Читать книгу Denn die Nacht bringt das Meer. Nordsee-Thriller - Veronika Bicker - Страница 5
ОглавлениеKapitel Eins – Die Stille
Das hohe kreischende Geräusch der Zugbremsen riss Marit aus ihren Gedanken. Sie hatte nicht geschlafen, aber sie fühlte sich, als hätte sie es getan. Die letzte Stunde der Zugfahrt hatte sie damit zugebracht, blicklos aus dem Fenster zu starren. Die Landschaft hinter den Scheiben hatte sich verändert, ohne dass sie es bemerkt hätte. Jetzt blinzelte Marit aus dem Fenster und sah auf einen winzigen, staubgrauen Bahnsteig hinunter, auf einer Seite begrenzt von einem geziegelten Bahnhofsgebäude. Und hinter dem Gebäude – nichts.
Nein, nichts war sicher der falsche Ausdruck. Natürlich war da etwas, aber das Etwas war leer und wunderbar ruhig. Eine flache, graugrüne Wiese, die sich unter einer steingrauen Wolkendecke dahin zog, bis sie in gar nicht allzu weiter Ferne abrupt zu einem von Schafen weißgetupften Wall anstieg.
Ein Deich. Kein Wall. Ein Deich.
Marit merkte, wie ihr allein schon der Gedanke ein Lächeln auf das Gesicht zeichnete. Über ihre Freude, endlich angekommen zu sein, hätte sie beinahe vergessen, dass sie hier in Nordersiel aussteigen musste. Erst als sie das unmissverständliche Geräusch der sich langsam schließenden Zugtüren hörte, sprang sie auf, zog ihre Reisetasche und ihren kleinen Lederrucksack von der Gepäckablage und stürzte zum Ausstieg. Sie hämmerte auf den grünen Knopf ein, bis die Türen ein Einsehen hatten und sich zischend wieder öffneten. Erleichtert schulterte Marit Tasche und Rucksack, kletterte auf den Bahnsteig herunter und blieb stehen. Durch die Zugfenster sah sie die missbilligenden Mienen ihrer Mitreisenden, die ihretwegen jetzt sicher zwei kostbare Minuten verloren hatten, dann ruckte die kleine Regionalbahn an und rollte beinahe lautlos davon.
Marit war allein.
Jetzt, wo sich das schützende Zugfenster nicht mehr zwischen ihr und ihrer Umwelt befand, konnte sie plötzlich so viel mehr in der Leere wahrnehmen, dass es ihr schier die Sinne raubte. Vom Deich her wehte eine schwache Brise und brachte einen Geruch nach altem Tang, Wolle, Salz und Stille mit sich. Aus einer anderen Richtung trieb Holzfeuerrauch zu ihr hinüber und mischte sich angenehm mit dem Meeresgeruch. Vögel sangen unsichtbar im hohen Gras, dann und wann konnte man das Schlagen von Flügeln vernehmen, wenn einer von ihnen aufgescheucht wurde. Der Wind raschelte durchs Gras, kühlte Marits Wangen und raunte Worte in einer fremden, stillen Sprache. Marit glaubte, schon jetzt Salz auf ihren Lippen schmecken zu können, dabei fühlten sie sich doch nur rau und rissig an, als sie mit der Zungenspitze darüber fuhr.
»Moin, Sie brauchen ein Taxi?«
Marit blinzelte und kehrte einmal mehr in die Gegenwart zurück. Der Mann neben ihr auf dem Bahnsteig trug einen Parka mit hochgeschlagener Kapuze, hatte die Hände in die Taschen gesteckt und die Schultern hochgezogen, als befänden sie sich am Polarkreis. Er war einen halben Kopf kleiner als Marit, so dass sie auf seine Kapuze hinunter sehen konnte, und seine gebeugte Gestalt war so dürr, dass sie Angst hatte, selbst die leichte Brise könnte ihn davon wehen.
»Ja, tatsächlich.« Sie lächelte, aber gleichzeitig wunderte sie sich ein wenig. Der Mann sah nicht wie ein Taxifahrer aus.
