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Überraschungsgast

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Erneut gellte die Klingel durchs Haus. „Jaja, ich komme schon“, murmelte Jody, und eilte die Treppe hinunter. Wer auch immer da vor der Tür stand, er schien nicht gerade zu der geduldigen Sorte zu gehören.

Draußen begann Balu zu bellen. Verfrühte Feriengäste vielleicht? Jody atmete tief durch, setzte ein Lächeln auf und öffnete schwungvoll die Tür.

Keine Feriengäste. Charlotte. Ihre Schwester. Mit einem Koffer in der Hand. Jody spürte, wie ihr das Lächeln vom Gesicht rutschte.

„Endlich.“ Charlie strahlte. „Ich dachte schon, ihr wärt wieder irgendwo unterwegs.“ Ohne zu zögern, trat sie in den Flur und zog ihren Rollkoffer hinter sich her. Die kleinen Räder rumpelten wie ein mittleres Gewitter über die Fliesen.

Jody machte den Mund auf, wusste nicht, was sie sagen sollte, und klappte ihn wieder zu. Sie hatte immer noch den Türgriff in der Hand.

„Wo kann ich meine Sachen hinbringen?“, wollte Charlotte wissen. „Ist eine von den Wohnungen frei? Das wäre praktisch, dann könnte ich für mich selbst kochen und müsste euch nicht auf die Nerven fallen.“ Sie lächelte ihr bezauberndstes Lächeln. Ihre Wangen waren gerötet, und sie wirkte frisch wie ein junges Mädchen.

Jody blinzelte, starrte durch die geöffnete Tür auf den Hof hinaus und entdeckte Charlottes blauen Volvo, der mit geöffneter Kofferraumklappe vor der Scheune stand. In dem Auto stapelten sich Koffer und Kisten. Ein überdimensionierter Gummibaum erfrischte seine Blätter im lauen Augustwind, und Xita, Charlottes Katze, thronte auf einem riesigen Berg Decken. Balu sprang zu ihren Füßen nervös im Kreis herum und bellte. Der Volvo blockierte das Scheunentor vollständig. Hoffentlich musste Mats nicht gleich mit dem Traktor da rein.

Rumpel, rumpel, rumpel … Charlotte und ihr Koffer waren auf dem Weg zur blauen Treppe. Jody gelang es endlich, die Tür zu schließen und sich zu ihrer Schwester umzudrehen. Balus Bellen drang immer noch gedämpft durch das Holz, aber er würde sich schon wieder beruhigen.

„Was machst du hier, Charlie?“

Charlotte ließ ihren Koffer los, drehte sich aber nicht zu Jody um, sondern sah die Treppe hinauf, als handele es sich um den Aufstieg zum Mount Everest.

„Hast du meine WhatsApp nicht bekommen? Ich habe dir heute Morgen geschrieben.“ Offensichtlich hielt sie es nicht für nötig, dieser Erklärung noch etwas hinzuzufügen, denn sie begann damit, den Koffer die Treppe hinaufzuschleifen.

Jody musste eingreifen. „Du kannst da nicht hoch!“ Sie eilte die Stufen hinauf, um ihre Schwester einzuholen. „Heute kommen zwei Familien an, und eine ist schon hier. Wir sind ausgebucht.“ Sie schüttelte den Kopf. „Was ist denn mit deiner Wohnung? Wieder ein Rohrbruch?“

Charlotte hielt inne. Sie lächelte immer noch, doch es wirkte ein wenig gequält, als wäre sie sich nicht mehr ganz sicher, wie man das machte. „Du hast die Nachricht wirklich nicht bekommen?“ Ihre Stimme klang jetzt leiser, ein wenig betreten. Der Enthusiasmus darin war wie weggewischt. „Meine Wohnung ist futsch.“

„Futsch?“ Jodys Hirn versuchte lebhaft, zu ergründen, was das bedeutete, doch es gelang ihm nicht. „Wie futsch? Was ist denn passiert?“ Vor ihrem geistigen Auge spielte sich ein Erdbeben ab, das lediglich das kleine Haus verschluckte, in dem Charlotte zur Untermiete gewohnt hatte.“

„Ich kann die Miete nicht mehr bezahlen“, meinte Charlotte schlicht. „Und Karla meinte, dass sie schon jemanden hätte, der sich für die Zimmer interessiert. Sie war wirklich sehr fair. Und ich verstehe auch, dass das nicht mehr länger so weitergehen konnte. Sie will schließlich auch Geld verdienen. Und so ein halbes Jahr ohne Miete …“

„Du hast seit einem halben Jahr keine Miete mehr gezahlt?“ Jody merkte, wie sich ihre Stimme überschlug, und räusperte sich. „Aber warum denn?“

Charlotte zuckte mit den Schultern und sah auf ihre Schuhspitzen hinunter. „Die Geschäfte sind nicht so gut gelaufen“, meinte sie. „Letzte Woche habe ich den Laden zugemacht.“

Jody schwieg. Sie wusste wirklich nicht mehr, was sie sagen könnte. Der Laden zu. Die Wohnung futsch. Hatte Charlotte ihr nicht vor zwei Wochen noch fröhlich am Telefon erzählt, dass sie wieder zwei Skulpturen verkauft hatte? „Und jetzt?“, brachte sie schließlich heraus.

