Читать книгу Denn die Nacht bringt das Meer. Nordsee-Thriller - Veronika Bicker - Страница 6
ОглавлениеKapitel Zwei – Geister der Vergangenheit
Ein kühler Luftzug hatte sich an den Paravents vorbeigestohlen und strich über Marits Wangen. Sie öffnete die Augen und bemerkte zu ihrer Verwunderung, wie dunkel es im Zimmer geworden war. War sie tatsächlich eingeschlafen?
Ich werde alt. Doch in dem Moment, in dem ihr dieser Gedanke durch den Kopf ging, merkte sie, dass er nicht mehr als ein Reflex war. Etwas, das sie in den letzten Jahren viel zu oft gedacht hatte. Aber jetzt schien er nicht mehr zu passen. Sie fühlte sich jünger als in den letzten fünfzehn Jahren zusammen. Sie konnte geradezu spüren, wie der Druck nachließ, ein Druck, der sie über die Hälfte ihres Lebens begleitet und sie in der Spur gehalten hatte, bis sie ihn gar nicht mehr bewusst wahrnahm. Langsam erhob sich Marit aus ihrem Sessel, streckte sich und drehte den Kopf in alle Richtungen. Zeit, etwas Vernünftiges zu tun. Abendessen zum Beispiel. Und eine Dusche nehmen. In dieser Reihenfolge? Die Tatsache, dass sie tatsächlich Zeit und Muße hatte, darüber nachzudenken, hob ihre Stimmung gleich noch ein wenig an.
Marit war gerade noch dabei, eine endgültige Entscheidung zu fällen, als ein schriller Ton sie aus ihren Gedanken riss. Sie brauchte einen Moment, um das Geräusch richtig einordnen zu können; es schien so gar nicht in diese Welt von Meer und Vergangenheit zu passen. Dann wurde es ihr klar: das Handy. Sie hatte ihren kleinen Lederrucksack vorhin beim Eingang abgelegt, und dort drin befand sich neben ihren Papieren und ihrem Portemonnaie auch das neue Smartphone, das ihr Janna zum Abschied aufgedrängt hatte. Marit hatte es nicht haben wollen und aus rein kindischem Trotz den grässlichsten Klingelton eingestellt, den sie auf dem Ding hatte finden können. Verärgert über sich selbst schüttelte sie den Kopf und eilte die Stufen hinunter.
Es wird in dem Moment zu klingeln aufhören, in dem ich es in die Hand nehme, ging es ihr durch den Kopf. Das ist doch immer so. Sie beeilte sich, nahm bei der letzten Treppe immer zwei Stufen auf einmal und erreichte den klingelnden Lederrucksack. Noch immer ließ das Handy nicht locker. Jemand wollte sie sehr dringend sprechen. Marit schob die Hand in die Tasche und zog gleich darauf das Handy heraus. Das Display leuchtete ihr in einem matten Blau entgegen. »Janna«, stand darauf.
Marit seufzte. Einen Augenblick lang sah sie das Handy nur an und hoffte beinahe, dass es nun endlich zu klingeln aufhörte, doch der schrille Ton wiederholte sich unbeirrt. Marit gab auf und drückte den Annahmeknopf.
»Hallo?«
»Du hast nicht angerufen.« Jannas Stimme, wie in weiter Ferne, der Vorwurf war unverkennbar in ihrem Tonfall zu hören. Marit wusste sogar, wie ihre Tochter in diesem Moment aussah, die dunklen Augenbrauen zusammengezogen und eine steile Falte dazwischen, die grauen Augen voller Sturm.
»Hallo Janna.« Marit zwang sich zu einem Lächeln, das Janna sowieso nicht sehen konnte. »Ich bin gut hier angekommen.«
»Wir hatten ausgemacht, dass du anrufst, sobald du dort bist. Ich warte schon seit Stunden auf deinen Anruf.«
Nein, wir haben überhaupt nichts ausgemacht. Du hast mir gesagt, ich soll anrufen. Ich wurde dabei nicht gefragt. So wie du mich in letzter Zeit nie nach meiner Meinung gefragt hast.
