Читать книгу Eiswolken - Victor Schmidt - Страница 8
Stürmischer Einstieg
ОглавлениеIn der kommenden Nacht wüteten die Eiswolken. Wieder einmal bedeckten sie den gesamten Himmel tausende Kilometer um den größten Berg der Welt herum und berührten an diesem Punkt, so wie jedes Mal bei ihrem Erscheinen, die Spitze der Welt.
Der Bereich um den großen Berg und der Tunnel durch das naheliegende Gebirge wurden teilweise gesperrt. Aus Sicherheitsgründen durfte der Tunnel nur noch benutzt werden, um zur Stadt zu gelangen, aber nicht, um sie zu verlassen. Von der Stadt zum Tunnel zu gelangen, sei wegen der hohen Steigung aber ohnehin nicht möglich. Während ich diese Informationen aus dem Radio auf mich einprasseln ließ, dachte ich lächelnd, welcher Mensch denn so verrückt sei, bis zum Gletscher auf der anderen Seite des großen Gebirges zu wandern, um dann durch den Tunnel, unter dem höchsten aller Berge hindurch, bis ins Tiefland zurückzugehen. Ich hätte bis zu dem Zeitpunkt niemals ahnen können, welch unglaubliche Dinge ich in den nächsten Tagen tun und erleben würde.
Ich saß früh morgens am Fenster und blickte hinaus, in freudiger Erwartung auf einen wunderschönen Sonnenaufgang. Dieser ließ nicht lange auf sich warten.
Die ersten Sonnenstrahlen des beginnenden Tages brachten die Schneeflocken am Fenster zum Glänzen. Sie schimmerten wie tausende Diamanten.
Ich wandte den Blick vom Fenster ab. Während ich genüsslich einen Mangosaft trank, hörte ich ein leises Grollen im Himmel.
Waren die Eiswolken immer noch nicht fertig mit uns?
Meine Frage wurde prompt beantwortet.
Plötzlich brach der Himmel entzwei.
Ein türkiser, gleißend heller Blitz schnitt durch den gesamten Himmel und blendete mich mit seinem grellen Licht.
Sogleich folgte ein ohrenbetäubender Donner, in den sich ein Knall mischte, der dröhnte wie eine Bombenexplosion.
Im selben Augenblick explodierte der Boden vor meinem Fenster. Überall wirbelte Schnee auf und das Fensterglas wurde zu einer weißen Leinwand.
Ich sprang auf, warf die Arme schützend vor mein Gesicht und schloss meine Augen.
Als ich sie wieder öffnete, setzte mein Herz einen Schlag aus.
Nur langsam sank der feine, weiße Pulverschnee zu Boden und offenbarte einen Blick auf die Ursache der scheinbaren Explosion. Je mehr sich der weiße Vorhang lichtete, desto deutlicher wurde mir: Es war keine Explosion.
Mitten auf der Erde vor meinen Augen war ein halbdurchsichtiger Eisbrocken eingeschlagen. Das mysteriöse Eis schien von innen heraus in einem blauen Licht zu leuchten. Doch was mir das Blut in den Adern gefrieren ließ, war nicht das Eis, sondern der kleine, glänzende Gegenstand, der aus dem Eis ragte. Er war spitz zulaufend – und rasiermesserscharf. Ich erkannte diesen Gegenstand. Ich hatte ein Bruchstück davon schon einmal in den Händen gehalten…
Sekunden verstrichen, dann Minuten. Mir wurde kalt. Ich begann Stimmen zu hören, von überall. Plötzlich blitzte vor meinem inneren Auge die erschreckende Gestalt aus meinem Traum auf. Ich schrie auf und taumelte zurück. Doch da war nichts.
Langsam beruhigte ich mich. Tief in meinem Inneren begann ein Feuer zu brennen, ein Feuer der unverwundbaren Willenskraft. Ich ging langsamen Schrittes zur Tür. Bedächtig zog ich meine schwarzen Lederhandschuhe und eine warme, dunkle Jacke an.
Ich trat hinaus in den kalten, sonnigen Morgen. Die Reflektion des Sonnenlichts im Schnee ließ mich blinzeln. Vom Knirschen der funkelnden Schneedecke unter meinen Füßen begleitet, näherte ich mich vorsichtig dem Eisbrocken. In etwa drei Metern Entfernung blieb ich stehen und versuchte, die unglaubliche Erscheinung vor mir mit all meinen Sinnen aufzunehmen.
Zu meiner Überraschung sah ich feinen Dampf von der Oberfläche des Eisbrockens aufsteigen, was von einem leisen Zischen begleitet wurde. Verdampfte das Eis etwa?