„Ich dachte, ich schlüpfe bei euch unter, bis der Laden verkauft und das Geld da ist“, meinte Charlotte jetzt wieder voller Begeisterung. „Dann sehen wir weiter. Natürlich nicht vollkommen umsonst, ist ja klar. Ich greife euch ein bisschen unter die Arme, wie wäre das?“

Jody blinzelte. „Du willst also hierbleiben?“ Ihre Stimme scheiterte fast an der einfachen Frage. „Ihr habt doch Platz, oder?“ Charlottes Lächeln wirkte inzwischen ein bisschen eingefroren. „Ich meine, eure Wohnungen sind doch nie alle vergeben.“

„Wie kommst du denn darauf?“ Jody verzog das Gesicht. Das hatte gesessen. „Wir sind ausgebucht“, wiederholte sie. Ihre Stimme klang steifer als sonst. Als sie die Enttäuschung auf Charlies Gesicht sah, meldete sich jedoch ihr schlechtes Gewissen. Sofort sah sie wieder vor sich, wie Charlie damals an dem Abend nach dem fünfzigsten Geburtstag ihres Vaters vor ihrer Tür gestanden hatte. Diese Erinnerung allein reichte aus, dass sie anfing, über Schlafsofas und Lager auf dem Heuboden nachzudenken.

„Ach … das ist ja schön für euch.“ Charlotte zog nachdenklich an ihrem Ohrläppchen. „Aber dann vielleicht … auf der Couch? Nur, bis eine Wohnung frei wird, natürlich.“ Die Vorstellung, wie Charlotte und Xita in ihrer Wohnung campierten, ließ Jody schaudern. Im Grunde hätte sie nichts dagegen – wenn sie sich hätte sicher sein können, dass es bei ein, zwei Nächten bliebe. Doch sie kannte ihre Schwester.

Jody seufzte. Es gab natürlich eine Lösung, die weder Schlafsofas noch Heuböden beinhaltete. „Na gut. Wir sind dabei, die Wohnungen in dem alten Tagelöhnerhaus zu renovieren. Wenn es dir nichts ausmacht, dass ab und zu ein Handwerker reinschaut oder dass du mal die Wohnung wechseln musst, kannst du dir da einen Platz suchen.“ Sie versuchte, nicht daran zu denken, was Mats dazu sagen würde. Andererseits mussten die Handwerker ohnehin erst bestellt werden, da konnten sie Charlotte irgendwie in den Zeitplan einbinden.

Für einen kurzen Moment wirkte Charlotte etwas beleidigt. Doch im nächsten Augenblick begann sie zu strahlen. „Wundervoll. Dann gibt es ja schon etwas, wobei ich euch helfen kann. Ich wollte mich sowieso im Kreativbereich weiterbilden. Gerade gestern habe ich ein fantastisches Buch über Möbelrestauration entdeckt.“ Entschlossen ließ sie ihren Koffer zurück zur Tür rumpeln. „Wo geht’s lang?“

Hungrig und ein wenig müde kehrte Jody in ihre Werkstatt zurück, nur um den Tisch noch einmal zu bewundern. Es hatte Ewigkeiten gedauert, bis Charlie endlich untergebracht war. Erst hatte Jody die Schlüssel nicht gefunden, dann hatte Charlie sich jede einzelne Wohnung ansehen müssen, bevor sie sich für die entschied, die im eindeutig schlechtesten Zustand war, und dann hatte sie Jody tatsächlich dazu gebracht, ihr beim Gepäcktragen zu helfen. Irgendwann zwischendurch war Xita ausgebüchst, und Balu hatte sie über den halben Hof gejagt, bevor sich die Katze auf den Heuboden hatte retten können.

Jody schüttelte den Kopf. Zeit mit Charlotte zu verbringen war in etwa so wie Sandburgen zu bauen. Es konnte schön und entspannend sein, aber etwas von Dauer entstand dabei nicht. Oft fragte sie sich dann, warum sie sich eigentlich all die Zeit und Mühe gemacht hatte. Jody rieb sich die Schläfen. Manchmal sollte man nicht meinen, dass sie die Jüngere der beiden Schwestern war. Charlie ging locker auf die Vierzig zu, und doch schien das Leben für sie oft ein großes Experiment zu sein, völlig losgelöst von allen Verpflichtungen.

