Читать книгу Das Glück liegt hinterm Hühnerstall - Veronika Bicker - Страница 8
Schafe und Schokolade
ОглавлениеCharlie summte vor sich hin und betrachtete die Außentreppe. Es war schon nicht einfach gewesen, die ganzen Möbel aus dem Tagelöhnerhaus nach unten zu bringen. Dieser enge Treppenschacht würde noch größere Probleme darstellen. Sie blickte sich um, doch der Hof war verlassen, abgesehen von Balu, der vor der Haustür lag und in der Nachmittagssonne döste. Keine Hilfe in Sicht.
Sie wandte sich wieder unschlüssig der Treppe zu. Der Möbelstapel, den sie nach und nach bis hierher geschleppt hatte, wirkte riesenhaft neben den schmalen Stufen. Die Stühle hinunterzubringen war sicher kein Problem, aber wie sie den Tisch schaffen sollte …
Etwas quietschte direkt neben ihr, und Charlie hatte gerade noch Zeit, sich mit einem gekonnten Sprung in Sicherheit zu bringen, bevor sie die Hintertür zu Mats’ Laden in den Rücken bekam. Dabei entfuhr ihr ebenfalls ein Quietschen, das dem der Tür in Nichts nachstand.
„Oh, Entschuldigung, ich wusste nicht, dass du hier bist.“ Mats steckte seinen dunkelblonden Wuschelkopf zur Tür hinaus und lächelte Charlie an. „Ich wollte ein bisschen Luft hereinlassen. Es wird im Sommer oft ziemlich warm in der Küche.“
Charlie schnupperte begeistert. Zusammen mit der warmen Luft drang ein wunderbarer Duft aus der Tür, eine Mischung aus Bittermandel, Honig und Zimt. Seltsamerweise störte es sie nicht einmal, dass der Duft mehr an die Adventszeit erinnerte als an Hochsommer. „Was machst du da denn gerade Leckeres?“, wollte sie wissen.
„Gewürz-Schoko-Lollis“, antwortete er. Seine Stimme war leise, als verriete er ein großes Geheimnis. „Kann man in heiße Milch einrühren oder einfach so essen. Wenn man sich mal etwas gönnen möchte.“ Er lächelte. „Ich bin mir noch nicht sicher, wie sie werden. Ich habe heute mit den Gewürzen ein bisschen rumexperimentiert. Willst du versuchen?“ Er streckte ihr einen schokoladenverschmierten Löffel entgegen.
Charlie griff danach, und steckte ihn versuchsweise in den Mund. Im ersten Moment waren da nur Zimt und Schokolade, danach folgte eine frische Note, die sie nicht einordnen konnte, und ein Hauch Marzipan. „Mmh … bisschen weihnachtlich“, meinte sie. „Aber gut. Advent im Sommer.“
„Ich habe eine Prise Anis reingetan“, sagte Mats. „Ich war mir nicht sicher, ob das gut passt.“
„Keine Sorge, das passt super“, meinte Charlotte, und reichte ihm den Löffel zurück. „Hast du noch mehr davon?“
Bedauernd schüttelte er den Kopf. „Die Lollis müssen noch fest werden“, sagte er. „Aber freut mich, dass sie dir schmecken. Dann mache ich vielleicht gleich noch eine kleine Charge zum Verkaufen.“
Charlie spähte an Mats vorbei, um einen Blick in die Küche zu werfen. Der Raum war klein, blitzsauber, mit gekachelten Oberflächen und glänzenden Edelstahlgeräten. Ein bisschen unpersönlich, fand sie, man könnte doch hier und da noch eine dekorative Note setzen. Die einzigen persönlichen Gegenstände waren eine Reihe von selbst gebastelten Kühlschrankmagneten. Charlotte fragte sich, ob sie ein Geschenk von Jody waren oder ob Mats sich selbst am Basteln versucht hatte.
Auf einer der Arbeitsflächen standen eine Reihe Silikonformen, aus denen weiße Lollistiele herausragten, und auf der Spülmaschine hatte sich ein Rührbecher mit diversen schokoladenverklebten Gerätschaften gefüllt. Neben dem kleinen Herd warteten zwei Tüten Zucker und mehrere Sahnepäckchen auf ihre Verarbeitung, vermutlich als Karamellbonbons.