»Es tut mir Leid. Ich habe nicht daran gedacht. Nach der Reise war ich müde und habe mich ein wenig ausgeruht.« Marit brachte es irgendwie fertig, weiterhin das Lächeln auf ihrem Gesicht zu bewahren. Janna war nicht beschwichtigt, aber an ihren nächsten Worten konnte Marit zumindest hören, dass sie sich Mühe gab.
»Mama, ich mache mir doch nur Sorgen, wie es dir geht. Du bist ganz alleine dort oben.«
Und ich bin erwachsen. Ich komme zurecht, Janna.
»Ich bin in Ordnung. Ich werde mir jetzt erst mal einen Kaffee machen und dann Abendessen. Alles ist so, wie ich es geplant habe. Du brauchst dir keine Gedanken zu machen. Mir passiert nichts. Was sollte auch schon passieren?«
Schweigen. Marit konnte förmlich hören, wie Janna überlegte. Dann folgte ein unsicheres Lachen. »Kaffee könnte ich jetzt auch gut brauchen.«
»Mit Karamellsirup?« Zum ersten Mal in diesem Gespräch fühlte sich Marits Lächeln echt an.
Janna lachte. Es klang schon viel ehrlicher als das zuvor. »Milch mit Karamellsirup«, sagte sie. »Ich erinnere mich. Die ganzen Ferien lang.«
Marits Blick wanderte zur Küchenzeile. Sie fragte sich, ob im Schrank Karamellsirup stehen würde. Sie meinte, den bitter-süßen Geruch von Karamellkaffee riechen zu können, und ihre Gedanken schweiften ab. Zurück zu den Tagen, an denen sie zum letzten Mal Karamellsirup in ihren Kaffee getan hatte. In den Kaffee und in eine Tasse mit warmer Milch.
»Danke, Mama.« Janna nimmt den Becher mit der schwarzweißen Kuh darauf in beide Hände und hebt ihn vorsichtig an ihre Lippen. Langsam bläst sie über die Oberfläche der heißen Milch. Immer so sorgsam, ihre kleine Tochter. Marit selbst gibt einen Teelöffel Karamellsirup in ihren Kaffee, lehnt sich zurück und nimmt einen vorsichtigen Schluck der seltsamen Mischung. Es schmeckt nicht schlecht, entscheidet sie.
»Mama?«
»Was gibt’s?«
»Tomme hat gesagt, früher gab es so etwas wie Karamellsirup nicht. Nicht mal viel Schokolade. Das ist nur etwas für die Reichen, hat er gesagt, und er hat mich gefragt, ob wir sehr viel Geld haben.«
Marit blinzelt kurz. Das ist jetzt das zweite Mal, dass Janna von diesem Jungen erzählt. Tomme. Ein eigenwilliger Name, aber vielleicht ganz normal in dieser Gegend.
»Wer ist denn Tomme?«, will sie wissen, und nimmt noch einen weiteren Schluck Kaffee. Wirklich, das mit dem Sirup muss sie sich merken. Vielleicht sollte sie im Hotel auch mal Karamellkaffee anbieten. Vielleicht würde das den entscheidenden Kick liefern. Man könnte ja auch andere Sirups nehmen, Schokolade vielleicht, oder …
»Mama, du hörst mir gar nicht zu!«
Der Vorwurf in Jannas Stimme ist unüberhörbar. Marit schüttelt kurz den Kopf, um wieder in die Realität zurückzukehren.
»Tut mir Leid, Kleines. Also, was hast du gesagt?«
»Tomme ist mein neuer Freund.« Janna strahlt. »Er ist ganz ganz toll, Mama. Ich habe noch nie so einen Freund gehabt.«
Marit betrachtet ihre Tochter, das leuchtende Gesicht, die wilden, dunklen Haare, die der Wind in Strähnen an ihre Wangen geklebt hat, die blitzenden Augen, und ist froh, hergekommen zu sein, auch wenn das Hotel Aufmerksamkeit braucht und gerade jetzt dort Hauptsaison ist. Ein Freund. Janna hat keine Freunde, zumindest keine engen. Klassenkameraden, aber keine Freunde.
