Читать книгу Denn die Nacht bringt das Meer. Nordsee-Thriller - Veronika Bicker - Страница 7
ОглавлениеKapitel Drei – In der Nacht
Wach.
Marit hatte keine Ahnung, wie spät es war, aber sie konnte noch nicht besonders lange geschlafen haben. Kein Licht fiel durch die Fenster herein und die Luft roch nach Schlaf und Dunkelheit. Ihr Körper fühlte sich steif an, trotz der warmen Bettdecke fröstelte sie ein wenig. War es das, was sie geweckt hatte, die Kälte? Nun, sie konnte sich eine weitere Decke aus dem Kleiderschrank holen. Marit schaltete die Nachttischlampe ein, schlug ihre Bettdecke zurück und fröstelte noch mehr in der kühlen Luft. Sie zögerte, ihre bloßen Füße auf die kalten Bohlen zu setzen, doch es war ihr ja nicht geholfen, wenn sie hier frierend im Bett sitzen blieb. Also wappnete sie sich gegen den Schock und stand auf.
Der Fußboden war eisig, viel kälter, als er hätte sein dürfen. Schließlich handelte es sich um Holz und laut des Besitzers war alles frisch gedämmt worden. Außerdem lief die Heizung. Zumindest hoffte Marit das, sie hatte sie vorhin eigenhändig angestellt. Mit zusammengebissenen Zähnen lief sie über die Bohlen zum Kleiderschrank, öffnete ihn und zog ihre alte Fleecedecke heraus, die ihr schon in so mancher kalten Nacht gute Dienste geleistet hatte. Gerade wollte sie sich umdrehen und zum Bett zurückgehen, als sie etwas hörte.
Marit blieb stocksteif stehen, als hätte die Kälte sie eingefroren, und lauschte. Nichts. Oder? Dann wiederholte sich das Geräusch, ein leichtes Knarren, wie von jemandem, der leise über einen Holzfußboden lief. Es kam nicht aus dem Schlafzimmer, sondern von weiter unten, vielleicht aus dem Büro oder sogar der Küche.
Unsinn. Das bildest du dir ein. Erstens gibt es unten gar keine alten Bohlen, die knarren könnten, zweitens kann niemand ins Haus kommen. Du hast die Tür abgeschlossen.
Leider halfen solche Gedanken nicht. Zu oft hatte sie von Einbrüchen gehört, die in scheinbar sicheren Wohnungen vorgefallen waren. Marit biss die Zähne zusammen, hielt still und lauschte. Gleichzeitig fragte sie sich, wo sie ihr Handy hingelegt hatte. Wenn sie nun die Polizei rufen musste? Siedend heiß fiel ihr ein, dass sie es nach dem Ausschalten auf dem Esstisch deponiert hatte. Woher hätte sie denn auch wissen sollen, dass sie es brauchen könnte?
Das Knarren wiederholte sich nicht, aber vielleicht ging es auch in dem Geräusch des Windes unter, der jetzt lauter um den Turm brauste. Trotzdem wagte Marit nicht, sich zu rühren. Waren das Stimmen, die sie hörte, oder spielte ihr der Wind einen Streich?
Nein, keine Stimmen, beschloss sie. Das war albern. Sie war viel zu alt, um sich vor Geräuschen in der Nacht zu fürchten. Vermutlich hatte sie nur etwas schwache Nerven, weil es seit langer Zeit die erste Nacht war, die sie allein in einem Haus verbrachte. Wahrscheinlich war es am besten, wenn sie ihr Handy heraufholte und es wieder anschaltete. Natürlich würde sie es nicht brauchen, aber sie wusste, dass sie sich dann sicherer fühlen würde.
Marit holte tief Luft, warf die Fleecedecke auf ihr Bett und eilte entschlossen zur Treppe. Die Stufen waren aus Metall und womöglich noch kälter unter ihren Füßen als der Holzfußboden. Sie ließ sich nicht abschrecken, eilte die drei Stockwerke hinunter und versuchte, nicht darüber nachzudenken, was sie dort unten vielleicht erwarten würde.
