Читать книгу Denn die Nacht bringt das Meer. Nordsee-Thriller - Veronika Bicker - Страница 8

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Kapitel Vier – Urlaubserinnerungen

Marit blinzelte in das helle Sonnenlicht, das hinter ihren Wandschirm fiel. Durch den schmalen Ausschnitt des Fensters konnte sie ein Stück blauen Himmels sehen.

Ich bin doch wieder eingeschlafen. Einen Augenblick lang versuchte die Angst der vorigen Nacht, sich wieder über Marit herzumachen, aber sie drängte sie entschlossen in den Hintergrund. Sie war völlig übermüdet gewesen, als sie ins Bett gegangen war, und dann dieser Ausflug in die Küche, wahrscheinlich hatte ihre überdrehte Fantasie ihr schließlich einen Streich gespielt, als sie wieder ins Schlafzimmer gekommen war. Sie war sich jetzt gar nicht mehr sicher, ob sie Michel überhaupt mit ins Bett genommen hatte. Sie konnte sich nicht daran erinnern. Vielleicht hatte sie die Puppe — angeregt durch das Telefonat mit Janna — selbst dort hingesetzt.

Es war schon vorgekommen, dass Marit im Halbschlaf durchs Haus gewandert war und sich alle möglichen Dinge eingebildet hatte. Manchmal hatte sie auch Sachen durch die Gegend getragen, ohne es richtig zu bemerken. »Schlafwandeln« hatte ihre Mutter das genannt, auch wenn der Kinderarzt damals gesagt hatte, dass es etwas anderes war. Was genau hatte Marit nie erfahren und irgendwann hatten ihre nächtlichen Wanderungen einfach aufgehört. Erst als Janna unter ähnlichen Symptomen litt, war es ihr wieder eingefallen. Aber auch bei ihr hatte sich das ausgewachsen. Anscheinend war es aber nicht so endgültig verschwunden, wie Marit geglaubt hatte.

Nun, sei’s drum, sie hatte geschlafen, und jetzt, bei Tageslicht, gab es keinen Grund, sich vor dem Turm zu fürchten. Immerhin hatte kein böser Geist sie in der Nacht überfallen und auch sonst war nichts geschehen. Es wurde Zeit, sich in ihrem neuen Zuhause umzusehen. Sie wollte endlich richtig hier ankommen.

Nach einer ausgiebigen Dusche und einem Frühstück fühlte Marit sich gestärkt genug, nach Nordersiel zu radeln. Erst als sie schon an der Eingangstür stand, fiel ihr auf, dass sie den Holzfäller-Michel immer noch in der Hand hielt. Sie musste ihn unbewusst mit ins Bad und danach zum Frühstückstisch genommen haben. Marit lächelte und schüttelte über sich selbst den Kopf. Offensichtlich brachte die ganze Situation sie mehr aus der Fassung, als sie gedacht hatte. Sorgfältig setzte sie Michel auf den kleinen Beistelltisch neben der Tür, fuhr ihm noch einmal durch das dichte schwarze Haar und trat dann endlich hinaus ins Freie.

Meer.

Schon der erste Luftzug, der ihr entgegenwehte, schrie die Tatsache geradezu hinaus: Sie war am Meer. Über dem Vorplatz kreisten ein paar Möwen und im kurzen Gras auf der Deichkrone spazierten zwei Austernfischer, beinahe behäbig und offensichtlich überhaupt nicht dadurch gestört, dass da jetzt noch ein Mensch in der Gegend herumstand. Marit konnte nicht anders, sie musste ihnen einfach zuwinken. Die schwarzweißen Vögel beäugten sie ein wenig misstrauisch, machten aber weiterhin keinerlei Anstalten, sich zu verziehen.

Beschwingt ging Marit zum Carport hinüber und schloss ihr Fahrrad auf. Sie konnte sich nicht genau erinnern, wann sie das letzte Mal Fahrrad gefahren war. Im Schwarzwald war nie genug Zeit dafür gewesen und da waren auch diese verflixten Berge, immer hoch und runter, das war ihr schnell zu anstrengend geworden. Aber hier, am Meer, wo alles flach war, hatte sie sich der Herausforderung gestellt, kein Auto mitzunehmen. Mal sehen, wie lange sie das durchhalten konnte. Ihrer Figur und ihrer Fitness würde es jedenfalls nur gut tun.