„Manchmal beneide ich dich“, murmelte Jody. Etwas, das sie Charlie so schnell nicht direkt sagen würde, das wusste sie. Leicht verstimmt warf sie einen Blick auf den halb abgeschliffenen Tisch. Wenn sie schon ihre Anrufe nicht erledigt hatte, hätte sie auch hier weitermachen können. Dann wäre sie vielleicht schon jetzt so weit, dass sie die Lasur auswählen konnte. Stattdessen blieb dazu nun schon wieder viel zu wenig Zeit. Vor allem, da sie sich noch umziehen und zu Mittag essen musste, bevor die neuen Feriengäste kamen. Halbherzig klopfte sie sich etwas Schleifstaub vom Hemd. „Kreativhof Sperling“, murmelte sie. „Und meine eigenen Projekte sind die ersten, die unter den Tisch fallen.“

Die Werkstatttür klappte, und ruhige Schritte näherten sich. Gefolgt vom unverwechselbaren Trappeln von gespaltenen Hufen. „Ich hab doch gesagt, kein Schaf in der Werkstatt“, knurrte sie, doch gleichzeitig merkte sie, wie die Anspannung von ihr abfiel.

Mats trat hinter sie und legte die Arme um ihre Taille. „Es ist nur ein ganz kleines Schaf“, murmelte er neben ihrem Ohr. Bartstoppeln kratzten über Jodys Wange.

„Und es hat nur Blödsinn im Sinn“, erwiderte Jody. Sie schloss die Augen, und atmete tief ein. Mats roch warm nach Garten und Holz. Sie gönnte sich den Luxus, sich für einige Augenblicke in diesem Geruch zu verlieren. Und in der Geborgenheit, die er für sie bedeutete. Hinter ihnen trappelte Michel leise durch die Werkstatt.

„Ich habe Charlotte gesehen“, meinte Mats schließlich und ließ Jody los. Widerstrebend drehte sie sich zu ihm um, als wäre es ihre Schwester, die sie konfrontieren musste, und nicht ihr Mann.

„Sie ist ins Tagelöhnerhaus gezogen“, erklärte sie, ohne wirklich etwas zu erklären.

Doch Mats fragte nicht nach. Es war eins der vielen Dinge, die sie an ihm liebte. Er akzeptierte. Ihr Leben, ihre Liebe, ihre Entscheidungen. Einfach alles. „Welche Wohnung?“, wollte er lediglich wissen.

„Amselnest“, gestand sie.

„Das ist doch eine reine Baustelle.“ Mats runzelte die Stirn.

„Sie wollte es so.“ Jody seufzte. „Wir können ihr doch für einige Zeit über die Runden helfen, oder?“

Mats zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen: Deine Schwester, deine Baustelle. „Du hast unsere Finanzen besser im Blick“, meinte er.

Jody seufzte noch einmal. Sie schwieg. Sie war sich nicht absolut sicher, dass sie sich das wirklich leisten konnten. Nein, im Grunde wusste sie, dass das Geld ohnehin zu knapp war. Aber es war schließlich ihre Schwester. Ihre Familie. Und hatte Charlie nicht gesagt, sie bräuchte nur eine Unterkunft? Da würden sie wohl kaum für ihr Essen aufkommen müssen. Hoffte sie zumindest.

Etwas klirrte hinter ihnen, und Mats wirbelte herum. Jody schob sich an seine Seite, um den Schaden zu begutachten. Michel stand neben ihrer Werkbank, den Schraubenschlüssel vor seinen Vorderhufen, und machte ein unschuldiges Gesicht. Nicht, dass das irgendwas bedeutete. Schafe waren Meister darin, unschuldig dreinzuschauen, und bei Michel hatte Jody das starke Gefühl, das Tier würde heimlich vor einem Spiegel üben.

„Das lasse ich dir noch mal durchgehen“, meinte sie. „Aber nur, weil nichts kaputtgegangen ist.“

„Böhhh“, erwiderte Michel und trottete zu Mats hinüber, der ihm liebevoll eine Hand auf den Kopf legte und ihn hinter seinen Hörnern kraulte. Wenn ein Schaf schnurren könnte, dann würde dieses hier gleich loslegen, davon war Jody überzeugt.

Sie lehnte sich wieder an Mats. Ihre Tage waren oft so hektisch, dass sie über jede Gelegenheit, etwas Nähe zu genießen, froh war. Doch die entspannte Ruhe von zuvor wollte sich nicht so recht einstellen.

