Читать книгу Das Glück liegt hinterm Hühnerstall - Veronika Bicker - Страница 9
Dorfrundgang
ОглавлениеFür heute war es wohl besser, sich auf dem Sperlingshof rar zu machen. Charlie beeilte sich, die letzten Stühle die Treppe hinunterzutragen, und überließ Mats danach seiner Arbeit in der Küche. Sie selbst lief nur kurz die Treppe hinauf in ihre neue Wohnung, um sich ein anderes Kleid anzuziehen. Das rote hatte Schokoladenflecken abbekommen. Xita wartete vor der Wohnungstür, als wäre sie hier schon immer zu Hause gewesen, und Charlie kraulte sie abwesend. „Was tun wir nur, um das wiedergutzumachen?“, wollte sie von ihrer Gefährtin wissen, doch die schien nur an dem interessiert, was Charlie eventuell in ihrem Kühlschrank hatte. Als sie feststellen musste, dass der Inhalt sehr übersichtlich war, strich sie einmal etwas vorwurfsvoll um Charlies Beine und machte sich dann mit einem Satz aus dem Fenster davon. Sofort stürmte Charlie ebenfalls zum Fenster und stellte zu ihrer Erleichterung fest, dass sich direkt darunter ein Schuppendach befand, über das Xita nun gemächlich davonspazierte.
Jetzt, wo sie schon einmal hier am Fenster stand, nahm sich Charlie die Zeit, den Sperlingshof in Ruhe zu betrachten. Es hatte sich vieles verändert, seit sie das letzte Mal hier gewesen war. Das musste tatsächlich schon fast zwei Jahre her sein, rechnete sie sich aus und war selbst überrascht. Natürlich war sie zur Eröffnung gekommen und im folgenden Jahr noch ein paar Mal, aber dann war ihr Laden so richtig angelaufen, und es hatte immer wieder eine neue Idee gegeben, die sie sofort umsetzen musste. So hatte sie Besuche bei Jody immer wieder verschoben und nur ab und zu mal eine Mail mit ihr gewechselt. Und angerufen. Zu Geburtstagen und Weihnachten und vielleicht ein-, zweimal zwischendrin.
Wir sprechen viel zu wenig, ging ihr durch den Kopf. Ich weiß gar nicht mehr, wie es ihr hier geht. Sie sah sich um. Vieles sah neu und frisch aus, die Spielgeräte im Garten waren offensichtlich erst vor recht kurzer Zeit angeschafft worden, Scheune und Wohnhaus strahlten mit frischem Putz, und auf der Koppel standen zwei Ponys, die sie noch nie gesehen hatte. Doch man konnte auch überall Anzeichen dafür erkennen, dass noch viel zu tun war. Ein Teil des Gartens war abgesperrt, dort hatte Mats das Fundament für ein neues Gartenhaus gegossen. Balken und Bretter lagen bereit, aber noch war es einfach eine Baustelle. Die Rahmen von Fenstern und Türen waren mit einer verblichenen, ehemals dunkelbraunen Farbe gestrichen, die dringend erneuert werden musste. Und die Pflastersteine auf dem Hof waren aufgesprungen und rissig.
Das änderte nichts an der friedlichen Stimmung, die der Sperlingshof gerade in diesem Licht und um diese Tageszeit verbreitete. Die Tiere auf der Weide, der warme Geruch nach Gras und die liebevoll mit Blumen dekorierten Fenster erweckten den Anschein der perfekten Dorfidylle. In dem Garten hinter dem Schuppen versammelten sich gerade die Gastfamilien vom Sperlingshof. Es ging auf den Abend zu, genau die richtige Zeit für ein gemütliches Beisammensein. Zwei ältere Mädchen hatten ein kleineres in die Mitte genommen und versuchten offensichtlich, ihr irgendein Spiel zu erklären, ein kleiner Junge sprang ausgelassen auf dem Trampolin herum, und ein anderer, älterer, hockte träge vor dem Kaninchenkäfig und hatte seine Finger im Gitter durch das Drahtgeflecht geschlungen. Die beiden Elternpaare hatten sich mit den Kaffeetassen in der Hand um den Picknicktisch niedergelassen und waren angeregt ins Gespräch vertieft. Ein paar Hühner pickten um sie herum im Gras.