Tatsächlich war dort – gar nichts. Das Esszimmer lag still und dunkel da, nur der Umriss des Handys hob sich als leichte Erhebung vom Tisch ab. Erleichtert eilte Marit hinüber, schnappte das Telefon und drehte sich wieder zur Treppe um.
Etwas bewegte sich. Es war nur ein Huschen am Rande ihres Blickfeldes, doch es reichte, um Marits Herz auf einmal bis in den Hals schlagen zu lassen. Sie wirbelte herum, das Handy erhoben, als wäre es eine Art Waffe. Nichts. Natürlich nichts. Einer der Vorhänge vor den großen Fenstern wehte leicht im Luftzug.
Luftzug?
Marit hatte die Fenster geschlossen, da war sie sich ganz sicher. Sie blinzelte, sah genauer hin, aber es gab keinen Zweifel, der leichte, helle Stoff bewegte sich, bauschte sich leicht und spielte mit dem Wind.
Reg dich ab! Das Fenster schließt nicht richtig, das ist alles. Oder du hast es nicht gründlich genug zugemacht. Es gibt eine Erklärung.
Natürlich. War es nicht das, was sich alle Leute in allen Gruselerzählungen schon immer sagten? Und wann hatten sie jemals recht?
Und wann waren Gruselerzählungen jemals real?
Marit ging entschlossen zu dem Fenster hinüber, schob den Vorhang zur Seite und spähte einen Moment lang in die schwärzeste Nacht hinaus, die sie seit langer Zeit gesehen hatte. Man konnte nichts außer der schemenhaften Deichkrone sehen, tiefschwarz vor dem etwas helleren Schwarz des Himmels. Vermutlich jagten dort oben Wolken entlang, denn Sterne waren nicht zu sehen. Der Wind heulte hier lauter und das Fensterglas zitterte tatsächlich ein wenig unter Marits Fingern, als sie es berührte.
Sie hatte natürlich richtig vermutet, das Fenster war lediglich nicht ganz geschlossen gewesen. Sie hatte vor dem Abendessen nochmal durchgelüftet und offensichtlich den Griff ein wenig verstellt. Sie zog ihn ganz nach unten und sofort wurde auch das Heulen des Windes leiser. Der Vorhang, der sich hinter ihrem Rücken immer noch leicht bewegt hatte, gab Ruhe und Marit atmete erleichtert auf. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie angespannt sie gewesen war.
Jetzt, wo ihre Nervosität langsam verflog, bemerkte sie wieder die Kälte, die sich durch ihre Fußsohlen fraß und sich langsam in ihrem gesamten Körper ausbreitete. Wenn sie jetzt nicht schnell zurück ins Bett kroch, würde ihr heute Nacht nicht wieder warm werden. Marit drückte das Handy fest an sich und lief so rasch sie konnte die Stufen hinauf.
Das Schlafzimmer sah noch genauso aus, wie sie es verlassen hatte: die zerwühlten Decken auf dem Bett, die brennende Nachttischlampe. Es beruhigte sie, alles unverändert zu sehen, und sie beeilte sich, zurück ins Bett zu kommen. Vorsichtshalber schaltete sie das Handy ein und legte es auf ihrem Nachttisch ab. Doch als sie unter die Decken schlüpfen wollte, bemerkte sie, dass Michel nicht da war. Verwirrt sah sie sich um. Sie war sich sicher, mit der Puppe im Arm eingeschlafen zu sein, aber jetzt war sie nirgendwo zu sehen. Hatte sie sie versehentlich aus dem Bett geworfen, als sie die Decken zurückgeschlagen hatte?
Marit lehnte sich über die Kante und warf einen Blick unter das Bett. Nichts. Nicht einmal das normale Chaos, das sich sicher in den nächsten Wochen hier ansammeln würde. Marit setzte sich wieder auf und sah sich um. Der Nachttisch war abgesehen von der Lampe und dem Handy leer. Die Puppe lag nirgendwo auf dem Boden. Hatte sie sie mit zum Kleiderschrank genommen und dort eingeschlossen? Der Gedanke kam ihr seltsam unerträglich vor. Wieder schwang sie sich aus dem Bett, lief zum Schrank und riss ihn auf. Kleider, Bettwäsche, Decken, alles ordentlich gefaltet. Kein Michel.