Marit schwang sich in den Sattel, trat ein paar Mal probeweise rückwärts und radelte dann los. Den Deich hinunter ließ sie sich rollen, freute sich darüber, wie schnell sie wurde, und über den Wind, der ihr ins Gesicht blies. Unten angekommen, begann sie, in die Pedale zu treten.

Was für ein Leben!

Der Weg ins Dorf führte am Meer entlang und Marit kam es vor, als würde sie fliegen. Der Asphalt glitt unter ihren Rädern hinweg, der Wind wehte ihr die offenen Haare aus dem Gesicht und trieb ihr das Blut in die Wangen. Kreischende Vogelschwärme brachten sich in Sicherheit, wenn sie auf sie zugeschossen kam, und links von ihr klatschten die Wellen gegen die Buhnen. Es war klar und sonnig, so ganz anders als am Tag zuvor oder in der Nacht. Als hätte der nächtliche Sturm die ganze Welt sauber geblasen und jetzt war für nichts mehr Platz außer für Sonnenschein. An diesem Tag konnte man glauben, dass der Frühling schon da war, wie der Kalender es behauptete. Noch ein paar Wochen und die ersten Ostertouristen würden in den Ort einfallen. Bis dahin wollte Marit sich hier eingelebt haben.

Sie kam schnell voran, zumindest dafür, dass sie überhaupt nicht im Training war. Sie erreichte Nordersiel schon nach zwanzig Minuten und war nicht einmal besonders aus der Puste. Wahrscheinlich werde ich noch schneller sein, wenn ich erst einmal ein bisschen Übung habe. Entspannt ließ Marit sich die Hauptstraße entlang rollen. Es war Sonntag und das einzige Geschäft, das offen hatte, war eine kleine Bäckerei. Marit nahm sich vor, dort auf dem Rückweg eine Kleinigkeit zu kaufen, aber jetzt wollte sie sich erst einmal den Ort ansehen. Der Zweck ihres heutigen Ausfluges war nicht so sehr, wirklich etwas zu erledigen, sondern vielmehr, sich gründlich umzuschauen. Immerhin hatte sie vor, ihre nächsten Lebensjahre hier zu verbringen, da half es, sich ein wenig vertraut zu machen.

Eine Apotheke, eine kleine Post mit Schreibwarenladen, das obligatorische Meerwasserwellenbad, eine touristisch orientierte Fußgängerzone mit typischem Fischerhafen, Ärzte, ein Einkaufszentrum … der Ort war gut ausgestattet. Zwei kleine Hotels lagen in der Nähe des Hafens und Marit passierte unzählige Schilder, die auf freie Ferienwohnungen hinwiesen. Vorbei an der Eisdiele und dem Fischverkauf ging es weiter: Teeladen, Fahrradverleih, noch ein Andenkenlädchen, ein Naturschutzzentrum und – ein verwittertes Holzschild. Irgendetwas an diesem Schild schien eine kleine Glocke in ihrer Erinnerung anzuschlagen. Marit bremste, setzte die Füße auf den Boden und studierte das Schild. Das Holz war weich und dunkel und hätte sicher schon längst erneuert werden müssen. Die eingeritzten Buchstaben waren verwaschen und nur noch schlecht zu lesen, doch Marits Erinnerung half ihr beim Entschlüsseln. »Ferienwohnungen Booken«.

Sie musste lachen. Booken. Die Ferienwohnung, in der Janna und sie damals gewohnt hatten, war von der etwas schrulligen, aber herzlichen Frau Booken vermietet worden. Marit konnte sich noch an ihre vielen Gespräche mit der Frau erinnern. Frau Booken war niemand, der viel davon hielt, Abstand zu ihren Urlaubsgästen zu halten.

