewesen, dass Mutter erst einmal für die Marken der Familie gesorgt hatte.
Nein, nein, nein, seine Kindheit war behütet gewesen, den Umständen entsprechend. Dass der Vater irgendwann länger ausgeblieben war, weil er an der Front lag, das war ihm als Kind gar nicht so aufgefallen, denn auch vorher hatte er den Vater selten zu Gesicht bekommen, der sich wie alle anderen Väter der Nachbarschaft zwischen Arbeit, Vereinen, Nebenverdienst und sonntäglichem Frühschoppen aufgeteilt hatte.
Er hatte auch seine kleinen Sorgen gehabt, der junge Hans-Hermann. Typische Schuljungensorgen: ob die Aufgaben richtig waren, ob ihm der Johannes Rolfsen, der Schulrabauke, in der Pause wieder seine besten Murmeln wegnehmen würde, ob das Zeugnis im Schönschreiben doch noch eine gnädige Vier aufwies.
Der alte Mann musste lachen, bei den Erinnerungen an seine Schulzeit, die nun überreich über ihn kamen. Selbst über die bitteren musste er lächeln, denn sie erschienen ihm in einem verklärten Gewand, milde und gut.
Als er aus seinen Erinnerungen auftauchte, schlug es bereits neun Uhr.
Jetzt aber fix, dachte der alte Mann und schob die Rätselhefte ordentlich auf dem Küchentisch zusammen. Es war so seine Gewohnheit, nach dem Frühstück gegen sieben Uhr noch ein, zwei Stündchen Kreuzworträtsel zu lösen. Dergleichen hielt den Kopf fit.
Hans-Hermann räumte ein wenig die Küche auf. Er wischte die Plastiktischdecke feucht ab und öffnete kurz das Fenster, um Frischluft hereinzulassen. Dann ging er ins Schlafzimmer, wo sein Bettzeug noch auf der Fensterbank auslag. Er machte sein Bett mit wenigen, gekonnten Handgriffen. Dabei streichelte er auch das Daunenkissen neben seinem. Ach, die liebe Gerda...
Er würgte den Kloß hinunter, der in seiner Kehle aufstieg. Es half ja alles nichts. Weitermachen, befahl er sich.
Er tat nun all jene Dinge, die sie beide seit Jahrzehnten und erst recht, nachdem sie in Rente getreten waren, gemeinsam getan hatten. Gerda hatte es ihm ans Herz gelegt: ja ordentlich abzustauben, alles aufgeräumt zu halten, in der Küche durchzuwischen, die Waschbecken täglich zu säubern und bloß an die Fensterbänke von außen zu denken. Die sollten weiß leuchten. Sie könne auf den ersten Blick sehen, welcher Charakter in welchem Haus lebte, allein aufgrund der Sauberkeit oder Unsauberkeit der Fensterbänke, hatte sie behauptet.
Er wischte Staub, wischte Waschbecken und Fensterbänke und war so eine gute Weile beschäftigt. Dann rief ihn seine Tochter an. Sie rief ihn jeden Morgen kurz von der Arbeit aus an, hauptsächlich wegen der Einkaufsliste. Sie hatte es sich zur Pflicht gemacht, den Eltern die schweren Einkäufe abzunehmen, vor allem jetzt, da die alten Leutchen doch so ungeheuer auf sich aufpassen sollten. Wenn Hans-Hermann und Gerda etwas brauchten, dann besorgte sie es nach der Arbeit und brachte es ihnen vorbei.
Nein, heute gab es nichts. Nein, auch Kartoffeln hatte er noch genug. Jaja, er bräuchte heute in kein Geschäft zu gehen.
"Und überhaupt, wenn du spazieren gehst, dann bitte nur in den Wald, Papa, und mach' bloß um alle Leute einen weiten Bogen", rief die besorgte Tochter durchs Telefon. "Natürlich, Kind, natürlich." Sei nur ruhig Kind, dachte der alte Mann lächelnd. Hatte dieses junge Blut eine Ahnung davon, was ihn ängstigte? Gewiss kein Virus von sonstwoher. Er war ein Kriegskind.
Nun ist es Zeit, mich ein bisschen herzurichten, dachte er. Er war gewaschen und gepflegt, aber über den Bart musste er noch einmal hin. Er wollte am Nachmittag möglichst gut aussehen. Sie sollte ihn gerne ansehen, ihren Hans-Hermann. Obwohl - dachte er, während er sich ein teures Aftershave über das brennende Kinn tupfte -, ob sie es auf die Entfernung so genau sehen kann, das ist die Frage. Ach, Gerda!
Ach, Gerda, dachte er, während er seinen guten Anzug abbürstete. Es war der Anzug, den er immer trug, wenn sie zu höheren Feierlichkeiten eingeladen waren wie etwa im letzten Sommer zur Silberhochzeit ihrer Tochter. Er betrachtete den Anzug, bürstete ihn sorgfältig, wie sie es getan hätte, wäre sie in diesem Augenblick da. Die Wäsche, das war etwas, das für ihn eine schwierige Kunst blieb, sonst taten sie ja alles gemeinsam, arbeiteten Hand in Hand, doch die Wäsche, die Pflege der Kleider, das war allein Gerdas Part gewesen, da hatte er sich rausgehalten. Nun blieb ihm nichts anderes mehr übrig, als sich selber darum zu kümmern. Er tat, was er konnte.