Charlie seufzte. Kaffee und ein bisschen plaudern wäre jetzt vermutlich genau das Richtige. Aber sie war sich nicht sicher, was Jody und Mats davon hielten, wenn sie sich unter die Gäste mischte. Ein anderer Plan musste her. Also: Ein Spätnachmittagsspaziergang. Das war was. Vielleicht schnappte sie ja die eine oder andere Idee auf. Der Anblick von Jodys Bastelraum hatte Charlie einen vollkommen neuen Energieschub verpasst. Hier gab es ja so viel zu tun, und manches schien Jody noch gar nicht in den Sinn gekommen zu sein. Nur gut, dass sie jetzt hier war, um die Dinge mal richtig anzugehen.
Wahllos griff Charlie in den Koffer und zog ein dunkelblaues Kleid hervor, das über dem Saum mit grünlich-türkis-weißen Meereswellen bedruckt war. Schön. Ein Urlaubskleid. Sie schlüpfte aus dem roten, machte sich gedanklich eine Notiz, Jody nach einer Waschmaschine zu fragen, und warf sich das blaue Kleid über. „Blau, blau, blau sind alle meine Kleider“, sang Charlie leise vor sich hin, während sie ihre Haare hochsteckte und eine Schmetterlingsspange in den wilden Locken befestigte. Nun noch die Sandalen an die Füße, dann war sie bereit, für ihren abendlichen Dorfrundgang.
Als sie die Treppe hinunterkam, entdeckte sie Jody auf der anderen Seite des Hofs. Sie hatte sich einen Malerkittel über die Jeans geworfen, die dunklen Haare in einen strengen Pferdeschwanz gebunden und war gerade auf dem Weg zu der kleinen Gruppe Erwachsener und Kinder, die sich an der Treppe zum Werkraum versammelt hatten. Offensichtlich stand einer von Jodys Kursen an. Die musste sie sich auch einmal näher ansehen, doch nicht heute. Sie wusste außerdem überhaupt nicht, was heute auf dem Programm stand. Schließlich wollte sie sich nicht auf irgendetwas einlassen, das ihr gar nicht lag.
So winkte sie Jody nur zu und folgte dann dem Trampelpfad, der zwischen dem Tagelöhnerhaus und dem Ponystall hindurch zur Seitenstraße führte. Obwohl es noch hell war, lag bereits die Ahnung des Abends in der Luft. Es war stiller, und die Wärme schien mehr von den Steinwänden zu beiden Seiten auszustrahlen als von der Sonne. Im hohen Gras neben dem Trampelpfad zirpten die Grillen.
Charlie blieb stehen, schloss die Augen und lauschte nur diesem Geräusch. Sommerabend. Fehlte noch der Sommernachtstraum.
An genau so einem Abend war es gewesen, als ihr die Idee zu ihrem Laden gekommen war. Sie erinnerte sich nur zu gut daran. Jody und sie hatten gemeinsam im Garten ihrer Eltern gesessen, mit dem Rücken an die beiden alten Apfelbäume gelehnt, und Jody hatte von Mats geschwärmt und darüber gegrübelt, ob sie die Polizeiarbeit aufgeben sollte, um etwas „Richtiges“ zu machen. Etwas, was die Leute auch bewegte, was nicht nur aus Konfrontationen bestand. Sie hatte es mit ihrem damaligen Team nicht gut erwischt gehabt und ständig um Anerkennung kämpfen müssen. „Bei der Polizei habe ich nicht das Gefühl, irgendetwas bewegen zu können“, hatte sie geklagt. „Ich drehe mich immer nur im Kreis, und dabei reibe ich mich an meinen Vorgesetzten und Kollegen vollkommen auf.“ Sie hatte von ihren Plänen erzählt, für die Volkshochschule zu arbeiten, und Charlie hatte zugehört und geträumt.
Die Bienen summten im Lavendel, und Charlie erinnerte sich, wie sie den Garten betrachtet hatte, ihre selbst gefertigten Skulpturen zwischen den Stauden und Büschen, die ihre Mutter voller Stolz jedem zeigte. Und dann war die Idee gekommen: Wenn Jody ihr Leben über den Haufen werfen konnte, dann konnte Charlie das auch. Ihre Skulpturen waren gut, das wusste sie. Und hatte ihre Mutter nicht immer gesagt, sie müsste Geld dafür verlangen?