»Wohnt er hier in einer der Ferienwohnungen?«
Marit könnte mit den Eltern des Jungen sprechen. Vielleicht wollen die Kinder ja zusammen einen Ausflug machen. Seehundbänke ansehen oder in den Zoo gehen. Das würde Janna sicher gefallen.
Janna schüttelt den Kopf und sieht jetzt ein wenig nachdenklich aus. Sie trinkt einen Schluck Karamellmilch und kaut auf ihrer Unterlippe herum.
»Ich weiß gar nicht, wo er wohnt. Ich glaube, irgendwo am Strand.«
»Auf dem Campingplatz vielleicht?«
»Nein, das nicht. Ich … ich weiß wirklich nicht.« Plötzlich ist da etwas wie Ärger in Jannas Stimme. »Ist das denn so wichtig?«
»Nein, nein natürlich nicht«, bemüht sich Marit rasch einzulenken. »Darf ich ihn denn mal kennenlernen? Ich glaube, das würde mir Spaß machen.«
Janna legt den Kopf schief und starrt einen Moment lang gedankenversunken aus dem Fenster, dann leert sie den Rest ihrer Karamellmilch in einem Zug und steht auf. »Er sagt, er glaubt nicht, dass dir das gefallen würde. Erwachsene sind immer ein bisschen komisch, findet er, und außerdem kannst du ihn sowieso nicht sehen oder hören.«
Marit wird ein bisschen kälter. Der plötzliche, eisige Wind draußen vor der Tür ist noch nichts gegen den Sturm der Angst, der genauso unvermittelt in ihr zu toben beginnt. Ein imaginärer Freund. Irgendwann musste das ja kommen. Aber jetzt erst? Janna ist acht Jahre alt, sie sollte aus dem Alter doch raus sein. Was sagt das über ihre Gesundheit aus? Leidet sie unter Halluzinationen?
»Ich gehe jetzt raus, mit Tomme spielen!«, verkündet Janna fröhlich. Sie scheint die Sorgen ihrer Mutter gar nicht recht wahrzunehmen, stößt den Stuhl zurück und springt auf. »Bis nachher!«, ruft sie und ist dann schon zur Tür hinaus. Marit kann das Heulen des Windes hören, von dem ihre Tochter draußen begrüßt wird. Vielleicht spielen ihre Ohren ihr einen Streich, aber sie glaubt, eine helle Stimme in dem Getöse heraushören zu können.
»Mama, bist du noch da?«
Marit schüttelte den Kopf. Wenn sie die Erinnerung nur genauso leicht abschütteln könnte. Unwillkürlich versuchte sie, in der Stimme ihrer erwachsenen Tochter irgendwie das kleine Mädchen wiederzufinden, das Karamellmilch mochte und sich einen Freund erfinden musste, weil sie keinen hatte. Es klappte nicht richtig. Sie hatte das Gefühl, dass dieses Mädchen schon lange verschwunden war.
»Tut mir Leid, ich war in Gedanken.«
»Ist wirklich alles gut bei dir?« Die Sorge, die jetzt aus Jannas Stimme klang, rührte Marit. Ihre eigene wurde sanfter, optimistischer, als sie weitersprach.
»Alles ist in Ordnung, Janna. Der Turm ist schön. Ich wohne jetzt ganz in der Nähe der Ferienwohnung von damals.«
Janna schwieg. Marit wusste nicht, ob Missbilligung in diesem Schweigen lag oder ob sich Janna ebenfalls gern erinnerte. Egal. Sie sprach einfach weiter. »Weißt du noch? Wir sind jeden Tag zu dieser kleinen Eisdiele gewandert. Ich wollte morgen nachsehen, ob es sie immer noch gibt.«
Wieder ein leises Lachen. Marit war erleichtert, es zu hören. »Ich glaube, ich habe noch nie so viel Eis gegessen wie in diesem Urlaub. Ein Wunder, dass wir nicht zehn Kilo zugenommen haben.« Janna machte eine kurze Pause. »Wenn die Eisdiele noch steht, iss eine Kugel Maya-Spezial für mich, ja?«
»Mache ich.«
Sie schwiegen. Keine wusste, wie es jetzt weitergehen sollte. Marit hätte gerne aufgelegt, einfach, weil sie Angst hatte, etwas Falsches zu sagen, etwas, das diesen zarten Waffenstillstand durchbrechen konnte. Aber natürlich konnte sie es nicht lassen.