Er schien ihre Verwunderung zu bemerken und zuckte mit den Schultern. »Herr Dieck hat mich angerufen. Ein richtiges Taxi gibt’s hier außerhalb der Saison nicht, aber ich hole ab und zu die Leute vom Bahnhof ab. Kommen Sie!«
Er drehte sich um und ging mit ruhigen Schritten zu der kleinen Treppe, die vom Bahnsteig hinunter führte. Er bot Marit nicht an, ihre Tasche zu tragen, und sie war froh darüber. Auch über das freundliche Schweigen, mit dem er ihr den Kofferraum des Volvos öffnete und sie schließlich zur Beifahrertür wies. Marit brauchte keine Worte.
»Der Leuchtturm, richtig?« Das dünne Männchen war hinter das Steuer gerutscht und drehte den Zündschlüssel im Schloss.
»Richtig. Ist es weit?«
Marit ließ ihr Fenster einen Spalt hinunter und genoss es, als der Wind hinein wehte. Ihre Haare wirbelten in feinen, hellblonden Strähnen über ihr Gesicht.
»Nicht sehr.« Er sah sie kurz von der Seite an. »Wollen Sie nicht erst ins Dorf? Vorräte kaufen? Sie haben ja nicht gerade viel Gepäck. Sie sollten was zu essen haben. In zwei Stunden machen die Läden zu und morgen sind sie geschlossen.«
Marit konnte ihm ansehen, dass das eine längere Rede gewesen war, als er geplant hatte, denn er schloss ziemlich abrupt den Mund und lenkte den Wagen auf eine schmale Asphaltstraße hinaus.
»Nein danke, meine Vorräte sollten bereits geliefert worden sein. Ich bin für ein paar Tage versorgt.« Der Fahrtwind ließ den Geruch nach Meer ein wenig verfliegen und Marit drehte die Nase zum Fenster, um wenigstens ein bisschen davon einzufangen.
Der Fahrer warf ihr wieder einen kurzen Blick zu und schien ernsthaft zu überlegen, ob er wirklich weitersprechen sollte. »Wie lange bleiben Sie denn?«, wollte er schließlich doch wissen.
»Für immer.«
Die Straße führte schnurgerade auf den Deich zu. Über den Wiesen links und rechts kreisten jetzt Silbermöwen.
»Für immer?« Der Fahrer machte eine kurze Pause. »Sie haben den Turm doch nicht gekauft, oder? Ich weiß, dass der alte Dieck verkaufen wollte, aber ich wusste nicht, dass da schon etwas passiert ist. Wann haben Sie denn besichtigt?«
»Gar nicht.« Der Deich war auf einmal direkt vor ihnen, dann erhoben sich für einen kurzen Moment links und rechts vom Auto die steilen Metallwände eines Deichdurchbruchs, bevor sich das Land wieder öffnete. Bräunlich gelbe Salzwiesen, ein paar graue Tümpel, auf denen Brandgänse dahin paddelten, und in der Ferne das Meer. Ebenfalls grau und flach, mit ein paar winzigen weißen Spitzen. Ein friedliches Tier. Zumindest heute.