Zwei Wochen später hatte sie ihren Laden entdeckt und drei Monate darauf eröffnet.
Charlie musste über sich lächeln. Ein fünf Jahre währender Sommernachtstraum. Zeit für etwas Neues. Sie schüttelte den Kopf, um ihre Gedanken zu klären, und öffnete die Augen wieder. Rasch trat sie zwischen den beiden Gebäuden hervor. Die vier Ponys des Hofs waren noch auf der Koppel und rupften gemütlich das spärliche Gras. Zwei vielleicht neun- oder zehnjährige Mädchen turnten am Zaun herum und ließen die Tiere keinen Moment lang aus den Augen. Beide trugen Reiterleggins und hohe Stiefel, sahen aber nicht so aus, als wären sie gerade zum Reiten hier. Sie schenkten Charlie abschätzige Blicke, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder den Ponys zuwandten. Menschen rangierten in ihrer Wahrnehmung ganz offensichtlich weit unter Reittieren.
Charlie folgte dem Pfad bis zur Straße. Die wurde nur wenig befahren und führte in einer Richtung zu hohen Maisfeldern, in der anderen zur Hauptstraße des Dorfes. Es gab keinen Gehweg, doch bei dem spärlichen Verkehr bestand kaum Gefahr, überfahren zu werden. Charlie bog in Richtung Dorf ab. Der Asphalt unter den Sohlen ihrer Sandalen schien zu glühen, und es roch nach weichem Teer und Gras. Sie passierte zwei moderne Einfamilienhäuschen, weiß verputzt, mit gepflegten Vorgärten, dann folgte eine offene kleine Wiese, hinter der das eigentliche Dorf begann. Alte Fachwerkhäuser und ein hübscher Natursteinkirchturm waren hinter dem wogenden Gras zu erkennen.
Charlie blieb einen Moment stehen. Sie konnte weiter der kleinen Straße folgen oder einfach auf dem Trampelpfad durch die Wiese laufen. Das würde Zeit sparen, und die blumenbedeckte Wiese im Spätnachmittagslicht sah einfach so einladend romantisch aus. Wie aus einer längst vergangenen Zeit.
Charlie bog von der Straße ab und folgte dem Trampelpfad. Langes Gras streichelte ihre bloßen Waden, und die Grillen schienen nur für sie extra laut zu zirpen. Um sie herum duftete es nach Sommer. Warmer Grasgeruch, gemischt mit einem Hauch von Pferdestall. Am liebsten hätte Charlie sich hintenüber ins lange Gras fallen lassen, um mit ihrem ganzen Körper in den Sommer einzutauchen. Stattdessen blieb sie stehen, schloss die Augen und atmete tief ein. Wärme. Glück. Gelassenheit.
„Sie wissen aber schon, dass das Privatbesitz ist?“ Eine Stimme wie ein knappes Bellen riss sie aus ihrer Schwärmerei. Charlie blinzelte und sah sich auf einmal Auge in Auge mit einem ziemlich verknautschten Gesicht. Dunkelbraune Augen, eingebettet in eine Menge Fältchen, braun gebrannte Haut, eine verblichene blaue Mütze auf dunklem Haar, das war alles, was sie auf die Schnelle erkennen konnte. Hastig trat sie einen Schritt zurück, um die ganze Gestalt besser betrachten zu können. Es war ein schmaler, großer Mann in Cordhosen und einem T-Shirt, und er sah gerade nicht besonders freundlich aus.
„Na?“, knurrte der Mann.
„Ich … entschuldigen Sie, aber ich weiß gar nicht, was Sie meinen …“, stotterte Charlie.
„Natürlich. Aber einfach mal über meine Wiese laufen“, brummte der Mann, jetzt schon ein bisschen weniger aggressiv. „Meine Wiese, verstehen Sie? Sie können hier nicht durch.“
„Es gibt ja aber keinen Zaun“, merkte Charlie an. Trotz ihres berechtigten Einwands spürte sie, wie ihre Wangen vor Verlegenheit heiß wurden. Vorsichtshalber blickte sie sich um, ob sie vielleicht nicht doch ein Hinweisschild übersehen hatte. Aber sie konnte nirgendwo Markierungen entdecken.