Ratlos drehte Marit sich um. Wieder spürte sie Kälte durch ihren Körper strömen, doch dieses Mal kam sie nicht vom Fußboden. Was war mit ihrer Puppe geschehen? Was konnte denn überhaupt damit geschehen sein? Sie war doch hier gewesen. Wenn jemand hier hoch kommen wollte, hätte er an ihr vorbeigehen müssen. Es gab nur die eine Treppe und sie hatte niemanden gesehen oder gehört. Noch einmal drehte Marit sich um ihre eigene Achse. Nichts. Kein Michel. Ihr Herz begann abermals zu rasen.
Natürlich war es Quatsch anzunehmen, dass jemand hier hereingekommen war und ihre alte Puppe geklaut hatte. Warum hätte er das tun sollen, wo doch ihr Geldbeutel auf einem der Regalbretter lag, gut sichtbar für jeden, der die Treppe hinaufkam. Warum also eine Puppe?
Flüchtig fühlte Marit sich an die Zeit erinnert, in der Janna immer in ihr Schlafzimmer geschlichen war, um Michel zu sich zu entführen. Ihre Tochter hatte einen Narren an der Puppe gefressen und zwischendurch war ihr schwer klarzumachen gewesen, dass es sich hier um Mamas Puppe handelte, nicht um ihre. Marit hatte Michel dann unfehlbar an einem von Jannas Lieblingsorten wiedergefunden, gut versorgt mit »Kaffee« im Puppengeschirr und einem Lätzchen um den Hals.
Eine Idee schoss ihr durch den Kopf. Diese Idee war absolut verrückt und es konnte einfach nicht sein, aber Marit bemerkte, wie ihr Körper von ganz allein reagierte. Langsam ging sie auf ihre Paravents zu. Nichts geschah, natürlich, auch wenn ihr überdrehtes Gehirn ihr tanzende Schatten und zittrige Bewegungen vorgaukeln wollte. Es schien, als bräuchte Marit für die wenigen Schritte bis zu ihrem Rückzugsort Jahre.
Doch dann war sie da und spähte um den Sichtschirm herum. Das Licht der Nachttischlampe war hier nur noch schwach, aber es reichte, um die Szene zu beleuchten. Michel hockte auf Marits Sessel. Vor ihm auf dem Polster stand eine von Marits kleinen Espressotassen mit einem Löffel darin.
Nein, das kann nicht sein. Nein. Ich bilde mir das ein.
Wieder bewegte sich Marit automatisch, ging langsam auf den Sessel zu, nahm Michel hoch und drückte ihn an sich. Wie im Traum räumte sie die leere Tasse und den Löffel wieder zurück in das kleine Schränkchen und schloss die Tür. Sie ignorierte die Kälte, die durch ihre Adern flutete wie Eiswasser, sie versuchte nicht, eine Erklärung zu finden, sie versuchte, an gar nichts zu denken, sich keine Vorstellungen zu machen.
Sie musste einfach schlafen. Morgen würde alles wieder viel klarer sein. Morgen würde sich sicher eine Lösung präsentieren, irgendetwas ganz Logisches, über das sie dann lachen konnte.
Eigentlich hatte Marit mit diesem Gedanken wieder unter ihre Bettdecke zurückkriechen wollen, doch auf einmal fand sie sich in ihrem Sessel wieder, die Fleecedecke um die Schultern geschlungen, Michel auf dem Schoß. Sie rollte sich so eng wie möglich zusammen, versuchte, sich klein und unsichtbar zu machen, und schloss die Augen.
Aber sie schlief nicht. Stattdessen lauschte sie. Kein Knarren, nicht die leisesten Stimmen konnten ihr entgehen, so glaubte sie.
Doch der Leuchtturm lag still da, selbst der heulende Wind war verstummt. In der Ferne schlug eine Kirchturmuhr.