»Ich will auch zu den Halligen hinausfahren. Die Stelle sehen, wo du damals …«
»Lass das, Mama! Das letzte, was ich jetzt brauche, ist ein Schuld-Trip. Außerdem: Es ist gar nichts passiert.«
»Du bist fast ertrunken.«
»Quatsch.«
»Du hast gesagt …«
»Ich weiß, was ich gesagt habe. Ich war ein kleines Mädchen. Vergiss es Mama, ehrlich!«
Marit konnte den Zorn in der Stimme ihrer Tochter hören. Am liebsten hätte sie sich selbst geohrfeigt. Warum musste sie davon anfangen? Ärgerlich ballte sie ihre freie Hand zu einer Faust und suchte nach einem unverfänglichen Thema, um das Gespräch noch zu einem guten Ende zu bringen. Arbeit. Im Zweifelsfall bleibt immer die Arbeit.
»Janna, ist alles okay im Hotel?«
»Alles okay. Viel zu tun.« Sie bemühte sich, wieder freundlich zu klingen, doch Marit konnte hören, dass Janna das Gespräch beenden wollte. Ein gehetzter Tonfall hatte sich in ihre Stimme eingeschlichen. Ein Tonfall, den Marit nur allzu gut von sich selbst kannte. Sie wusste, wie sie in den Jahren geklungen hatte, in denen das Hotel in ihrer Verantwortung lag.
»Dann störe ich dich nicht länger.« Als wäre sie es gewesen, die angerufen hatte. »Ich melde mich.«
»Ja. Dann … tschüss, Mama.« Janna legte auf, bevor Marit ihre eigene Verabschiedung zu Ende gesprochen hatte. Einen Augenblick lang blieb sie mit dem Handy in der Hand stehen und sah nur das dunkle Display an. »Es tut mir Leid«, flüsterte sie dem kleinen Bildschirm zu, aber sie war sich nicht einmal sicher, was sie genau damit meinte. Und wen.
Mit dem Smartphone in der Hand wanderte Marit zum Küchentisch hinüber und ließ es wenig sanft auf die Tischplatte fallen. Dann warf sie die Kaffeemaschine an. Vielleicht war es wirklich das Beste, wenn sie erst einmal versuchte, wieder richtig wach zu werden. Dann konnte sie immer noch Zeit darauf verwenden, über die Vergangenheit nachzudenken.
Während die Maschine anfing zu gluckern und zu fauchen, öffnete Marit die Kühlschranktür und machte sich auf die Suche nach einem leichten Abendessen. Ein bisschen Tomatensalat, Brot und Frischkäse, entschied sie, zu etwas Exotischerem hatte sie heute keine Energie mehr.
Während sie die Tomaten schnitt, schweiften ihre Gedanken wieder ab. Der Urlaub. Es war eine schöne Zeit gewesen, eine entspannte Zeit für Janna und sie, die sie beide dringend gebraucht hatten. Aber dennoch wurde die Erinnerung überschattet. Es war in dieser Zeit gewesen, als Marit zwischenzeitlich am Geisteszustand ihrer Tochter gezweifelt hatte. Tomme. Immer war es dieser Tomme, der zwischen uns gekommen ist. Ich hatte endlich einmal Zeit, und da musste sie sich jemanden erfinden, der uns die gemeinsame Zeit gestohlen hat.