„Hier gab’s noch nie einen Zaun.“ Der Mann verzog das Gesicht. „Da, sehen Sie?“ Er stampfte mit dem Fuß auf den ausgetretenen Pfad. „Da wächst so schnell nix mehr. Und dann lassen noch alle ihre Hunde hinkacken.“
Charlie blickte auf den Trampelpfad, sagte aber nichts.
„Alles wegen diesem Hof!“ Es klang eher resigniert als wütend. Und damit drehte er sich um und stapfte davon. Auf dem verhassten Trampelpfad.
Charlie blieb stehen wie zur Salzsäule erstarrt, bis der Mann hinter der nächsten Häuserecke verschwunden war. Dann erst wagte sie, sich wieder zu bewegen. Ganz langsam drehte sie sich um und ging auf dem Trampelpfad wieder zurück. Auf gar keinen Fall wollte sie diesem Kerl noch mal begegnen. Sie setzte ihre Füße ganz vorsichtig auf, um so wenig wie möglich zu beschädigen. Unwillkürlich entfuhr ihr ein erleichterter Seufzer, als sie wieder auf der kleinen Straße stand.
„Ach, nehmen Sie es nicht so schwer.“ Jetzt erst bemerkte Charlie die Frau, die ein Stück weiter auf einer Bank saß. Sie hatte ein Paar Nordic-Walking-Stöcke neben sich an das Holz gelehnt und faltete gerade sorgsam eine leere Brötchentüte zusammen. „Johann macht immer so ein Theater“, erklärte sie. „Ich hab ihm schon so oft gesagt, er soll einen Zaun ziehen. Aber der Mann ist sturer als meine Schafe.“ Die Frau lächelte und erhob sich von ihrem Sitzplatz. Sie verstaute sorgfältig die Brötchentüte in der Hintertasche ihrer Jeans. „Sarah Kaufmann“, stellte sie sich vor. „Ich wohne gleich hier um die Ecke.“
Charlie ergriff die dargebotene Hand und wunderte sich über den ungewöhnlich festen Händedruck. Sie musterte die Frau. Sie war vermutlich um die fünfzig, trug die noch dunklen Haare zu einer praktischen Frisur hochgesteckt und wirkte drahtig in ihren Bluejeans und der weiten blauen Bluse. Jody nicht unähnlich, nur ein paar Jahre älter.
„Sie sind die Schwester von Jody, nicht?“
Charlie nickte etwas verwundert. „Charlotte Engels“, sagte sie. „So offensichtlich?“
„Ach, ich dachte schon, dass ich da eine Ähnlichkeit sehe.“ Die Frau lächelte. „Schön, dass Sie auch hier sind. Helfen Sie Jody und Mats?“
Charlie lächelte verlegen. „Ich versuche es. Ich bin erst heute angekommen.“
„Da finden Sie sicher bald was zu tun. Die beiden haben schon viel aus dem Hof rausgeholt, aber es gibt noch eine Menge Arbeit.“
„Kennen Sie Mats und meine Schwester besser?“, fragte Charlie.
Frau Kaufmann grinste. Es ließ sie fremdartig wirken, ein wenig koboldhaft. „Ach, ich war früher Babysitter bei den Sperlings, Sie wissen ja, Mats Eltern“, meinte sie. „Habe auf ihn und die kleine Melanie aufgepasst. Die hatten vielleicht Unsinn im Kopf. Hat er Ihnen mal erzählt, wie sie getrocknete Pferdeäpfel gesammelt haben, um zu sehen, ob sie brennen?“
Charlie schüttelte den Kopf. Sie merkte, dass es sie ein wenig traurig machte, dieses Detail nicht zu kennen. Sie redete wirklich zu wenig mit Mats und Jody. Besser das Thema wechseln, dachte sie und deutete die Straße hinunter. „Aber hier darf ich doch gehen, oder?“
Sarah Kaufmann blickte in die Richtung, in die Charlie zeigte, als müsste sie erst überlegen. „Ach, natürlich. Kommen Sie, ich muss auch wieder los. Mein Päuschen ist vorbei.“ Sie deutete auf die Walking-Stöcke. „Ärztliche Verordnung“, murmelte sie, als vertraute sie Charlie ein großes Geheimnis an. Dann packte sie die Stöcke mit einer Hand und begann, die Straße entlangzustapfen.