Immer weiter stieg die Sonne hinter mir auf und ließ meinen Schatten kürzer werden. Wie lange stand ich hier bereits? Ich hatte jedes Zeitgefühl verloren. Das Eis verdampfte bereits immer schneller…
Schließlich war es soweit. Vor mir lag der Dolch, dessen Spitze ich in meinem Albtraum als Waffe verwendet hatte. Ein Schauer lief mir über den Rücken.
Eine entsetzliche Ahnung beschlich mich. Mein Traum hatte also wirklich etwas mit den Eiswolken zu tun…
Langsam schritt ich auf die Waffe zu.
Schließlich kniete ich nieder und griff entschieden nach dem Dolch. Meine Finger schlossen sich um das kühle Metall. Ich fühlte das perfekt ausbalancierte Gewicht des Dolches und seine feine Verarbeitung. Dies war Perfektion wie von einer anderen Welt, schoss es mir durch den Kopf. Im selben Augenblick bemerkte ich etwas.
Langsam begann es, doch nach einigen Sekunden konnte ich es nicht mehr leugnen. In meinem Kopf blitzten Bilder auf.
Bilder von längst vergangenen Zeiten. Äonen zogen an mir vorbei. Hochkulturen stiegen empor und gingen unter. Doch über allem bauten sich, schwarze Schatten werfend und in dunklem Königsblau strahlend, gigantische Eiswolken auf, so groß, wie ich sie noch niemals zuvor gesehen hatte. Der Dolch glitt mir aus der Hand und ich schrak zurück. Laut klirrend fiel der Dolch auf die Erde und blieb liegen.
Erst jetzt bemerkte ich die feinen, blau leuchtenden, filigran eingravierten Fäden am Griff des Dolches. Langsam ging ich in die Hocke und hob ihn erneut auf.
Ich nahm die feine Gravur in Augenschein. Auch wenn mich mittlerweile nichts mehr wunderte, so durchfuhren mich dennoch ein sehr seltsames, bedrückendes Gefühl und zugleich ein warmer Hauch von Hoffnung, ohne dass ich wusste, worauf ich hoffen konnte. Es war der Moment gekommen, in dem spätestens jeder Mensch an meiner Stelle erkannt hätte, dass etwas Monumentales in sein Leben getreten war. Ich hätte dennoch niemals zuvor geahnt, welches Ausmaß die Veränderungen in meinem Leben gehabt hätten. Denn in meinen Händen lag eine Insignie wie aus einer anderen Welt.
Und in sie eingraviert waren Worte. Gebannt zwang ich mich, die verschnörkelte Schrift zu entziffern.
Die Worte, die in der kältesten aller Farben geschrieben waren, sagten mir in Gedanken so wenig, und doch fühlte ich mich, als hätte ich gerade etwas erblickt, was mein Leben für immer verändern würde.
„Du vermagst das Eis zu spalten, das Armageddon aufzuhalten. Was ein anderer begonnen, das wird nur von euch gewonnen…“
Ich fühlte Fragen in mir aufsteigen. Viele Fragen.
Je mehr ich versuchte, sie zu verdrängen, zu vergessen, je mehr ich wünschte, all das wäre nie passiert, desto brutaler strömten sie, brodelnd wie Magma, an die Oberfläche meines Bewusstseins.
Allen Fragen und Gedankenscherben voran, die wie zerschlagenes Glas nach der Explosion eines Gebäudes auf mich herabregneten, traf mich das Gefühl von unbeschreiblicher Vertrautheit. Ich begriff aus der Tiefe meines Unterbewusstseins heraus, dass das, was gerade geschah, geschehen musste.
In diesem Moment schien mir selbst ein vorherbestimmtes Schicksal auf dieser Welt möglich zu sein, derart überwältigt war ich.
Aus den Gedanken, die so tief waren wie ein Ozean, tauchte ich erst wieder auf, als ich hinter mir Schritte hörte.
Ich drehte mich um und richtete den Dolch auf meine beiden Freunde und Nachbarn, Timur und Jason, die mit Schrecken zurücktaumelten.
„Entschuldigung“, murmelte ich und ließ den Dolch in meine Jackentasche gleiten. „Was ist hier passiert und was war das bitte für ein Schwert?!“, brachte Timur, sichtlich überfordert, hervor. „Ich weiß selbst nicht, was hier los ist“, sagte ich wie in Trance und schlenderte an den beiden vorbei in Richtung Haustür. „Du siehst ziemlich blass aus, bist du verletzt?“, fragte Jason, nicht minder irritiert.
„Kommt bitte mit“, sagte ich knapp und unkonventionell. „Ich habe euch viel zu erzählen.“