Sie konnte beinahe hören, wie die Gedanken ihres Fahrers kreisten. »Gar nicht«, wiederholte er schließlich langsam. »Warum nicht?«
Marit hob die Schultern. »Weil ich nicht gekauft habe.«
Über sein überraschtes Gesicht musste sie lächeln und sie ahnte schon die nächste Frage. Es machte ihr nichts aus, seine Fragen zu beantworten. Sie waren immer noch angenehmer als Jannas Vorwürfe. »Du kannst doch nicht einfach vor allem davonlaufen, Mama. Wie alt bist du eigentlich, zwölf?«
»Höchstens«, murmelte Marit eine Antwort auf die Frage ihrer Tochter, doch als sie das verwirrte Gesicht des Fahrers bemerkte, lächelte sie nur wieder. Sie schuldete ihm wohl eine Erklärung. »Herr Dieck ist ein guter Bekannter von mir. Ein Freund, könnte man sagen.« Eigentlich ein Gast, kein Freund. Ein lieber, langjähriger Gast im Hotel. Freunde habe ich keine. Doch das sollte sie vielleicht nicht vor dem Taxifahrer erläutern. »Er hat mir angeboten … nun, den Turm zu hüten, bis ich hier etwas Eigenes finde. Er braucht jemand, der ihn in Schuss hält und ab und zu potentielle Käufer herumführt. Ich habe das Angebot angenommen, ohne mir den Turm anzusehen. Meine Tochter und ich haben …« Nein, wenn sie auf diese Weise weitersprach, würde sie zu viel preisgeben. »Wir hielten es beide für eine gute Idee«, log sie. »Wir haben vor längerer Zeit mal ein paar Wochen in dieser Gegend verbracht und ich habe gute Erinnerungen daran.« Sie lächelte. »Ich wollte mich überraschen lassen.«
Ihr Fahrer nickte, aber er sagte nichts mehr. Der Rest der Fahrt verlief in Schweigen. Marit konnte vom Meer her die Wellen hören. Es war nur ein sehr leises Geräusch, da der Wind immer noch ziemlich schwach ging, doch es war eindeutig Meeresrauschen.
Das werde ich jetzt immer haben, ging es ihr durch den Kopf. Immer Wellen, immer Salz in der Luft, immer Wind, immer Möwenschreie, immer Boote am Horizont, Rippeln auf dem Wasser und im Sand, Wattwürmer, Tang, Stürme, Touristen im Sommer und Dorfbewohner im Winter.
Es war eine seltsame Vorstellung, schwer zu glauben. Das alles waren Dinge, die zum Sommer gehörten, zum Urlaub, nicht zum täglichen Leben. Und doch, natürlich gab es Menschen, die diesen Alltag lebten. Warum sollte sie es also nicht ebenfalls können?
Die Straße unter den Rädern des Volvos stieg auf einmal an. Marit wandte sich dem Weg vor sich zu und sah, dass sie abermals im Begriff waren, den Deich zu queren, dieses Mal auf einer Straße, die schräg hinaufführte statt mittendurch. Aber nein, sie überquerten ihn nicht, sondern folgten der Deichkrone ein kurzes Stück, bevor der Fahrer das Auto auf einem Parkplatz ausrollen ließ.
»Da sind wir.« Er stellte den Motor ab. Marit reckte den Hals, um durch das Autofenster nach oben sehen zu können. Eine rote Ziegelmauer ragte vor ihr auf. Irgendwie hatte sie damit gerechnet, dass der Turm rot-weiß sein würde. Sie glaubte, ihn so vom letzten Mal in Erinnerung zu haben, als sie in der Gegend gewesen war. Aber vielleicht ließ sie sich auch nur vom gängigen Klischee täuschen. Und hatte Herr Dieck nicht etwas von einer neuen Fassade gesagt?
»Danke.« Mit einem leisen Klicken öffnete sich die Beifahrertür und Marit stieg aus ihrem Sitz. Sofort schlug ihr wieder kühle Seeluft entgegen. Der Wind wehte hier, direkt an der See, schon stärker und das Wellenrauschen war lauter als zuvor.
»Sollte Sie jemand hier erwarten?« Der Fahrer war ebenfalls ausgestiegen und sah sich zweifelnd um.