Als sie sich ein paar Schritte von der Wiese entfernt hatten, merkte Charlie, wie ihr wieder leichter ums Herz wurde. Irgendwie hatte der Unmut des mürrischen Alten immer noch über ihr geschwebt. Jetzt konnte sie wieder die Schönheit des anbrechenden Sommerabends wahrnehmen. Es ist ein nettes kleines Dorf, ging ihr durch den Kopf, als sie die Kreuzung erreichten. Charlies Kindheit war davon geprägt gewesen, von einer großen Stadt in die nächste zu ziehen, bis sich ihre Eltern schließlich in Schmallenberg niedergelassen hatten. Charlie selbst hatte es immer in die Städte gezogen. Es hatte sie zuerst nach Bielefeld und später nach Köln verschlagen, bis sie schließlich wieder „zu Hause“ gelandet war. Doch das echte Dorfleben kannte sie bisher nur aus Zeitschriften. Das Bild, das sich ihr jetzt bot, hätte perfekt in eine dieser Zeitschriften gepasst. Die Dorfstraße zog sich nach rechts in einem weiten Bogen dahin, gesäumt von Häusern mit altem Fachwerk und hier und da einer weiß verputzten Fassade. Eine kleine, gedrungene Kirche ruhte zwischen Beeten mit gelbem Sonnenhut und Zinnien. Auf der anderen Straßenseite stieg das Gelände allmählich an, die Hälfte des Dorfes zog sich stufenförmig weiter nach oben, bis die Häuser vom Waldrand abgelöst wurden. Hinter dieser Anhöhe, das wusste Charlie, fiel das Gelände sanft ab bis zum Ronnesee. Ein wunderschönes, klares Gewässer, in dem man im Sommer auch schwimmen konnte. Eine bessere Gegend gab es eigentlich nicht für einen Ferienhof.
„So, jetzt haben wir Johann aber wirklich hinter uns gelassen.“ Sarah Kaufmann grinste wieder ihr Koboldgrinsen und stemmte sich auf ihre Walkingstöcke. Sie blickte ebenfalls die Dorfstraße hinunter, als sähe sie sie zum ersten Mal. „Ich muss jetzt los. Kommen Sie mal auf einen Kaffee vorbei?“ Sie zwinkerte fröhlich. „Natürlich ohne jeden Hintergedanken. Kann sein, dass ich … ein oder zwei Tupperschüsseln herumstehen habe, und wenn sie Ihnen gefallen …“ Sie lachte über sich selbst. Charlie musste wohl einen etwas verlegenen Ausdruck aufgelegt haben, denn Sarah lenkte gleich ein. „Nein, im Ernst, ich freu mich auch so über neue Gesichter in Schevelsbach. Und Sie könnten ein paar Leute kennenlernen. Vielleicht gibt es weniger Gemecker, wenn die mal sehen, was sich beim Sperlingshof so tut.“
Charlie runzelte die Stirn. Sie versuchte, ihren Blick nicht von der Sonne zu wenden, die gerade glorreich hinter dem Hügelkamm versank. „Der Sperlingshof ist nicht beliebt?“
Die Frau hob eine Schulter. „Ach, den meisten ist es schon recht.
Charlie hatte den Eindruck, Sarah wolle den Sperlingshof nicht beleidigen.
„Wenigstens ist der Hof so gerettet, das ist eigentlich für uns die Hauptsache. Und die Gäste bringen ein bisschen Schwung hier ins Dorf. Aber …“, sie hob erneut die Schultern, „natürlich ändert sich hier alles. Wir hatten so was hier vorher nicht. Und es ist ja nicht nur Mats. Kaum hatte er hier angefangen, kam dieser Hannich …“ Sie ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen und sah auch zur Sonne empor.
Eine Clique aus vier Jugendlichen schlenderte an ihnen vorbei und betrachtete Charlie und Frau Kaufmann mit betonter Gelassenheit. Charlie konnte nicht entscheiden, ob es sich um Dorfkinder handelte oder um Urlauber. „Wer ist Hannich?“, stellte sie dann die Frage, die Frau Kaufmann offensichtlich von ihr erwartete.