Draußen war Wind aufgekommen. Er hämmerte in kurzen Böen gegen die Fensterläden und Marit glaubte, die Wände zittern zu sehen. Natürlich war das Einbildung, aber sie war dennoch froh, dass sie sich hier drinnen in Sicherheit befand. Abwesend schabte sie einen Haufen kleingeschnittener Tomaten vom Brettchen in eine Schüssel und machte sich daran, Essig und Öl zu suchen. Von der Kaffeemaschine her zog ein verführerischer Geruch durch den Raum. Alles war so warm und freundlich, wie es nur sein konnte. Trotzdem fröstelte Marit.
Der Wind heulte und Marit fühlte sich an den Tag vor 14 Jahren erinnert, an dem sich vor den Fenstern der Ferienwohnung ein Sturm angebahnt hatte. Sie legte eine Hand auf das kühle Glas des Küchenfensters und spähte nach draußen, doch inzwischen war es dunkel geworden und Regen prasselte gegen das Fenster. Sie konnte nur schemenhaft die schwarze Deichkrone ausmachen, der Himmel dahinter war nur wenig heller.
Hatte sie auch so dagestanden an dem Tag, an dem Janna nicht nach Hause gekommen war? Marit konnte sich nicht erinnern. Nur an diese Unruhe, die sich im Laufe des Nachmittags immer weiter in ihr ausgebreitet und zu einem kalten Klumpen zusammen gezogen hatte, als sich die dunklen Wolken am Horizont abgezeichnet hatten. Marit dachte daran, wie ihre Hand immer wieder wie von selbst zum Telefon gewandert war, ohne dass sie sie aufhalten konnte.
Marits Hand schwebt erneut über dem Hörer. Janna ist beim Kinderprogramm im Strandzentrum, es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Warum tut sie es also? Eigentlich hatte sie diesen freien Tag doch genießen wollen, hatte sich gefreut, als Janna von sich aus auf die Idee mit dem Kinderprogramm gekommen war. Marit hatte einen entspannten Nachmittag geplant, mit ihrem neuen Thriller in der Ecke des Sofas oder vielleicht sogar mit ihren viel zu lange vernachlässigten Stricknadeln. Stattdessen ist sie jetzt so nervös, dass sie nicht in der Lage ist, mehr als ein paar Zeilen zu lesen, ohne dass ihr Herz zu rasen beginnt und sie den Faden verliert.
Endlich hat sie es aufgegeben und wandert nur noch ziellos durch die Wohnung. Sie bleibt am Fenster stehen und legt die Hand an das kühle Glas. Über dem Meer ballen sich bedrohlich die Wolken zusammen und Marit kann spüren, wie die Fensterscheibe unter den Windböen leicht zittert. Der Strand ist bestimmt wie leergefegt.
Marit verfolgt eine segelnde Möwe mit ihrem Blick und versucht, sich zu beruhigen. Es ist nicht weit von der Ferienwohnung bis zum Strandzentrum. Wenn das Programm um vier Uhr zu Ende ist, wird Janna bald wieder hier sein. Ganz sicher wird sie bei diesem Wetter doch nicht draußen bleiben, oder? Was, wenn ihr dieser unsägliche Junge, dieser nicht vorhandene Tomme wieder irgendwelche Flausen in den Kopf gesetzt hat?
Marit wirft einen Blick auf die Uhr über der Tür. Fünf nach Vier. Sie spürt, wie sich ihre Hände zu Fäusten ballen und muss sich anstrengen, sie wieder zu öffnen.
Um nicht vollkommen verrückt zu werden, beginnt sie, den Kaffeetisch zu decken. Bestimmt wird Janna halb verhungert sein, wenn sie nach Hause kommt. Marit stellt Milch auf den Herd und nimmt eine Packung Kekse aus dem Schrank. Während sie die Kekse auf einen Teller schüttet, bemerkt sie, dass ihre Hände zittern. Sie schilt sich in Gedanken selbst. Es gibt keinen Grund, nervös zu sein, wirklich.
Marit rettet die überkochende Milch vom Herd, rührt Kakaopulver hinein und lauscht mit einem Ohr auf die Türklingel.
Nichts.
