Читать книгу Eiswolken - Victor Schmidt - Страница 7

Wie ein Engel

Оглавление

In meinem Leben ging es mir schon immer um Erkenntnis. Darum, zu verstehen, was sich hinter der Fassade des Greifbaren befindet. Ich wollte wissen, warum wir hier sind. Auch wenn es andere Ansichten gibt, so hatte ich schon immer das Gefühl, dass wir nicht aus Zufall existieren. Generell glaube ich nicht an Zufälle. Alles, was geschieht, geschieht aus einem ganz bestimmten Grund. Alles hat seine Ursachen und Folgen. Egal wie chaotisch unsere Welt erscheinen mag, im konstanten Dasein von genau diesem Chaos besteht schon wieder eine Regelmäßigkeit. Schon lange hatte ich darauf gewartet, dass sich hier eine endgültige Erkenntnis herauskristallisiert.

Ich hätte dennoch niemals geahnt, unter welchen Umständen sich mir diese Erkenntnis offenbaren würde. Und ich hätte mir in meinem verrücktesten Traum nicht ausmalen können, wie weit mich die Suche nach Antworten bringen würde.

Ich trat hinaus und schloss die Haustür hinter mir. Sie schloss sich sofort und erfüllte damit meine Erwartungen. Wenn mein Traum von letzter Nacht also irgendetwas mit der Realität zu tun hat, dann ist er wohl eher metaphorischer Natur, dachte ich mir, während ich in Richtung des Versorgungszentrums schlenderte.

Ich hatte das Glück, in einer Stadt aufzuwachsen, in der Geld keine Rolle spielt. Wozu seine Lebensmittel kaufen oder gar stehlen, wenn Essen und Trinken im Überfluss existieren? Die Idee, mir meine Grundrechte zu erkaufen, erschien mir schon immer absurd, allerdings gab es in anderen Städten nicht zwangsläufig die Freiheiten, die ich schon immer genießen konnte.

Ich füllte meine Tasche mit Obst für eine Woche und suchte ein paar Brote aus. Mein Blick huschte zu einem Spiegel an der Wand. Ich betrachtete mich, so wie nicht allzu selten, selbst. Und damit war ich meist nicht der einzige. Trotz meiner schlanken und mäßig großen Statur bin ich keineswegs unauffällig. Ich bin jemand, nach dem sich alle umdrehen, wenn er den Raum betritt. Endgültig erklären konnte ich mir noch nie, wieso manche Menschen ein nahezu magnetisches Charisma besitzen, während andere geradezu ein Talent darin haben, eins mit der Raumdekoration zu werden. Ich schmunzelte. Es gab nicht vieles auf dieser Welt, das mir die Courage nehmen konnte. Wozu sollte ich mich denn zurückhaltender als nötig geben, wenn nur klare Kommunikation die Zufriedenheit aller Menschen garantiert?

Auf einmal schreckte ich aus meinen Gedanken, als ich eine Stimme hörte. Es kann niemand behaupten, ich sei total aufmerksam oder würde jedes Detail auf die Goldwaage legen.

Selbst meine besten Freunde geben zu, dass ich der Umwelt keinesfalls mehr Beachtung schenke als nötig. Bei manchen Dingen lege ich jedoch eine Präzision und Perfektion zu Tage, wie sie mich selbst überrascht. Und die Stimme der Person, die ich gerade vernommen hatte, gehört zu den wenigen Details dieser Welt, denen ich immer Beachtung schenke. Weil die Stimme dem einzigen Mädchen auf der Welt gehört, das mein Herz höherschlagen lässt: Mila.

Sie war erst seit einigen Monaten in meiner Stadt und zog bereits viel Aufmerksamkeit auf sich. Wer ihr auch nur ein einziges Mal begegnet war, verstand, warum. Sie hatte die zarte und zerbrechliche Stimme eines Engels und eine Persönlichkeit wie ein Feuerwerk der Freude und Liebe. Vor diesem Mädchen schmilzt selbst mein Charisma dahin wie Eis in einem Flammenmeer.

Auf einmal bog Mila um die Ecke, sah mich und blieb stehen. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Wir musterten einander. Milas verwunderter Gesichtsausdruck wechselte zu einem Lächeln. „Hey, lange nicht gesehen“, begrüßte sie mich, freundlich wie immer.

Mila ist nicht einfach nur hübsch. Sie ist die Definition von Schönheit. Ich bin sonst kein Mensch, der schnell nervös wird, allerdings verdoppelt sich mein Puls, wenn ich auch nur an sie denke.

Dieses Mädchen bringt mich wirklich um den Verstand. Mila ist zierlich gebaut, etwa einen Kopf kleiner und etwas jünger als ich. Ihre blonden, leicht gewellten Haare reichen ihr fast bis zur Taille und strahlen im Tageslicht heller als Gold. Sie weiß sich grandios in Szene zu setzen - manchmal wirkt sie wie die Kaiserin der Eiswolken höchstpersönlich, solch eine kraftvolle Ausstrahlung hat sie.

Ich suchte fieberhaft nach einer geistreichen Antwort. „Hast du mich etwa vermisst?“, meinte ich schmunzelnd und sah viel selbstbewusster aus, als ich mich gerade fühlte. „Habe ich etwa einen Grund dazu?“, erwiderte sie, verschränkte die Arme und sah mich herausfordernd an. „Wenn du so direkt fragst, noch nicht“, konterte ich und gewann immer mehr Selbstsicherheit, „aber wer weiß, was die Zukunft so bringt?“ Mila schlenderte langsam auf mich zu. „Hoffnung kann wehtun, falls sie nicht wahr wird“, flüsterte sie verschwörerisch. Dieses Mädchen wusste um ihre Wirkung auf andere, bemerkte ich mit einer Mischung aus Interesse und Resignation. „Und manches ist die Hoffnung nicht wert, die die Menschen hegen…“, ergänzte ich schlagfertig und lächelte triumphierend. Mila zog eine Augenbraue hoch und stemmte ihre Hände in die Hüfte. Wow, dachte ich mir, manchmal kann Schönheit echt wehtun. „Hey, war schön, dich wieder mal getroffen zu haben, aber ich muss jetzt leider zu einem wichtigen Meeting“, brach ich das erwartungsvolle Schweigen. In dem Moment bemerkte ich den Ausdruck, der kurz über ihr Gesicht huschte.

War das etwa Enttäuschung? Unsinn, dachte ich mir. Dieses Mädchen ist bekannt in der ganzen Stadt, sie wird bewundert von allen Jungen und beneidet von den anderen Mädchen. Wieso sollte sie ausgerechnet einen Blick auf mich geworfen haben? Andererseits, dachte ich mir, brauche ich mich wohl kaum zu verstecken. Ich habe selbst ein sehr markantes Auftreten, ein prächtiges Charisma und ein Händchen für gute Auftritte. Und dennoch, bei Mila wurde ich derart schwach, dass ich mich kaum traute, daran zu denken, ob wir eventuell zu mehr werden könnten als nur Bekannte.

Mit diesen Gedanken in meinem Kopf sah ich ihr tief in die Augen, lächelte selbstüberzeugt, machte auf dem Absatz kehrt und steuerte zielstrebig auf den Ausgang zu.

Eiswolken

Подняться наверх