Einen Moment lang blieb Marit unter dem Schild stehen. Auf einmal war sie von dem starken Bedürfnis erfüllt, Frau Booken zu besuchen. Sicher erinnert sie sich gar nicht mehr an mich, ging es ihr durch den Kopf. Janna und ich waren doch nur ein paar von Tausenden Urlaubsgästen und das Ganze ist vierzehn Jahre her.

Dennoch wandte sie den Lenker ihres Fahrrads in die Richtung, in die das Holzschild wies, und begann, in die Pedale zu treten.

Die Wohnung lag ein ganzes Stück außerhalb, zwar in der Nähe der Uferpromenade, aber nicht so nahe am Ortszentrum, dass man sich von den Touristen eingeengt fühlte. Marit folgte einem Weg den Deich entlang, vorbei an alten krummen Bäumchen und unzähligen Schafen. Hier, direkt hinter dem Deich, war die Luft merkwürdig still und der Meergeruch kaum wahrnehmbar, nur die Schreie der Möwen und das leise Rauschen bewiesen, dass das Wasser noch in der Nähe war. Die Sonne schien warm auf Marits Gesicht, und sie kam beinahe ein wenig ins Schwitzen. Schließlich — nach einer gefühlten Ewigkeit — passierte sie einen Deichübergang, an dem ein weiterer Wegweiser auf das »Strandzentrum« hinwies. Marit erinnerte sich an das erste Mal, als sie es gesehen hatte, verwundert darüber, dass es ein »Strandzentrum« geben konnte, ohne einen richtigen Sandstrand. Janna war enttäuscht gewesen, hatte sie sich doch kilometerlange Sandflächen vorgestellt und stattdessen ein betoniertes Ufer mit ein paar wenigen Sandkisten vorgefunden. Aber das Zentrum hatte sie dann vollkommen dafür entschädigt. Es war eine eher kleine Einrichtung für diesen abgelegenen Teil des Strandes, aber im Sommer war dennoch viel los gewesen. Von hier aus starteten diverse Aktivitäten wie Wattwanderungen und Exkursionen ins Inland. Und natürlich gab es das Kinderprogramm für alle Kinder, deren Eltern sich mal ein wenig ausruhen wollten. Marit schauderte ein wenig, als sie daran zurückdachte.

Nur wenige Meter hinter dem Wegweiser stieß sie auf die kurze Einfahrt, die zu dem Häuschen hinter dem Deich führte, an das sie sich so gut erinnern konnte. Ein weiteres Holzschild – dieses hier deutlich neuer — verkündete »Ferienwohnung frei«.

Marit bog in die Einfahrt ab, rollte vorbei an einer kleinen Buchsbaumhecke und bremste gerade dort, wo sich die Hecke zum Garten hin öffnete. Ein Blick hinein sagte Marit, dass sich hier nicht viel geändert hatte. Der Rasen war zu dieser Jahreszeit vielleicht ein bisschen weniger grün als in jenem Sommer und der knorrige Apfelbaum war ein Stück gewachsen, aber nicht viel.

Ansonsten herrschte das wilde Pflanzenchaos, das ihr an diesem Häuschen damals schon so besonders gut gefallen hatte. Anscheinend hatte derjenige, der den Garten angelegt hatte, mit viel Liebe, aber nicht besonders viel gärtnerischem Verstand gearbeitet. Die Rasenfläche in der Mitte, auf der stolz der Apfelbaum aufragte, wurde umrahmt von allerlei Stauden, Büschen und kreuz und quer wachsenden Blumen, die damals in allen möglichen Farben geblüht hatten. Die Stauden waren dick und teilweise mit Unkraut durchsetzt, die Büsche sahen aus, als würden sie nur alle Jubeljahre mal beschnitten, das Ganze wirkte wie ein halbwilder Dschungel, der nur darauf wartete, sich auf den ordentlichen Rasen und das Häuschen dahinter zu stürzen.