Sie findet sich beim Telefon wieder, weiß nicht genau, wie sie hierhergekommen ist, doch ihr Herz jagt wie nach einem Hundertmeterlauf. Dieses Mal nimmt sie den Hörer in die Hand. Wieder wirft sie einen Blick auf die Uhr. Viertel nach Vier. So schnell? Aber jetzt ist es sicher nicht mehr zu früh, um anzurufen, oder? Wird man sie für übervorsichtig halten? Aber Janna ist erst acht. Ist es da nicht richtig, vorsichtig zu sein?
Sie wählt die Nummer des Strandzentrums, die auf dem Flyer neben dem Telefon steht, und wartet. Wartet. Wartet. Es scheint eine Ewigkeit zu vergehen, bis das monotone Tuten durch eine menschliche Stimme unterbrochen wird.
»Strandzentrum?«
»Ja, hallo …« Sie weiß einen Moment lang nicht, wie sie weitersprechen soll. Vor dem Fenster flackert es hell auf. Ein Blitz.»Mein Name ist Marit Rueckert. Meine Tochter Janna war heute bei Ihnen im Kinderprogramm und ist bis jetzt noch nicht nach Hause gekommen …« Sie lässt das Ende des Satzes in der Luft hängen, hofft darauf, dass die Frau am anderen Ende sie auch so versteht.
»Janna, sagen Sie?« Marit hört Papier rascheln, dann ein paar schnelle Schritte, im Hintergrund werden Worte gewechselt. Draußen rollt jetzt der Donner. Marit hat vergessen zu zählen. Wie viele Sekunden waren das jetzt zwischen Blitz und Donner? Ist das Gewitter bald genau über ihnen?
»Frau Rueckert?« Die Frauenstimme ist zurück am Telefon. »Es tut mir Leid, aber eine Janna war heute nicht in unserem Kinderprogramm. Sind Sie sicher …«
Marit versteht nicht mehr, was danach kommt. Sie starrt aus dem Fenster auf die dunklen Wolken, die jetzt zum Greifen nahe scheinen.
Janna.
Marit lässt den Hörer fallen, wirft sich den Regenmantel über ihre Schultern und reißt die Tür auf.
Marit schüttelte den Kopf. Schnee von gestern. Es hatte wenig Sinn, sich über etwas Gedanken zu machen, das schon so lange vorbei war. Nicht mehr zu ändern. Und es war im Endeffekt nichts passiert, oder? Nichts außer einem gehörigen Schrecken, den sie alle abbekommen hatten. Die Erleichterung, die Marit verspürt hatte, als sie neben Janna im Schiff der Seerettung kauerte, eine Decke um die Schultern, eine Tasse Tee in der Hand, hatte sie vollkommen vom Schimpfen abgehalten. Das und die großen, ängstlichen Augen ihrer Tochter.
Das war der einzige Zeitpunkt gewesen, an dem Marit die Frage gestellt hatte. Die Frage nach dem Warum. Was hatte Janna dazu gebracht, bei solchem Wetter aufs Meer hinauszufahren?
Janna hatte sich an ihrer eigenen Tasse festgehalten, Kakao, aber dieses Mal ohne Karamellsirup, hatte aus dem Fenster auf das tobende Meer gestarrt und mit den kalten Lippen einen Namen geformt. Tomme.
Danach hatte sie nie mehr von diesem seltsamen fremden Jungen gesprochen und Marit hatte nicht weiter nach ihm gefragt. Das kleine Gör hatte beinahe ihre Tochter umgebracht und, real oder nicht, sie wollte ihn nicht im Haus haben. Wahrscheinlich hatte Janna das gespürt und deshalb beschlossen, ihren Gefährten aufzugeben. Vielleicht hatte sie aber auch mit ihren acht Jahren schließlich verstanden, dass es Spiele gab, die zu weit gingen.
Lass es ruhen!, wies Marit sich selbst an, trug Kaffee und Abendessen zu ihrem Küchentisch und machte sich ans Essen. Über ihr im Turm knarrte etwas. Eine Tür vielleicht. Marit hielt inne, sah kurz von ihrem Abendessen hoch und aß dann weiter.