Die Frau neben ihr zeigte den Hang hinauf auf ein großes Bauernhaus, das fast auf dem Kamm lag. „Ach, er hat den alten Hof von Gebhards gekauft und so ein Wellnessding draus gemacht. Mit Sauna und Massagen und allem Drum und Dran.“ Sie schüttelte den Kopf, als wäre allein schon der Gedanke an eine Sauna anrüchig. „Seitdem tauchen alle möglichen Gestalten hier auf. Als es noch die Familien von Mats’ Hof waren, fanden die meisten es in Ordnung. Aber diese Schickimicki-Typen, die versteht hier keiner.“
Charlie sah weiter zu dem Hof hinauf. Es war ein hübsches Gebäude, offensichtlich alt, aber gut renoviert, sodass viel vom ursprünglichen Charakter und vermutlich auch der Bausubstanz erhalten geblieben war. Eine gute Arbeit, die sicher eine Stange Geld gekostet hatte.
„Ach, ich muss jetzt“, sagte Sarah Kaufmann. „Ich will die Schafe reinholen. Und die Tupperschüsseln bereitstellen. Ich bekomme Besuch.“ Sie klopfte Charlie noch einmal auf den Oberarm. „Wir sehen uns!“, meinte sie nur und stapfte davon, ohne eine Antwort abzuwarten.
Charlie bemerkte gar nicht recht, wie sie sich entfernte. Ihr Blick ging immer noch zu dem Hof auf dem Kamm.
Wellness, dachte sie. War es nicht das, was Mats erzählt hatte? Dass die Leute das wollten. Auch wenn Mats vorhin nichts dazu gesagt hatte, konnte Charlie sich gut vorstellen, dass der Sperlingshof durchaus die Möglichkeit hatte, derartiges anzubieten. Das Tagelöhnerhaus war noch nicht renoviert, daraus ließ sich noch alles machen. Und Jody hatte ihr schließlich die Verantwortung dafür übertragen. So gut wie.
Charlie atmete tief durch, als sie merkte, wie die Ideen sie durchströmten. Wenn man den Keller umbaute … eine Blockbohlensauna war doch keine so große Sache. Und dann zwei Massageräume. Charlie erinnerte sich, dass sie letztes Jahr irgendwas über verschiedene Massagetechniken gelesen hatte. Warmstein oder so etwas. Sie hatte keine Ahnung, wie das funktionierte, aber so schwierig konnte das doch nicht sein. So was musste man einfach optimistisch angehen.
Dann gab es ja noch das Gartengelände dahinter, eine ungezähmte Wildnis aus hohem Gras und alten Bäumen, die geradezu darauf wartete, in etwas Wunderbares verwandelt zu werden. Charlie schwebte ein Klanggarten vor Augen, Windspiele in den Zweigen und ein kleiner Musikpavillon. Sie könnte einige Skulpturen anfertigen. Und Duftbeete mit verschiedenen Kräutern, aus denen man dann in einem Workshop Öle erstellen konnte. Ihr lag bereits der Duft von Thymian und Lavendel in der Nase. Diese Idee brachte sie gleich zur nächsten. Seifensieden dürfte auch nicht so schwer sein, das ging bestimmt auch in Mats Küche. Sperlingshof-Wellnessseifen mit Kräutern aus dem eigenen Garten. Charlie lächelte.
Einige Augenblicke lang stand sie nur im Abendsonnenschein und sog die Wärme und die Ideen in sich auf. Dann fasste sie einen schnellen Entschluss. Sie würde sich diesen Wellnesshof mal mit eigenen Augen ansehen. Schließlich musste man wissen, was die Konkurrenz so zu bieten hatte. Am besten gleich. Spontan war immer gut. Sie merkte, wie sich ein zufriedenes Grinsen auf ihrem Gesicht ausbreitete, als sie bergan stapfte.
„Hier sind die T-Shirts, die du bestellt hast!“ Rebecca Kemmer ließ die Kiste vor Jodys Füße fallen und atmete auf. „Mann, was für eine Schlepperei.“
„Wollte Joel dir nicht eigentlich helfen?“ Jody bückte sich, um die Kiste aufzuheben. Sie war wirklich schwer. Kaum zu glauben, dass ein bisschen Stoff so viel wiegen konnte.