»Der Schlüssel liegt unter der Türmatte.« Marit lächelte. »Furchtbares Klischee, ich weiß.«
»Und Ihr Auto?«
»Ich habe keins.«
Ein Blinzeln. Die Hände in den Parkataschen zuckten kurz. »Wie wollen Sie ins Dorf kommen, um einzukaufen?«
Marit deutete auf ein himmelblaues Fahrrad, das unter dem Dach des großzügigen Carports rechts vom Leuchtturm stand. »Bis Nordersiel sind es nur ein paar Kilometer. Und schwerere Sachen kann ich mir liefern lassen. Machen Sie sich keine Sorgen. Es ist alles durchdacht.«
Der Mann hob die Schultern. Marit glaubte zu wissen, was er dachte. Wahnsinnige sollte man einfach machen lassen. Immerhin bewegte ihn Marits Situation dazu, sich nützlich zu machen. Er öffnete den Kofferraum und holte ihr Gepäck heraus, auch wenn das keine besondere Anstrengung bedeutete. Dann begleitete er Marit bis zur Eingangstür und vergewisserte sich, dass sie tatsächlich einen Schlüssel unter der Fußmatte hervorzog.
»Na dann«, meinte er schließlich.
»Wie viel bekommen Sie?« Marit zog ihren Geldbeutel hervor.
»Zwanzig?« Es klang mehr wie eine Frage als eine feste Aussage. Marit gab ihm dreißig.
»Behalten Sie es! Vielen Dank.« Sie lächelte, doch insgeheim hoffte sie, dass er endlich in sein Auto steigen und davonfahren würde. Er war kein unangenehmer Typ, aber sie wollte jetzt allein sein. Allein mit der Stille und dem Meer.
Der Mann sah noch einmal von Marit zum Leuchtturm und zurück, dann hob er die Schultern und begann, in seinen Parkataschen zu wühlen. Schließlich förderte er eine etwas verknickte Visitenkarte zu Tage und hielt sie Marit hin. »Falls Sie was brauchen. Ich fahre nicht nur zum Bahnhof. Sie können mich bis spät am Abend erreichen.«
Marit nahm die Karte, mehr aus Höflichkeit als in dem Gefühl, sie wirklich zu brauchen. »Peer Thomas. Privater Taxidienst« stand darauf, darunter eine Handynummer. Die Karte war aus cremefarbenem, festem Papier und wirkte ziemlich edel, besonders wenn man sich im Vergleich dazu den Mann selbst ansah, doch Marit lächelte ihn dankbar an. »Dann werde ich mir jetzt mal meinen Turm ansehen«, sagte sie und dieses Mal verstand er den Hinweis. Er nickte ihr noch einmal zu, dann schlurfte er zu seinem Volvo zurück und ließ sich auf den Fahrersitz plumpsen. Marit wartete ab, bis das Auto gewendet hatte und den Deich hinuntergerollt war, bevor sie ein paar Schritte von der Eingangstür zurücktrat, sich wieder zu ihrem Turm umdrehte und ihn zum ersten Mal wirklich in Augenschein nahm.
Er war kleiner, als sie sich einen richtigen Leuchtturm vorgestellt hatte, etwas gedrungen, wie ein alter Mann, der stur auf dem Deich hockte und nicht daran dachte, sich von dort vertreiben zu lassen. Die Fassade rundherum bestand aus roten Ziegeln, wie bei den meisten Häusern hier in der Gegend, und die Fenster waren erstaunlich groß und modern. Vielleicht nachgerüstet. Das Dach streckte sich trotzig dem Wind und den Wolken entgegen und Marit konnte die Glasfenster direkt darunter mehr erahnen als wirklich sehen. Sie fragte sich, ob sie in die Beleuchtungskammer gehen konnte oder ob der Zutritt untersagt war. Sie hatte Herrn Dieck nicht gefragt, damals war es ihr nicht wichtig gewesen. Aber jetzt verspürte sie ein Kribbeln, das durch ihren ganzen Körper lief. Sie musste einfach dort hinauf.
Mit fest entschlossenem Schritt ging Marit auf die Eingangstür zu, steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn herum.
Die Tür schwang auf und für einen Moment hielt Marit den Atem an. Bis jetzt hatte sich noch alles angefühlt wie eine angenehme Urlaubsreise. Aber nun wurde ihr klar, dass die Tür des Leuchtturms auch die in ihr neues Leben war. Ein Schritt ins Ungewisse lag vor ihr.