„Hast du eigentlich nur vor der Tür gewartet, um meine Schokolade zu versuchen?“ Um Mats Augen herum hatten sich Lachfältchen gebildet, was ihn mit seinem braun gebrannten Gesicht ein wenig wie Robert Redford aussehen ließ. „Oder gab es da noch einen Grund?“
Sofort fiel Charlie wieder der Stapel Möbel ein. Über die himmlische Schokolade hatte sie ihn vollkommen vergessen. Sie strahlte Mats an. „Jody sagte, ich kann das Zeug in ihren Bastelkeller bringen“, meinte sie, und gestikulierte zu den Stühlen und dem Ecktisch hinüber. „Ich hatte mich gerade gefragt, wie ich die wohl die Treppe hinunterbekomme.“
„Ich könnte dir tragen helfen, wenn es wichtig ist.“ Mats’ Blick war eher zweifelnd, aber Charlie beschloss, einfach nicht darauf zu achten.
„Das wäre toll“, sagte sie. „Je schneller das Zeug unten ist, desto eher kann ich mit der Arbeit anfangen.“ In Gedanken malte sie sich schon aus, wie die Stühle aussähen. Sie würde ganz schicke Farben auswählen. Jody hatte gesagt, die Wohnung heiße Amselnest, also vielleicht etwas in Grün wie die Bäume im Frühjahr und natürlich schwarz mit gelben Akzenten. Etwas Frisches, Kräftiges, das sich angenehm von dem ganzen Pastelltrend heutzutage abhob. Schließlich wollten sie ja auch, dass der Sperlingshof auffiel. Positiv natürlich.
Mats nickte, steckte den Schokoladenlöffel zu den anderen Geräten in den Rührbecher und zog sich die Schürze aus, bevor er durch die Hintertür ins Freie trat. Skeptisch betrachtete er Charlies Möbelstapel ein zweites Mal. „Was hast du denn mit den Kissen vor?“, wollte er wissen.
„Ach, die müssen einfach nur aus dem Weg sein, wenn ich den Rest der Wohnung renoviere“, gab sie rasch zurück. „Natürlich wäre es auch toll, wenn man denen einen neuen Bezug verpassen könnte, vielleicht kann man welche mit türkisem, gesprenkeltem Stoff nähen. Wie bei Amseleiern.“
…“
„Bist du sicher, dass das passt?“, fragte Mats, und hob einen der Stühle hoch. „Ganz schön schwer.“
„Nicht wahr? Ich fürchte, ich habe mit denen auch ein paar Macken in das Treppengeländer im Tagelöhnerhaus gemacht“, gestand Charlie. Sie setzte ein entschuldigendes Lächeln auf, doch Mats zuckte nur mit den Schultern. So gut man das eben konnte, wenn man einen Stuhl schleppte. „Wir müssen ja sowieso renovieren“, sagte er und begann, die Treppe hinabzusteigen. Charlie atmete erleichtert auf. Sie hatte eine viel heftigere Reaktion erwartet. Immerhin war das nicht das erste Mal, dass sie sich so unachtsam verhielt. Leider merkte sie das immer zu spät. Wenn sie nur ein wenig mehr von Jodys innerer Ruhe hätte … Aber es lohnte nicht, mit sich zu hadern. Rasch schnappte sie sich zwei Kissen, balancierte noch zwei Regalbretter obendrauf und folgte ihm.
Die steile, enge Treppe endete unten an einer in fröhlichem Grün gestrichenen Tür. Genau so ein Grün, dachte Charlie. Für die Stühle. Und den Tisch mache ich schwarz. Dann noch Fotos von Amseln und Kunstharz … Sie kam nicht weiter in ihren Überlegungen, denn Mats schob ächzend die Tür auf, und sie traten in einen dunklen, etwas niedrigen Flur, der trotz aller offensichtlichen Bemühungen, ihn fröhlich wirken zu lassen, eine etwas unheimliche Ausstrahlung hatte. Ein Keller, in dem einem Monster begegnen konnten. Charlie schauderte und folgte Mats den Gang entlang. Rechts und links zweigten einige interessant aussehende Türen ab, aber ihr Ziel war eine schwere Metalltür, die Mats erst aufziehen konnte, nachdem er den Stuhl abgestellt hatte. Hinter der Tür verbarg sich eine Überraschung. Das Zimmer war geräumig und viel heller, als man es im Kellergeschoss vermutet hätte. Einige lange Fenster aus gitterdurchzogenem Sicherheitsglas waren direkt unter der Decke in die Wand eingelassen und ließen so viel Licht wie möglich in den Raum. Als Mats einen Schalter an der Wand betätigte, flammten zusätzlich noch mehrere Tageslichtlampen auf.