„Joel ist schon wieder unterwegs.“ Rebecca seufzte. „Er trifft sich mit den Jugendlichen aus diesem Ferienprogramm, und ich habe keine Ahnung, was sie dann den ganzen Tag anstellen.“
„Soweit ich gehört habe, an der Bushaltestelle herumhängen und Eis essen.“ Jody lächelte. „Mach dir keine Sorgen. Joel ist ein netter, vernünftiger Junge. Der kommt nicht so schnell auf blöde Gedanken.“ Sie schleppte den Karton in Richtung der Kreativwerkstatt. Heute Abend bräuchte sie die T-Shirts.
„Ich weiß nicht“, seufzte Rebecca. „Ich hoffe nur, du hast Recht. In letzter Zeit ist Joel einfach … ach, ich weiß nicht.“
„Wie jeder andere Junge in der Pubertät?“, wollte Jody wissen. Sie stellte den Karton erst mal am oberen Ende der Treppe ab. Sie konnte ihn nachher noch hinunterbringen. Oder Mats bitten, dass er das für sie erledigte. „Komm, wir gehen einen Kaffee in der Laube trinken.“ Sie lächelte Rebecca zu und ging voran zu dem kleinen Gartenpavillon. Kaffee und Tassen waren schnell geholt, Jody stapelte rasch noch ein paar Shortbread Fingers aus ihrem Vorrat auf einen Teller und kehrte zu Rebecca zurück.
„Danke. Das habe ich gebraucht.“ Rebecca schenkte sich eine Tasse schwarzen Kaffee ein und nippte daran. Dann sah sie sich um. „Jedes Mal, wenn ich hier bin, hat sich was Neues verändert. Ihr kommt so gut voran, Mats und du.“
Jody blickte sich ebenfalls um, sah jedoch nur das neu gegossene Fundament für das Gartenhäuschen. Sie hatte das Gefühl, dass gerade diese Baustelle schon schrecklich lange brachlag, aber sie konnte sich auch nicht erinnern, wann Rebecca das letzte Mal hier gewesen war. Eigentlich schade, denn Jody mochte sie gerne, und Rebecca war eine der Frauen, die dem Sperlingshof nicht mit Misstrauen gegenüberstanden.
Ich muss mir wirklich mehr Zeit nehmen, Leute einzuladen, dachte sie bei sich. „Eine Baustelle nach der anderen“, sagte sie laut. „Irgendwann werden wir hoffentlich fertig sein. Vielleicht nächstes Jahr.“
„Und kaum ist man so weit, gehen die Reparaturen wieder los.“ Rebecca lächelte. Dann setzte sie sich auf einmal kerzengerade auf und starrte zum Gartenzaun hinter Jodys Rücken.
„Was ist los?“ Jody drehte sich um, konnte aber nichts entdecken.
„Dieser Junge!“, meinte Rebecca, und schüttelte den Kopf.
„Junge?“
„Er ist schon wieder weg. Ich weiß auch nicht, wer er ist. Vielleicht gehört er zum Ferienprogramm oder so, jedenfalls habe ich ihn schon öfter gesehen, wie er sich im Dorf herumdrückt. Groß, blondes Haar, sieht ein bisschen wild aus. Ich frage mich ja, ob der vielleicht hinter diesen Schmierereien steckt.“ Sie schenkte Jody einen hoffnungsvollen Blick, als könnte die ihr mehr verraten.
„Keine Ahnung. Mir ist noch nie jemand aufgefallen“, meinte Jody. „Lass uns über was anderes reden als über die Jugendlichen. Was machen denn deine Projekte? Kommst du mal in einen der Kurse?“
„Wenn ich Zeit habe.“ Rebecca wirkte noch immer angespannt. Sie griff nach einem Keks, und begann daran zu knabbern.
Jody sah sich noch einmal zum Zaun um, doch der Schotterweg dahinter lag friedlich in der Mittagssonne. Keine jugendlichen Straftäter weit und breit.
Sie musste lächeln. Jetzt ließ sie sich von den Sorgen der übrigen Dorfbewohner anstecken. Vielleicht war das ein Zeichen, dass sie endlich vollkommen hier angekommen war.