Als sie gerade ihr Geschirr in die Spülmaschine räumen wollte, klingelte ihr Handy abermals. Marit verdrehte die Augen. Janna wieder, die einfach nicht verstehen wollte, dass Marit gut alleine zurecht kam. Wir sind uns zu ähnlich, dachte sie. Wir denken immer, ohne uns bricht alles zusammen.
Sie wischte ihre Hände an den Hosenbeinen ab und griff nach dem Handy. Doch die Nummer, die das Display zeigte, war ihr unbekannt. Sie drückte auf Annehmen und hob das Telefon zum Ohr.
»Hallo?«
Rauschen, dann Stille. Ein leises, knisterndes Geräusch.
»Ich kann Sie nicht verstehen. Der Empfang ist schlecht, haben Sie etwas gesagt?«
Wieder Rauschen. Es erinnerte Marit an das Meer bei starkem Wind. Dazu undeutlich eine leise Stimme, die etwas ins Telefon murmelte. Marit konnte die Worte nicht verstehen, doch etwas an ihnen sorgte dafür, dass sich die Härchen auf ihren Armen hochstellten.
»Bitte sprechen Sie deutlicher!« Sie bemerkte, wie ihre Hände schon wieder zu zittern begannen.
»… Sie hier?« Eine Männerstimme. Verwaschen wie etwas, das aus einer anderen Zeit kam.
»Ich kann Sie nicht verstehen.« Ihre eigene Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern. Im Grunde wollte sie den Mann am anderen Ende gar nicht mehr verstehen. Am liebsten hätte sie das Gespräch beendet, aber ihre Finger wollten die Bewegung nicht ausführen.
»… nicht sein. Nicht gut …« Das Rauschen nahm wieder überhand. Es klang tatsächlich wie Wellen, die ans Ufer schlugen.
Vor dem Fenster schrie eine Möwe. Erschrocken ließ Marit das Handy fallen, es polterte ins Spülbecken. Mattes, bläuliches Leuchten ging vom Display aus und verwandelte den polierten Stahl in eine Unterwasserlandschaft. Marit meinte immer noch das Rauschen zu hören. Dann wurde das Display auf einmal dunkel.
Es dauerte eine Weile, bis Marits Körper ihr wieder gehorchen wollte. Mit steifen Fingern fischte sie das Handy aus dem Spülbecken, dankbar, dass sich kein Wasser darin befunden hatte. Ohne darüber nachzudenken, was sie tat, schaltete sie es aus und legte es auf den Küchentisch.
Es fiel ihr schwer, den Blick von dem kleinen Gerät zu lösen. Es war einfach nur falsch verbunden, sagte sie sich. Falsch verbunden und ein schlechter Empfang, das ist alles.
Das schlechte Wetter, ihre Erschöpfung und obendrauf noch die finsteren Erinnerungen hatten sie zermürbt. Kein Wunder, dass sie nervös wurde. Allein in einer neuen Umgebung. Morgen würde sicher alles ganz anders aussehen.
Es war Zeit, ins Bett zu gehen.
Marit löschte das Licht und stieg die Treppen hinauf. Sie konnte die Wellen hören, wie sie draußen an die Buhnen klatschten. Es hörte sich an, als befände sich das Meer direkt vor ihrer Haustür. Marit musste lächeln und zum ersten Mal seit dem Telefongespräch mit Janna fühlte sie sich wieder etwas entspannt.
Es wird eine gute Zeit werden, dachte sie bei sich. Es musste einfach so sein.
Oben schlüpfte sie in ihren Pyjama und dachte kurz darüber nach, sich noch ein wenig in ihren Lieblingssessel zu kuscheln. Nur dort sitzen, Kaffee trinken und dem Meer vor ihrem Fenster lauschen. Doch dann schüttelte sie den Kopf. Für heute hatte sie genug vor sich hin gegrübelt. Wenn sie jetzt weitermachte, würden nur die Erinnerungen wiederkommen.
Als sie in ihr Bett kletterte, waren die Laken kühl und ein wenig klamm. Aber vielleicht kam ihr das auch nur so vor. Marit schloss die Augen und schlief sofort ein.