Marit war sich plötzlich sicher, einen gewaltigen Fehler gemacht zu haben, als sie das Angebot angenommen hatte. Sie hätte im Hotel bleiben sollen. Janna hatte es ihr angeboten und immerhin hatte sie selbst es zu dem gemacht, was es heute war. Und auch wenn ihre Tochter jetzt alles veränderte — warum konnte Marit das nicht akzeptieren?
Es war ein Fehler und dieser würde sich jetzt offenbaren. Jannas Stimme klang noch allzu deutlich in ihren Ohren. »Mama, du wirst auf die Nase fallen. Und ich habe nicht die Zeit, dir zu helfen, wenn das passiert. Du weißt doch, wie es ist mit dem Hotel.« Ja, sie wusste, wie es mit dem Hotel war. Sie hatte selbst lang genug darin geschuftet, Tag für Tag, ohne sich richtige Pausen zu gönnen. Und Janna tat es ihr nun gleich.
Für einen langen Moment wagte Marit nicht einmal, in den Innenraum zu sehen. Sie musste das Bedürfnis unterdrücken, sich einfach wieder umzudrehen und fortzugehen, zurück in die Sicherheit ihres alten Lebens.
Ich kann das. Ich habe es mir verdient. Sie atmete tief durch. Ab jetzt geht es vorwärts.
Das bedrückende Gefühl legte sich ein wenig, als Marit den ersten Schritt über die Schwelle tat und sich umsah.
Der Raum war größer, als sie von außen vermutet hätte, rund und komplett mit hellem Holz getäfelt. Der Fußboden bestand aus hochwertigem Parkett. Eine Garderobe, ein kleiner Holztisch mit einer Schale aus poliertem Stein, dann weiter hinten ein massiver Esstisch mit vier Stühlen und eine offene Küche mit steinernen Arbeitsplatten. In der Mitte des Raumes führte eine alte Metallwendeltreppe nach oben und verschwand in der Decke. Es war modern hier, freundlich, und roch nach Holzpolitur. Dennoch war es kein Raum, der Marit auf Anhieb sympathisch war. Er war einfach zu exakt. Alle Möbel waren neu und passten zusammen, sodass das Zimmer aussah wie aus einem Möbelkatalog. Sogar die blaue Vase voller Osterglocken auf dem Tisch wirkte wie das übliche Ausstellungsstück zum Thema »Gemütliches Familienleben.«
Keine Familie, dachte Marit und machte sich auf den Weg in die Küche. Mit einem Blick in den Kühl- und den Lebensmittelschrank versicherte sie sich, dass sie tatsächlich alles da hatte, um die ersten Tage hier unbeschadet zu überstehen. Dann drehte sie sich sofort um und lief mit großen, erwartungsvollen Schritten die Wendeltreppe hinauf. Erst ein Wohnzimmer, großzügig, mit weißen Möbeln eingerichtet und genauso unpersönlich wie Küche und Esszimmer. Ein kleines Bad war durch eine Zwischenwand abgetrennt worden, beige Kacheln mit Meeresmotiven, Alltagskitsch.
Erst im nächsten Stock begann Marit, sich heimischer zu fühlen.
Ihn teilten sich zwei kleine Zimmer: ein Büro, seltsam heimelig durch ihren alten Schreibtisch und den bereits installierten Rechner, die Herr Dieck hatte herbringen lassen, auf der anderen Hälfte ein kleines Gästezimmer, sandfarben und blau eingerichtet, wieder der Ferienwohnungslook.
Weiter nach oben, und da endlich: das Schlafzimmer. Sie atmete auf, als sie den Raum betrat. Herr Dieck war zunächst ein wenig verblüfft über ihren Wunsch gewesen, ausgerechnet ihre ältesten Möbel mitzunehmen, aber dann hatte er gelacht. »Sie haben mich jahrelang so fühlen lassen, als wäre ich bei Ihnen zu Hause. Jetzt kann ich das Gleiche für Sie tun.« Und ohne einen weiteren Kommentar hatte er sich mit ihr zusammengesetzt und das Schlafzimmer geplant. Anschließend hatte er dafür gesorgt, dass ihre Möbel und privaten Gegenstände im Leuchtturm landeten, noch bevor sie selbst hier ankam.