Ach, Gerda!
Sie war seine Jugendliebe gewesen und seine einzige Liebe, bis auf eine kleine Episode lange vor ihrer Ehe. Da hatte er seine Lehre in der großen Stadt angetreten. Aus den Augen, aus dem Sinn - er musste zu seiner Schande gestehen, dass ihm Gerda in der Stadt in Vergessenheit geraten. Da war eben eine andere in seinen Blick gekommen, eine von denen mit schlängelndem Lockenhaar und Schmollmund. Zu seinem Glück hatte er sein Gespür für Hohlheit nicht völlig verloren. Das Mädchen war nur eine Fassade gewesen, eine sehr schöne Fassade. Davon gab es ja zu Genüge. Mädchen. Mein Gott, die musste ja jetzt auch eine alte Frau jenseits der achtzig sein! Er versuchte, sie sich als alte Frau vorzustellen, aber es gelang ihm nicht. Selbst an sie als Mädchen hatte er nur eine vage Erinnerung.
Dann war es wieder seine Gerda gewesen. Sie hatten eine lange Verlobungszeit gehabt. Einmal darum, weil sie ihn erneut gründlich hatte prüfen wollen, zum anderen, weil er erst seine eigene kleine Werkstatt einrichten wollte. Die Aufbruchstimmung Mitte der Fünfziger hatte ihm dabei glücklich in die Hände gespielt. Meine Güte, man war halt Kriegskind, man war nicht zimperlich, nicht arbeitsscheu, nicht unbescheiden. Man konnte aushalten und durchhalten!
61 hatten sie den Bund fürs Leben geschlossen. Das war ja auch wieder so eine Zeit gewesen! Das mit der Mauer, das hatte doch einen Riss gegeben. Da war noch mal richtig was in ihnen allen kaputt gegangen. Ausgerechnet im schönsten Sommer haben sie damit angefangen. Das muss im August gewesen sein. Jaja, Hans-Hermann erinnert sich: im Juni wurde geheiratet und im August haben die dann mit ihrer Mauer angefangen. Aber so schlimm kam ihm das nun auch nicht mehr vor.
Es ist so lange her und die Mauer steht ohnehin nicht mehr, wozu sich also künstlich aufregen, dachte er: Meistens muss man sich einfach in Geduld üben, still bleiben und aushalten.
Darin ist unserer Generation geübt, schob er in Gedanken bitter nach.
Hans-Hermann Maier wärmte sich die Kartoffeln mit Mangold auf. Er hatte auch noch von dem Rhabarber als Nachtisch. Er hätte Gerda gern ein Töpfchen davon mitgebracht, aber was nicht sein sollte...
Ein halbes Stündchen Mittagsschlaf auf dem Sofa. Das war sein Ritual. Dabei ließ er den Fernseher laufen. Irgendeine Moderatorin redete irgendwelchen Stuss. Sie warf Sprichwörter durcheinander. Hans-Hermann musste kopfschüttelnd lächeln. Na, bei so was Unbedarftem konnte er ruhig einschlafen. Ihm wurde es mittags jetzt immer zu still. Viel zu still. Er konnte das nicht mehr ertragen. Morgens ging es noch, aber nachmittags war die Stille unerträglich. Darum der Fernseher.
Er schlief ein und wachte nach exakt einer halben Stunde erholt auf - das war der Erfolg jahrzehntelanger Routine.
Nun wurde es aber Zeit, sich auf den Weg zu machen. Er zog sich den guten Anzug an, steckte Schlüssel, Portemonnaie und Maske ein und trat hinaus in die Frühlingssonne. Sie spielte wie verliebt mit Bäumen und Blumen am Straßenrand, kitzelte und streichelte das Maiengrün heraus, rieselte funkelnd über Asphalt und Stein und warf kokette Glitzerpunkte auf Hans-Hermanns guten Anzug.
Ach, Gerda! So einen schönen Tag hätten sie gemeinsam mit einem Spaziergang genossen! Hand in Hand wie seit Jahrzehnten! Nächstes Jahr stand ihre diamantene Hochzeit ins Haus, so Gott wollte.
Der alte Mann gedachte vieler schöner gemeinsamer Erlebnisse: die Geburt der Tochter, die lustige Silberhochzeit der Tante Hilde, der erste Italienurlaub im VW-Käfer, Gerda, hübsch, lebendig, immer ein Lächeln auf den Lippen und den Schalk im Nacken, dabei so solide und immer, immer an seiner Seite. Auch in argen Zeiten - die hatte Hans-Hermann jedoch vergessen.