Der Weg war weiter als gedacht, denn als sie schließlich vor dem Hoftor ankam, war sie vollkommen außer Atem, und der Hofplatz lag im Schatten. Auf der niedrigen Mauer neben dem Tor hockte ein junges Mädchen mit dunklen Haaren. Es starrte Charlie für einige Augenblicke finster entgegen, doch bevor sie sich vorstellen konnte, war das Kind schon von der Mauer gesprungen und in den Hof hineingelaufen.
Na, wenn alle Gäste hier so zufrieden waren wie dieses Kind, dann bedeutete das vermutlich nichts Gutes für das Gut Abendrot. Neugierig trat Charlie durch den Torbogen auf den schattigen Hof. Sie musste nach Luft schnappen. Nicht nur wegen des steilen Anstieges. Der Anblick, der sich ihr bot, hatte etwas Traumartiges wie aus einem dieser seltsamen japanischen Zeichentrickfilme. Die eigentlichen Hofgebäude waren nur noch schemenhaft zu erkennen, die Fenster dunkel, kein Licht über der Tür.
Über dem großen zentralen Hof jedoch schwebten verschiedenfarbige Lampions wie schwerelos in der Dämmerung. Grün, blau, gelb, Farben wie in einer Unterwasserlandschaft. Der Eindruck wurde verstärkt durch eine große Glashalle, die sich in der Mitte des Hofes erhob, kuppelförmig, aus blauen und grünen Glasscheiben zusammengesetzt und hell erleuchtet. Charlie konnte die Lichtreflexe sehen, die eine Wasserfläche von innen auf die Glaswände warf. Ein Pool, wurde ihr bewusst, ein Pool in einem Glashaus. Durch die Dunkelheit, die den Boden unsichtbar werden ließ, wirkte das ganze massige Gebilde, als schwebte es. Eine blaugrüne, schillernde Seifenblase, zerbrechlich trotz ihrer Größe.
Die Kuppel nahm Charlies Aufmerksamkeit so gefangen, dass sie erst auf den zweiten Blick den Garten hinter dem Gebäude wahrnahm. Bei einem normalen Schwimmbad hätte es vielleicht eine Liegewiese getan, aber was sie in der lampionbekränzten Dämmerung erkennen konnte, waren zierliche Teiche mit Trittsteinen, Holzbänke in Heckennischen, kleine Springbrunnen und hier und dort ein Holzgebäude. Saunahütten vermutlich.
Charlie stand noch da und starrte und versuchte herauszufinden, ob sie das Ganze abgrundtief hässlich oder auf eine seltsame Weise wunderschön finden sollte, als sich eine Gestalt aus dem Dämmerlicht löste und auf sie zukam.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte der Mann.
Charlie konnte nur weiter starren. Vielleicht war er braun gebrannt, vielleicht auch blass, jetzt gerade jedenfalls schimmerte seine Haut in einem Blaugrünton, der an jedem anderen ungesund gewirkt hätte. Seine Haare waren kurz und dunkel und gewollt verstrubbelt, er trug Hemd und Stoffhose, lässig, aber offensichtlich maßgeschneidert. Seine Gesichtszüge assoziierte Charlie mit einem römischen Feldherren. Scharf und etwas hager, vielleicht sogar misstrauisch.
Was die Tatsache nicht schmälerte, dass er der bestaussehende Mann war, den sie in den letzten … zehn Jahren mindestens gesehen hatte. Sie schluckte, suchte nach Worten, konnte keine finden und lächelte verlegen.
„Haben Sie sich in der Straße vertan?“, wollte er nun wissen. „Wo wollten Sie denn hin?“
„Ich … hatte von dem Hof hier gehört. Und den Angeboten. Ich … gehe sehr gerne in die Sauna“, stotterte sie. „Und da wollte ich mir das mal ansehen.“ Ihre Stimme klang heiser in ihren Ohren und ihre Ausrede lahm, doch der Unterwasserfeldherr lächelte freundlich und streckte ihr seine Hand entgegen.
„Dann herzlich willkommen bei uns“, sagte er. „Hier sind Sie richtig. Wenn ich mich vorstellen darf, mein Name ist Thomas Hannich. Mir gehört das Gut Abendrot.“