So wenig es auch war, es hatte den gewünschten Effekt. Jetzt war sie zu Hause, und jetzt wusste sie auch, dass sie keinen Fehler gemacht hatte, jedenfalls keinen so großen, wie ihr Janna unterstellen wollte. Die Wände des Schlafzimmers waren schlicht weiß verputzt, der Boden bestand noch aus alten Holzbohlen, abgeschliffen und neu geölt, aber dennoch quietschten sie leicht unter Marits Schritten, als sie sich ihrem Bett näherte.
Es war ein Doppelbett, immer gewesen, obwohl sie es stets alleine genutzt hatte. Abgesehen von den Zeiten, als Janna noch ein kleines Mädchen gewesen und vor den Ängsten der Nacht unter Marits Bettdecke geflohen war. Altes, dunkelrotes Kirschholz, weich unter ihren Fingern, die gelbe Tagesdecke darüber, darauf die zottelhaarige Puppe namens Michel, die noch aus Marits Kindheit stammte. Der Holzfäller-Michel, so hatte sie ihn genannt, und nun ging sie zu ihm, nahm ihn hoch und drückte ihn an sich, eine kleine Sicherheit in der Fremde. Marit steckte ihre Nase in den schwarzen Schopf und atmete tief ein. Er roch ein wenig nach Staub und Lavendel, aber er fühlte sich immer noch so beruhigend knubbelig an wie früher.
Es war Zeit, den Rest des Zimmers zu begutachten. Langsam drehte Marit sich um ihre eigene Achse. Hier oben waren die Fenster schmal und das Licht deswegen schwächer als im restlichen Turm. Halbdämmerig, als wäre es bereits Abend. Zwei alte Kleiderschränke von zu Hause enthielten vermutlich den Großteil ihrer Garderobe. Auf dem Fußboden lag ein neuer, dunkelgrüner Teppich, der an Moos erinnerte. Perfekt auf die Rundung der Wand abgestimmte Bücherregale säumten eines der Fenster. Hier reihten sich Marits Lieblingsbücher, die wenigen, für die ihr Zeit geblieben war. Doch all das war nicht das Beste an dem Zimmer. Marit drehte sich weiter, bis ihr Blick zur Ruhe kam.
Ihre aus Reet geflochtenen Paravents teilten das Zimmer in zwei Halbkreise. Hinter dieser Wand befanden sich Marits Sessel, der kleine, scheußliche, knallrote Beistelltisch, den sie sich in ihrer Teenagerzeit angeschafft hatte, und eine winzige Anrichte mit einer zweiten Kaffeemaschine und einem Teekocher darauf. Marit wusste, dass sich in dem Fach darunter das angeschlagene rote Kaffeegeschirr finden würde, eine Packung Hochlandkaffee, ihre vier Lieblingstees, verschiedene Zuckersorten und ein Wochenvorrat an Walkers Shortbread Fingers.
Durch eines der schmalen Fenster fiel ein Lichtstrahl auf den abgewetzten graugrünen Stoff des Sessels, ein kleiner Willkommensgruß. Zwei schnelle Schritte, dann ließ sich Marit mit einem Seufzen auf das Polster fallen, drückte den Holzfäller-Michel fest an sich und wandte ihr Gesicht in die Sonne. Sie schloss die Augen und holte Luft. Einige tiefe Atemzüge lang fühlte sie sich wie eine Pflanze, die einfach nur die Wärme und das Licht genoss.
Zu Hause.
Irgendwann in der nächsten Zeit musste sie wohl aufstehen und sich etwas zu essen machen. Die tausend Kleinigkeiten organisieren, die mit ihrer Ankunft hier verbunden waren. Herrn Dieck anrufen und ihm für all seine Mühen danken, ohne dass er auf den Gedanken kam, dass sie in ihm mehr als einen guten Freund sah. Aber jetzt nicht. Jetzt nicht.