Es war ein Ziegelbau, wie so viele hier an der Nordsee, mit tiefgezogenem Dach und kleinen weißen Fenstern. Vielleicht war es mal ein sehr kleiner Hof gewesen oder ein Tagelöhnerhaus, jedenfalls stand das Haus sicher schon lange hier, sehr viel länger als Touristen Urlaub machten. Hinter den Fensterchen reihte sich noch immer die ihr allzu bekannte Ansammlung von Nordseekitsch. Ausgesägte Holzmöwen, Plastikleuchttürme, verfilzte Wollschafe und Muscheln über Muscheln. Marit musste lächeln, als sie sich daran erinnerte, wie Janna einmal voller Ernst darauf hingewiesen hatte, dass die meisten dieser Muscheln an der Nordsee gar nicht vorkamen.

Es war ein seltsames Gefühl, den kurzen, gepflasterten Weg zum Eingang entlangzulaufen. Marit fühlte sich, als sei sie zwei Personen gleichzeitig, die junge Frau mit dem Kind an der Hand und … ja, was war sie jetzt eigentlich? Alt? So fühlte sie sich nicht. Oder nicht mehr.

Sie klingelte und lauschte auf das vertraute Geräusch der Glocke im Haus. Eine Zeit lang blieb alles ruhig und Marit glaubte schon, dass niemand zu Hause war, dann konnte sie schemenhaft eine Gestalt hinter der Glasscheibe der Tür ausmachen und gleich darauf wurde sie aufgezogen.

»Moin.« Die Stimme der Frau klang fragend, ein wenig verunsichert, als wüsste sie nicht genau, was sie von Marit halten sollte. Doch noch bevor Marit etwas sagen konnte, hellten sich die Züge der Frau merklich auf. »Sie kenn’ ich doch, Sie waren …« Sie ließ den Satz einen Augenblick lang in der Luft hängen und suchte ganz offensichtlich in ihrem Gedächtnis nach dem richtigen Namen. »Sie waren die mit dem kleinen Mädchen. Janna? Ich erinnere mich noch an Sie. Das ist aber schon lang her … fünfzehn Jahre?«

»Vierzehn«, murmelte Marit, auf einmal verlegen. Sie hatte plötzlich keine Ahnung mehr, warum sie hergekommen war.

Doch Frau Booken schien ihr Unbehagen nicht zu teilen. »Kommen Sie doch herein! Es ist schön, dass Sie mich besuchen kommen, wohnen Sie hier in der Umgebung? Machen Sie wieder Urlaub?«

Es hätte klingen können wie ein Vorwurf. Wenn Sie schon hier Urlaub machen, warum dann nicht in meiner Wohnung? Aber seltsamerweise tat es das nicht. Es klang wie ein ganz schlichtes Interesse von jemandem, den man lange nicht mehr gesehen hatte.

»Urlaub nicht gerade. Um ehrlich zu sein, ich überlege, in die Gegend zu ziehen. Ich bin hier, um festzustellen, ob das etwas für mich ist.« Sie lächelte. »Momentan wohne ich im Leuchtturm. Der Besitzer ist ein alter Bekannter von mir und er brauchte jemanden, der darauf ein wenig aufpasst.« Marit fühlte sich immer noch verlegen, doch Frau Booken hatte sich schon umgedreht und war in den dämmrigen kleinen Flur getreten.

»Kommen Sie mit in die Küche, ich mache Ihnen Tee. Oder Kaffee, Sie mochten lieber Kaffee, stimmt’s?« Die alte Frau warf einen Blick über ihre Schulter zurück und ihre Augen schienen zu lächeln. Marit bemerkte, dass auch Frau Booken sich nicht besonders verändert hatte. Natürlich, sie war älter geworden, aber das fiel nicht sehr auf. Sie war damals schon irgendwie zeitlos gewesen, mit ihrem braungebrannten Gesicht, den rissigen, rauen Händen und dem Haar, das entweder weiß oder sehr hellblond war und das ihr wie Pusteblumenflaum um den Kopf wehte. Altfrauenhaar, obwohl Frau Booken noch nicht gebrechlich wirkte. Sie war groß, ein wenig hager und hatte kräftige Armmuskeln. Marit konnte sich erinnern, dass sie einmal ein entlaufenes Schaf niedergerungen hatte.