In ihrem Schein sah Charlie einige lange, alte Tische, die schon einiges mitgemacht zu haben schienen. Farbflecken und so mancher tiefe Kratzer zeugten von den kreativen Unternehmungen, die hier in die Tat umgesetzt wurden. Dazu gab es ungefähr zwanzig Drehhocker, zwei Waschbecken an der Wand und eine Regalreihe, in der sich hinter Plexiglastüren die unterschiedlichsten Bastelmaterialien stapelten. Kistenweise Servietten, Reihen von Kleber- und Farbflaschen, ein Scherenregal, Schachteln, die vielversprechend mit „Glitzer“, „Perlen“, „Pfeifenputzer“, „Knöpfe“, „Bänder“, „Streuteile“, „Mosaik“ und vielem mehr beschriftet waren, Pappmachéfiguren zum Bekleben, Blankobilderrahmen, Plastikkugeln, Holzreste. Und Papier. Stapelweise Papier, von einfachen weißen Bögen über buntes Tonpapier bis hin zu dicht gemustertem Origami- und Dekopatch-Papier. Ein Regal enthielt eine richtiggehende Bibliothek mit bestimmt zweihundert bunten Bücherrücken und Heftchen.
An einer freien Wand stand gebündeltes Peddigrohr, daneben eine Werkbank mit Schraubzwinge und einer Standbohrmaschine. Überall, wo noch ein Fleckchen Wand frei war, hingen Bastelarbeiten und Fotos von glücklichen Teilnehmern an Jodys Kreativkursen.
„Wow. Hat Jody einen Bastelladen geplündert?“, wollte Charlie wissen und ließ ihre Kissen auf einen der Tische fallen.
Mats blickte sich um, suchte offensichtlich einen Platz für den Stuhl und entschied sich dann für eine halbwegs freie Ecke hinter dem letzten Basteltisch. „Vieles davon sind Spenden“, sagte er. „Wir haben das Kreativprojekt groß aufgezogen und beworben. Jody hofft, dass es den Ausschlag für Leute gibt, die einen etwas anderen Urlaub verbringen wollen.“
„Und, klappt es?“ Charlie beeilte sich, Mats zu folgen, der schon wieder auf dem Weg nach oben war. Am Fuß der Treppe hielt er inne, um sich nach ihr umzudrehen, und sie stieß dabei fast gegen ihn.
„Geht so. Ich glaube, es braucht noch ein bisschen Zeit. Die Süßigkeiten laufen ganz gut.“ Er lächelte versonnen, wurde aber gleich wieder ernst. „Es bleibt dabei, dass noch eine Menge zu tun ist. Wir renovieren, so gut wir können, aber Zeit und Geld sind eben immer knapp. Wir haben eine Menge geschafft, in drei Jahren, aber dann kam letztes Jahr dieser Hannich, investierte eine Menge Geld in den alten Bauernhof am Hang und zog sein Wellness-Monster da hoch.“ Er verzog das Gesicht. „In der Zeit, in der ich die Hühnerstiege renoviert und das Schuppendach geflickt habe, hat er den ganzen Hof umgebaut. Er hat ganz andere Mittel als wir.” Kopfschüttelnd ging er weiter. „Sauna. Massagen. Handgefertigte Seifen, das ganze Programm. Das zieht natürlich Urlauber an. Urlauber, die vielleicht sonst zu uns gekommen wären.“
„Warum bietet ihr das nicht ebenfalls an?“ Charlie schnaufte hinter Mats die Treppe hoch. Er hatte sich bereits den zweiten Stuhl geschnappt, und sie sah sich nach etwas Leichtem um, das sie tragen könnte. „Im Tagelöhnerhaus ist doch noch genug Platz, wenn man zum Beispiel auf eine oder auch zwei von den Wohnungen verzichtet …“
Zu ihrer Enttäuschung antwortete Mats darauf erst mal nicht, sondern widmete sich ganz seiner Arbeit. Nach kurzem Nachdenken nahm Charlie das letzte Sofakissen an sich und überlegte gerade, ob sie noch mal hoch in die Wohnung laufen sollte, um einen der Bilderrahmen von der Wand zu nehmen, als etwas Wolliges um die Ecke getrappelt kam.
„Böhhh?“ Ein dunkles Gesicht, umrahmt von grauen Locken blickte hoffnungsvoll zu Charlotte auf.
„Hallo, Michel.“ Charlie machte vorsichtshalber einen halben Schritt zurück. Sie war sich nicht sicher, ob Mats‘ Gefährte mit seinen gedrehten Hörnern nicht doch vielleicht gefährlich werden konnte.