Er fummelte mit zittrigen Händen seinen Mundschutz aus der Anzugtasche und setzte ihn unbeholfen auf. Er musste seine Blumen schnell im Supermarkt kaufen. Der Florist hatte zu.
"Bitte mit einem Wagen", erinnerte ihn die Verkäuferin.
Mit dem Blumenstrauß bewaffnet - die letzten Tulpen wohl für dieses Jahr - legte er die letzten Meter bis zum Altersheim zurück.
Altersheim. Das hätten sie sich noch vor zwei Jahren nicht vorstellen können. Sie waren immer gemeinsam gut zurecht gekommen. Er selber war so fit wie ein Turnschuh, immer Frühsport wie beim alten Turnvater Jahn und verweichlicht war so einer grundsätzlich nicht, der Krieg, Mauer, Revolte und Terror hinter sich hatte!
Er seufzte schwer.
Gerda hatte eben irgendwann einfach nicht mehr so gekonnt. Am Familientisch haben sie alle gemeinsam beschlossen, was das Beste war. Es hatte ihnen schier das Herz gebrochen. Sie hatten sich trennen müssen. Man hatte der Tatsache ins Auge sehen müssen: sich selbst konnte Hans-Hermann noch gut fortbringen, aber die Pflege seiner Gerda, das wäre über seine Kräfte gegangen. Er hatte sich zuerst geweigert, sie ins Altersheim zu geben, aber sie hatte ihre pergamenthäutige feine Hand auf seinen Arm gelegt und gesagt: "Mein Gott, Hermännchen, da haben wir doch schon Schlimmeres überstanden, oder nicht? Wir können uns ja jeden Tag sehen und den Nachmittag zusammen sein, weißt du, wie damals, als ich in den Siebzigern im Büro angefangen habe für halbe Tage. Weißte noch?"
Auch für die Nächte hatte sie einen Trost gefunden. Hans-Hermann wollte seine Gerda im Arm halten wie seit mehr als einem halben Jahrhundert! Nur im Arm halten!
"Hermännchen, du schnarchst fürchterlich und ich bin auch nich' mehr so lecker ohne dem Gebiss", hatte sie gesagt, seinen Arm getätschelt und dabei verschmitzt gelacht: "Stopp dir ein dickes Kissen daneben, dann fühlt es sich an, als wäre ich da!"
Ach, da hatten sie alle gelacht. Die Tochter war zudem erleichtert gewesen: dass die Eltern das alles derart leicht hinnehmen würden, damit hatte sie nicht gerechnet.
Jeden Tag besuchte Hans-Hermann seine Gerda und alles ließ sich ertragen, wenn sie sich bloß jeden Nachmittag umarmen, drücken und küssen konnten, wenn sie nur beieinander sitzen durften, bei Kaffee und Kuchen. Seine Hand immer zärtlich auf ihrer, ihre Hand sanft in seine geschmiegt! Es war ihr in dem vergangenen Winter täglich schlechter gegangen. Aber den Winter hatte sie glücklich überstanden, wie schon so viele im Leben. Hans-Hermann erinnerte sich des einen oder anderen Trübsals und Unglücks, das Gerda bewältigt hatte. Zurzeit standen die Karten nicht schlecht, dass sie ihre diamantene Hochzeit gemeinsam erleben würden.
Gemeinsam! Hans-Hermann stieß es bitter auf.
Er stand vor dem Altersheim. Er stand da wie an jedem Tag in den letzten Wochen. Er stand da und sah hinauf. Die Pflegerin hatte ihn entdeckt. Sie schob seine Gerda in ihrem Rollstuhl vor das Fenster. Er konnte von draußen erkennen, dass es Gerda war, aber die einzelnen Züge ihres Gesichts konnte er nicht ausmachen, auch mit Brille nicht. Lächelte sie? Bestimmt lächelte sie. Er winkte ihr mit den Tulpen zu. Sie winkte zurück. Sie hob den Daumen mehrmals in die Höhe. Die Tulpen gefielen ihr. Er legte seine Rechte auf sein Herz, wurde Gerda nun rot? Sie errötete so leicht. Immer noch wie ein junges Ding. Von draußen war das natürlich nicht zu sehen.
Ach, wie gerne, wie unsagbar gerne hätte er sie jetzt an sich gedrückt, seine liebe Frau! Wie gern hätte er ihre Hand in seiner gehalten, stundenlang! Bei Kaffee und Kuchen. "Du, meine Liebste", sagte er halblaut. Tränen wollten sich aus seinen Augen stehlen. Er winkte gleich wieder mit den Blumen, dadurch gelang es ihm, die Tränen hinunterzuschlucken. Und Gerda? Lächelte sie? Weinte sie? Von draußen war es nicht zu sehen.
Die Pflegerin kam und schob Gerda fort. Beide winkten ein letztes Mal einander zu.
Da hatte Hans-Hermann so vieles überstanden, aber das hätte er nicht gedacht, das hätte er nie für möglich gehalten, dass es ihm noch einmal das Herz brechen würde, dass ihn das allein ängstigte. Nur von draußen!