Mit einem Mal war Marits Unwohlsein verschwunden und es kam ihr geradezu natürlich vor, sich an diesem Ort wiederzufinden. Sie folgte Frau Booken in den Flur und dann weiter in die Küche, die von einem massiven Holztisch dominiert wurde. Marits Wissen nach lebte die Frau alleine hier, doch an dem Tisch musste Platz für mindestens acht Personen sein. Eine Hälfte davon war vollgestapelt mit allem Möglichen: halb ausgeschnittene Serviettenmotive, Kleber, Holzbrettchen, ein Tischwebrahmen, ein Stapel Tonpapier, mehrere Farbtuben, Pinsel, ein halb ausgestopfter Teddybär, zwei buntbemalte Tontöpfe und ein Puppenkopf, der mit starren Augen an die Decke sah. Daneben lag ein Stapel Kreativbücher, eine bunte Mischung aus Ratgebern für alles, was man sich so als handwerklich-künstlerische Technik vorstellen konnte. Frau Booken lächelte, als sie Marits Blick bemerkte.

»Meine Winterhobbies«, meinte sie schlicht. »Bevor die ersten Gäste für dieses Jahr kommen, muss ich hier mal gründlich aufräumen. Aber vorher möchte ich mich noch am Peddigrohrflechten versuchen, auch wenn ich keine Ahnung habe, was ich dann mit all den Körben anstellen soll.«

»Verkaufen?«, schlug Marit vor und ließ sich wie selbstverständlich auf einen der Stühle fallen. Das sonderbare Gefühl, dass sie genau am richtigen Ort war, wollte sie immer noch nicht loslassen.

»Ach, niemand braucht heute noch Körbe.« Frau Booken werkelte an der Kaffeemaschine herum, zog dann einen Teller aus dem Schrank und füllte ihn mit Keksen. Marit erinnerte sich noch zu gut an die Kekse. Knusprige Waffelherzen und runde, zuckerbestreute Taler. Selbstverständlich selbstgebacken. Janna hatte damals nicht genug davon bekommen können.

Frau Booken stellte den Teller vor Marit ab und setzte sich selbst auf einen der übrigen Stühle. »Kaffee dauert noch einen Moment«, meinte sie und lächelte ihr herzliches Lächeln. »Also, was bringt Sie her?«

Marit nahm sich eines der Waffelherzen und begann, am Rand herumzuknabbern. Sie hoffte, damit die Zeit zu gewinnen, sich eine plausible Antwort auszudenken. Sie war sich ja selbst nicht sicher, warum sie ihr Weg hierhin geführt hatte. War es ein Versuch, die Vergangenheit zurückzuholen? Den Urlaub wieder aufleben zu lassen? Allmählich fragte sie sich, ob das nicht der eigentliche Grund gewesen war, aus dem sie Herrn Diecks Angebot so willig angenommen hatte. Irgendetwas in ihr hatte diese Woche vor vierzehn Jahren nie vergessen können.

Dann wurde ihr klar, dass Frau Booken vermutlich nur ihre Entscheidung meinte, ans Meer zu ziehen. Marit war fast ein wenig erleichtert.

»Ich … habe mich zur Ruhe gesetzt, könnte man sagen. Ich weiß nicht, ob ich es damals erzählt habe, aber ich habe das Hotel meiner Eltern übernommen. Seit ich zwanzig war, habe ich mein Leben da rein gesteckt. Jetzt …« Sie zögerte. Jetzt übernimmt Janna das Ruder und ich erkenne mein Lebenswerk nicht wieder? Nein. »Jetzt hat meine Tochter das Haus übernommen und ich habe endlich ein wenig Zeit für mich. Ich habe gemerkt, dass ich da weg musste. Vor einem halben Jahr hat mir eine entfernte Tante etwas Geld vererbt und ich dachte: Das ist jetzt die Gelegenheit.« Sie lächelte. »An das Meer hatte ich gute Erinnerungen. Und als ich heute Ihr Schild sah, wollte ich einfach sehen, ob sich hier etwas verändert hat.« Keine richtige Lüge. Höchstens ein wenig ausgelassen. Sie steckte das Waffelherz ganz in den Mund, um nicht weitersprechen zu müssen.