„Böh“, erwiderte das Schaf und nutzte Charlies Zurückweichen, um sich an ihr vorbeizuschieben. Neugierig spähte es durch die Hintertür, die Mats offen stehen gelassen hatte, in die Schokoladenküche.
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass du da nicht reindarfst“, meinte Charlie. Sie legte ihr Sofakissen wieder weg und trat vorsichtig einen Schritt auf Michel zu, um ihm den Weg zu versperren.
Das Schaf warf einen Blick über seine Schulter, als wolle es ihr sagen, dass es genau wusste, was sie vorhatte. Bedächtig setzte es einen Huf auf die blitzblanken Fliesen.
„Komm da raus!“, zischte Charlie und spähte die Treppe hinunter, ob Mats vielleicht schon wieder auftauchte. Diesen Augenblick nutzte Michel, um flink in die Küche zu trotten. Schnurstracks steuerte er auf die Arbeitsfläche zu, wo die noch flüssigen Schokoladenlollis in ihren Formen warteten.
„Michel!“ Charlie wurde lauter. „Hierher!“
„Bööh!“ Michel hob die Nase, schnupperte neugierig und zupfte versuchsweise mit den Zähnen an einem Lollistiel. Die Form kippelte, und Charlie konnte sehen, wie die zähflüssige Schokolade über den Rand kroch.
„Jetzt reicht es!“, knurrte Charlie. Ungeachtet ihrer eigenen verdreckten Schuhe stapfte sie in die Küche. Michel drehte sich halb zu ihr um, und betrachtete sie interessiert. Er schien nicht im Mindesten beunruhigt zu sein. Charlie war beinahe erleichtert. Das ging ja besser, als sie gedacht hätte. „Du kommst jetzt mit!“, sagte sie und packte Michel an einem seiner gewundenen Hörner.
In diesem Moment verwandelte sich das wollige Etwas neben ihr in einen gehörnten Teufel.
Ruckartig sprang das Schaf zurück und warf dabei den Kopf in den Nacken, sodass Charlie das Horn loslassen musste. Vom Schwung des Schafes mitgerissen, stolperte sie, taumelte gegen die Arbeitsfläche und stieß gegen die Lolliformen. Schokolade schwappte bedenklich in den hübschen Blumenmustern. Gerade noch rechtzeitig konnte Charlie die Formen beiseiteschieben.
Michel blökte und schüttelte den Kopf, wie um sich zu versichern, dass die lästige Hand nicht mehr da war. Doch anstatt jetzt zu fliehen, fühlte er sich offensichtlich so beleidigt, dass er zum Angriff überging. Er senkte den Kopf und fixierte Charlie aus gelblichen Augen. Es fehlte gerade noch, dass er mit den Hufen scharrte und Rauch aus seinen Nüstern stieg, dachte Charlie, und wich vorsichtshalber einen Schritt zurück. Mit der Hüfte stieß sie abermals an die Arbeitsfläche. Michels Kopf senkte sich noch weiter. Charlie erwartete in jedem Moment, spanische Stierkampfmusik zu vernehmen. Sie machte sich bereit, im letzten Moment zur Seite zu springen, wenn der Schafbock auf sie zugestürmt kam.
„Was macht ihr denn hier?“
Charlie zuckte zusammen und fuhr herum, um einen fassungslosen Mats in der Küchentür zu entdecken. „Ich …“, begann sie, doch in diesem Moment stürmte Michel los. Nicht auf sie zu, sondern freudig blökend in Mats‘ Richtung. Dennoch zuckte Charlie erneut zusammen und stützte sich auf der Arbeitsplatte ab, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. An die Lollis dachte sie erst, als die Finger ihrer rechten Hand schon in etwas Klebriges, noch leicht Warmes getaucht waren. „Oh …“ Charlie hob sich die Hand vor die Augen. Eine Schokoladenspur rann langsam von ihren Fingerspitzen über die Handflächen.
„Bööööh?“, machte Michel und sah unschuldig zu Mats auf. Sieh nur, was sie wieder angestellt hat, sagte sein Blick, bevor er sich umdrehte und über den Hof davon trottete.
„Schafe mögen es wohl nicht besonders, an den Hörnern angefasst zu werden“, sagte Charlie kleinlaut. Sie erinnerte sich dunkel an ein Telefonat mit Jody voriges Jahr, wo diese ihr eine ganz ähnliche Geschichte erzählt hatte. Mit dem Schlusssatz: „Ich jedenfalls fasse nie mehr einem Schaf an die Hörner.“
Mats seufzte. „Richtig“, murmelte er und nickte in Richtung der Schokoladenform. „Jetzt kannst du sie auch essen, schätze ich.“