„Ich habe noch keine Handwerker erreicht“, murmelte sie. „Charlie ist mir dazwischengekommen. Außerdem …“ Sie zögerte ein wenig, aber dann zog sie doch den gefalteten Zettel aus ihrer hinteren Hosentasche und reichte ihn Mats. „Ich habe das hier im Flur gefunden. Einen ganzen Stapel davon, zwischen unseren eigenen Flyern.“

Sorgsam faltete Mats das Papier auf und strich es glatt. „Gut Abendrot“ prangte in geschwungener Schrift auf dem dunkelblauen Hintergrund. Und darunter „DER Wellnesshof im Sauerland“ gefolgt von einigen Fotos, die ein Glasgebäude und einen dschungelartigen Garten zeigten. Und glückliche Menschen in flauschigen weißen Bademänteln.

„Hat Hannich uns das hingelegt?“ Man musste Mats schon sehr genau kennen, um die Verärgerung in seiner Stimme zu hören.

„Glaube ich kaum. Wahrscheinlich hat es jemand aus dem Dorf nur gut gemeint. Sarah vielleicht.“

Mats faltete mit gerunzelter Stirn das Papier wieder zusammen, und Jody konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er es lieber zusammengeknüllt und in die Ecke geworfen hätte.

„Hannich würde ich es sogar zutrauen, dass er hier reinspaziert und seine Flyer auslegt. Viel Zurückhaltung hat er ja bisher nicht bewiesen.“

Jody nahm den Zettel wieder an sich und steckte ihn ein. Sie versuchte, ruhig zu bleiben, denn sie konnte spüren, dass Mats ziemlich verärgert war, auch wenn er es nicht zeigte. „Zwei Ferienhöfe im Dorf sind vielleicht wirklich ein wenig viel“, meinte sie. „Aber er hat doch ein ganz anderes Zielpublikum. Er wird uns schon keine Gäste abziehen.“

„Hast du mir nicht gestern noch erzählt, dass es dich nervt, wie viele Leute per Mail nach Wellness-Angeboten fragen?“ Mats’ Stimme war ein leises Grummeln. Michel schien seine schlechte Laune zu spüren und wich vorsichtshalber ein paar Schritte zurück.

„Wie gesagt: Ein anderes Publikum“, erwiderte Jody. „Vermutlich kämen die auch nicht auf den Sperlingshof, wenn es das Gut nicht gäbe.“ Trotz ihrer optimistischen Worte blieb da noch ein kleiner, nagender Zweifel in ihrem Hinterkopf. Nicht zum ersten Mal. Mats und sie hängten sich seit mittlerweile vier Jahren mit aller Energie in den Ausbau des Sperlingshofs. Im letzten Jahr hatten sie zum ersten Mal sichere schwarze Zahlen geschrieben, und dann kam da dieser Hannich, zog seine Renovierung mit viel Geld und viel Aufhebens innerhalb weniger Wochen durch und präsentierte einen ganz neuen Ferienhof. Sie konnte sich nicht helfen, es fühlte sich so an, als wolle er auf ihrem Erfolg aufbauen. Der Sperlingshof hatte Schevelsbach für den Tourismus erschlossen. Gut Abendrot dagegen …

Nein, Jody durfte nicht in diese Denkweise verfallen. Das war doch nichts als reine Eifersucht. Sie musste sich ablenken. Und Mats auch. „Was gibt es zum Essen?“, wollte sie wissen. Kochen war glücklicherweise immer ein Thema, mit dem man Mats auf andere Gedanken bringen konnte. „Ich bräuchte schnell etwas, bevor die Thalmanns auftauchen.“

„Soljanka?“, schlug Mats vor. „Ich hab noch welche eingefroren. Ich muss auch gleich wieder los. Muss noch eine Charge Schokolade machen, bevor ich den Laden für heute Nachmittag öffne.“

Jody grinste. „Welche Sorte?“

„Haselnuss-Krokant“, gab er zurück. „Die ist schon fast wieder alle.“

„Ich kann mir gar nicht vorstellen, warum“, murmelte Jody und schlang erneut ihre Arme um Mats. Wenn sie glaubte, damit ihr schuldbewusstes Rotwerden verbergen zu können, hatte sie sich getäuscht.

„Dass jemand, der sonst so gut haushalten kann, mir immer meine Vorräte wegfuttern muss!“, sagte Mats lachend. Er küsste sie auf den Scheitel. „Ich komme ja gar nicht mit dem Kochen nach. Was ich alles machen könnte, wenn ich nicht Schokolade kochen müsste.“

„Soljanka?“, erwiderte Jody.

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