Die alte Frau nahm sich selbst eines der Herzen und biss hinein. Ihr Lächeln war breit und ehrlich. »Ich freu mich, dass Sie wieder her gefunden haben. Ich erinnere mich noch gut an Sie und ihr kleines Mädchen. Janna war so ein nettes Kind, und aufmerksam.« Ihr Lächeln wurde noch ein wenig breiter und sie zwinkerte Marit verschwörerisch zu. »Sie wissen doch bestimmt, wovon ich rede, oder?«

Marit schluckte. Kekskrümel kratzten in ihrem Hals und sie hatte Mühe, einen Hustenanfall zu unterdrücken. Sie konnte spüren, wie ihre Augen feucht wurden und wischte mit dem Handrücken die Tränen fort. Nicht, dass Frau Booken am Ende noch glaubte, sie würde sentimental, wenn es doch eigentlich nur ein trockener Hals war, der sie plagte.

»Ich … bin mir nicht sicher.«

Frau Booken war wieder aufgestanden und zog die Kaffeekanne aus der Maschine. Sorgsam goss sie Kaffee in zwei blauweiß gemusterte Becher. »Tomme«, sagte sie schlicht und Marit hätte sich beinahe an dem Zuckertaler verschluckt, den sie gerade in den Mund gesteckt hatte. Jetzt kam der Hustenanfall doch und für einige Momente hatte Marit das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.

Frau Booken wartete geduldig, bis Marits Husten abgeebbt war, und hielt ihr dann den Becher hin. »Trinken Sie einen Schluck, dann wird es besser«, meinte sie.

Marit trank so hastig, dass sie sich beinahe zusätzlich den Mund verbrüht hätte. Sie stellte den Becher heftig auf der Tischplatte ab, sodass ein wenig Kaffee herausschwappte und sich in einer kleinen Pfütze sammelte.

»Was wissen Sie über Tomme?«, brachte sie schließlich hervor. Sie war sich so sicher gewesen, dass Janna nur ihr von ihrem eingebildeten Freund erzählt hatte, aber offensichtlich hatte sie sich auch ihrer Vermieterin anvertraut. Warum?

Frau Booken lächelte immer noch. Es war ein weises, gütiges Lächeln, das geradewegs von einer Märchenoma aus einem Kinderbuch stammen könnte. Sie griff sich einen Stickrahmen aus dem Chaos von Kreativsachen und begann, mit geschickten Fingern eine winzige gelbe Blüte zu sticken.

»Ich habe mir schon gedacht, dass Sie deswegen hier sind«, sagte sie frei heraus. »Janna war ja damals Tomme sehr nah.«

Marit schüttelte den Kopf und nahm noch einen Schluck Kaffee. »Woher kennen Sie Tomme? Hat Janna von ihm erzählt?«

Frau Booken lachte. »Nicht direkt. Janna hat mir schon am ersten Tag erzählt, dass sie einen Jungen am Meer gesehen hat, der dann auf einmal verschwunden war, und ich meinte, das müsse wohl Tomme sein. Und ich habe gehört, wie sie Ihnen später von ihm erzählt hat.« Mit einem beinahe mikroskopisch kleinen Stich schloss sie die gelbe Blüte ab und machte sich an die nächste. »Janna war ein besonderes Kind, nicht wahr? Normalerweise können nur Einheimische Tomme sehen oder Menschen, die sehr lange in dieser Gegend leben.«

Die gemütliche Küche schien sich regelrecht vor Marits Augen zu drehen. Wilde Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf. Sie hatte immer geglaubt, Tomme sei eine Erfindung von Janna gewesen.

»Wer … ist denn Tomme?«, fragte sie vorsichtig. Ihre Hände krallten sich so fest um den Kaffeebecher, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.

Frau Booken zuckte mit den Schultern, wechselte das Stickgarn und begann, die gelben Blümchen mit geschwungenen, hellgrünen Ranken zu verbinden. »Ein Geist«, antwortete sie schlicht. »Ein Kindergeist. Man sagt, er sucht diese Gegend schon lange heim. Nicht alle können ihn sehen und noch weniger Leuten ist es gelungen, mit ihm zu sprechen, aber es kommt wohl vor. Tomme ist harmlos. Ein Kind, das bei einer Flut ums Leben gekommen ist oder so etwas Ähnliches. Genaues weiß ich auch nicht.« Sie lachte, ein wenig verlegen. »Um ehrlich zu sein, habe auch ich Tomme für eine Sage gehalten. Wissen Sie, als Janna das erste Mal von dem Jungen am Meer erzählt hat, habe ich Tomme nur zum Spaß erwähnt. Ich dachte, ich mache ihr ein bisschen Lust auf die lokale Geschichte, aber Janna meinte sofort: ›Ja, ja, das ist er, ich bin mir ganz sicher‹, und dann wollte sie mehr über ihn wissen, aber ich war selbst so unsicher. Ich hatte die Geschichte nicht mehr richtig im Kopf und habe Janna gesagt, sie muss sich in Nordersiel umhören. Später hat sie mir dann erzählt, dass sie sich mit Tomme unterhalten hat und dass er draußen vor den Halligen ertrunken ist, und es klang alles so … echt.« Winzige grüne Blättchen begannen, an der Ranke zu sprießen. »Ich glaube, an diesem Tag bin ich ein wenig abergläubisch geworden.«

Marit starrte auf die Hände der Frau, die in unglaublicher Geschwindigkeit den weißen Stoff zum Blühen brachten. Eine Sage. Sie hat Janna eine Sage erzählt und Janna hat sich den Rest dazu erfunden. Das ist alles. Sie hatte ja immer eine blühende Fantasie.

Frau Booken legte den Stickrahmen auf den Tisch und sah Marit mit einem fragenden Gesichtsausdruck an. »Ich habe Sie doch nicht beunruhigt, hoffe ich?«

Marit schüttelte den Kopf und versuchte sich an einem leichtfertigen Lachen. »Nein … nein, ich glaube nur nicht ganz an Geister, müssen Sie wissen.«

Die Frau zuckte abermals mit den Schultern. »Das ist natürlich jedem selbst überlassen«, meinte sie. »Ich weiß nur, dass Janna sich sehr für Tomme interessiert hat, und … inzwischen glaube ich, dass er sich auch sehr für sie interessiert hat.« Sie lächelte jetzt nicht mehr, sondern musterte Marit mit einem beinahe feierlichen Gesichtsausdruck. »Sie können ja gerne ins Dorf zurückfahren und sich ein bisschen umhören. Janna ist nicht die Einzige, die den Geist gesehen hat. Es gibt massenhaft Erzählungen über ihn. Anja, die das Hafencafé leitet, hat ihn mehrfach gesehen, zumindest sagt sie das. Sie hat angeblich sogar ein Foto von ihm, aber das habe ich nie gesehen. Sie zeigt es nur gegen eine Gebühr. Meistens sind es Touristen, die das bezahlen.« Sie lachte jetzt wieder. »Wir hier brauchen keinen Beweis, dass es den Jungen gibt. Zumindest nicht diejenigen, die an ihn glauben.«

»Und das tun Sie?« Marit merkte, wie sie ihre Ruhe zurückgewann. Sie leerte ihre Kaffeetasse und warf Frau Booken über deren Rand hinweg einen scharfen Blick zu. Wie ein Spiegelbild trank auch Frau Booken ihre Tasse leer. »Ich habe ja schon gesagt, vor Janna habe ich es auch für eine Sage gehalten. Aber danach … vor allem nachdem … nach diesem Sturm …« Ihre Stimme verlor sich und sie wirkte ein bisschen verlegen. »Jannas Geschichte hat mich dazu gebracht, mich mit Geistern zu beschäftigen«, sagte sie schließlich. »Ja. Ich glaube, dass es sie gibt. Auch wenn ich noch keinen gesehen habe.«

Marit erhob sich. »Vielen Dank für den Kaffee«, sagte sie und hoffte, dass ihre Stimme nicht allzu unfreundlich klang. Ein seltsamer Zorn begann, sich in ihr auszubreiten, und sie wollte ihn wirklich nicht an dieser harmlosen Frau auslassen.

Aber … was hatte sie sich dabei gedacht, Janna diese Flausen von einem Geist in den Kopf zu setzen? Wegen dieser Frau hätte Janna sterben können. Immerhin war es Tomme gewesen, wegen dem Janna aufs Meer hinausgefahren war. Wieder sah Marit Jannas blasse Lippen vor sich. Tomme. Ein unhörbares Wort, aber Marit hatte sie dennoch verstanden.

Nein.

Schluss, sie konnte nicht Frau Booken die Schuld für diesen Tag geben, nicht die Schuld für die übermäßige Fantasie eines achtjährigen Mädchens und nicht dafür, dass eine harmlose Sage eine solche Reaktion ausgelöst hatte.

Frau Booken jedoch schien etwas von dem Zorn, der in Marits Innerem brodelte, zu spüren. »Es tut mir Leid«, sagte sie leise. »Ich wollte Sie wirklich nicht aufregen. Am besten ist es, Sie vergessen das Ganze. Es ist ja auch nicht wichtig, ob Janna nun einen Geist gesehen hat oder nicht, nicht wahr? Immerhin ist die Sache gut ausgegangen und Janna ist ja auch nicht hier, nicht wahr?« Sie versuchte wieder ein Lächeln, doch es gelang ihr nicht ganz so offen und herzlich wie zuvor. »Was macht Janna denn eigentlich heute so?«, versuchte sie, das Gespräch wieder in geregelte Bahnen zu lenken.

»Sie ist zu Hause.« Der unbestimmte Zorn machte Marits Stimme harsch. »Sie hat das Hotel übernommen. Da hat sie keine Zeit für Urlaub.«

Es gab nie Zeit für Urlaub. Damals nicht und heute nicht. Bis auf dieses eine Mal. »Ich muss jetzt wieder los, ich wollte noch …« Sie ließ das Ende des Satzes in der Luft hängen, denn tatsächlich hatte sie keine Ahnung, wie sie ihn beenden sollte.

»Dann will ich Sie nicht länger aufhalten.« Frau Booken brachte Marit zur Tür, versicherte ihr noch einmal, wie sehr sie sich gefreut hatte, sie wiederzusehen, dann schloss sich die Tür mit einem Klick.

Marit schwang sich auf ihr Rad und trat so fest in die Pedale, dass es geradezu einen Satz nach vorne machte. Loser Kies spritzte unter den Reifen hinweg nach allen Richtungen und als Marit den Weg erreichte, der zum Dorf führte, fühlte sie sich schon erschöpft. Dennoch fuhr sie in geradezu halsbrecherischem Tempo weiter. Der Fahrtwind blies ihr die Haare aus dem Gesicht und sie konnte spüren, wie ihr der Schweiß in kleinen Tröpfchen auf die Stirn trat. Das Schild zum Strandzentrum flog an ihr vorbei, der Deich verschwamm vor ihren Augen zu einer grüngelben Mauer und Marit merkte zu ihrer Überraschung, dass ihre Augen voller Tränen standen. Heiß liefen sie ihre Wangen hinunter und verwehten irgendwo hinter ihr im Wind.

Warum weine ich?

Doch der Gedanke hatte keine Zeit, sich weiter zu stricken, denn ein durchdringendes Hupen und das Kreischen von Reifen auf dem Asphalt rissen Marit aus ihren Überlegungen. Ihr Herz machte einen entsetzten Hüpfer, als sie einen riesigen schwarzen Schatten von der Seite auf sich zurasen sah.

Denn die Nacht bringt das Meer. Nordsee-Thriller

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