Читать книгу Joayna - Victoria M. Castle - Страница 8

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Kapitel 2

Lindsay dachte gar nicht viel über diesen Zustand nach, wenn es auch vermutlich für jemanden, der in einem Kloster aufgewachsen war, hätte schmerzhaft sein müssen, nie wieder ein solches Gebäude betreten zu können.

Aber da sie nicht einmal wusste, wieso sie aus einem Kloster hierhergekommen war, wenn sie auch ihre eigene Theorie hatte und große Teile ihrer Erinnerungen in der Dunkelheit versunken waren, so schien auch der Schmerz an die noch intakten Erinnerungen versunken zu sein.

Es ging ihr gut.

Vermutlich ging es ihr das zumindest.

Lindsay hatte sich in ein Netz ohne Gefühle gewebt, sich von einer Mauer aus kaltem Stein umhüllen lassen und lebte jeden Tag vor sich her.

Sie dachte nicht viel darüber nach, was gewesen war, erinnerte sie sich ohnehin nicht.

Und aus welchem Grund auch immer schien nichts und niemand auch nur einen Funken auslösen zu können, der sie an Schmerz oder Trauer erinnerte.

Sie hatte die wenigen Informationen von Shadow, die sie bei ihrem Einzug in Tiéfwâas mit einem Schulterzucken hingenommen hatte, wenn auch er sie damals mit großer Verwunderung und wohl auch ein stückweit Misstrauen angesehen hatte und er dieser Ruhe, dieser Gelassenheit, dieser Gleichgültigkeit über ihre neue Lebenssituation wohl nicht hatte trauen können.

Was spielte das auch schon für eine Rolle?

Was auch immer in ihrer Vergangenheit gewesen sein musste, es war vorbei.

Was würde es also bringen, in einer Geschichte zu lesen, dessen Einband sich längst geschlossen hatte?

Lindsay hatte mit wenigen Schritten den Marktplatz bereits wieder verlassen und ließ sich von dem Strom Elfen davon tragen, der ebenfalls in Richtung „Baumkrone“ unterwegs war.

Die „Baumkrone“ war der Begriff für eine kleine, auf einem Hügel liegende Ansammlung von großen Eichen, aus welchen ein einziges, stattliches Gebäude geformt worden war und in welchem der König der Elfen zusammen mit seiner Tochter wohnte.

Die Ansammlung von Bäumen war so gelegen, dass sie ein prächtiges, rundes Gebäude bildeten, die „Krone“, in welcher Mitte ein großer Platz war, auf dem sich der Drachentrupp vor und nach den Schlachten traf, um sich zu beraten, um ihre Siege mit dem König zu teilen und ihren entsprechenden Lohn zu erhalten.

Lindsay hatte den König bisher nur ein einziges Mal gesehen, was bei ihrer Ankunft in Tiéfwâas geschehen war.

Sie hatte ihn als gutmütigen, friedliebenden Elfen kennengelernt, welcher sie gleich zu Beginn herzlich in Empfang genommen hatte, wenn sie auch zuvor gewarnt worden war, dass man sie vermutlich nicht so willkommen heißen würde. Sie wurde dahingehend eines Besseren belehrt.

Als man sie durch den Felsen den großen Gang hinabgeführt hatte, welcher mit hellen Fackeln, die beinahe so mächtig wirkten wie Tageslicht, um am Fuße des Berges schließlich wieder nach draußen zu gelangen und ihre ersten Schritte ins Tal der Elfen zu setzen, hätte sie sich kaum vorstellen können, dass die prächtige Stadt sie so mitreißen würde.

Hier unten wirkte alles so lebendig, wie sie es an keinem Ort bisher erlebt hatte, zumindest soweit sie sich daran erinnern konnte.

Das Licht schien trotz der Tiefe des Tales heller als am Rande der Klippe zu sein.

Und das war es, was Lindsay bei ihrer Ankunft so faszinierte.

Die Männer, welche an den Klippen postiert waren, um das Tal von außen zu beschützen, hatten sie gewarnt, man würde nicht gut auf sie zu sprechen sein, auf jemanden wie sie.

Doch als sie hier unten angekommen war, spürte sie keinerlei Feindseligkeit.

Das Tal war beherrscht von Frieden und solch einer Natürlichkeit, dass es ihr auch heute noch ab und zu die Sprache verschlug.

Der König hatte sie direkt am Fuße des Berges in Empfang genommen, was, so wusste Lindsay nun, äußerst ungewöhnlich war, schien er doch sonst die neuen Bewohner in der „Krone“ zu begrüßen, nicht hier auf den Straßen.

Es schien ohnehin eine recht unförmliche Begrüßung gewesen zu sein, wenn auch trotz der Unförmlichkeit sein Anblick Ehrfurcht in Lindsay ausgelöst hatte.

Auch wenn er für einen Elfen ein recht altes Aussehen hatte, seine Haut von Falten überzogen war, sein Kinn einen kurzen weißen Bart zierte, wirkte er doch relativ jung in seinem Auftreten und voll und ganz imstande, seine Aufgaben mit dem nötigen Wissen und der nötigen Achtsamkeit zu erledigen, die eines Königs würdig waren.

Einzig allein seine Tochter war ihr damals kaum aufgefallen, wenn sie auch im Nachhinein des Öfteren über sie nachgedacht hatte.

Seine Tochter war noch ziemlich jung gewesen und hatte selbst für eine Elfin einen recht zierlichen Körperbau und war relativ klein. Ihr blondes, beinahe schon weißes Haar trug sie lang und hatte viele kleine Zöpfe hineingeflochten, in welchen sie winzige, weiße Blumen eingewebt hatte, die so selbstverständlich darin aussahen, dass Lindsay sich das ein oder andere Mal gefragt hatte, ob sie nicht zwischen ihren Haare gewachsen seien.

So abwegig schien ihr dieser Gedanke nicht einmal, hatte sie doch so viel Natur innerhalb des Tales kennenlernen dürfen, dass sie beinahe nichts mehr dahingehend verwunderte.

Obgleich es sie auch immer wieder von neuem faszinierte.

Die Tochter des Königs war damals schon äußerst ruhig gewesen, hatte bei ihrer Begrüßung keinen einzigen Laut von sich gegeben und auf Lindsay einen ziemlich verschüchterten Eindruck hinterlassen. Nur ein einziges Mal hatten sie beide Augenkontakt und für den einen Moment hatte sie auf Lindsay so unfassbar zerbrechlich gewirkt, dass sie davon ausgegangen war, dass man sie innerhalb der „Krone“ wohl gut zu behüten wusste.

Was machte so ein kleines Ding auch hier auf den Straßen?

Selbst wenn es nichts zu befürchten gab, wirkte sie nicht gerade so, als würde sie auch nur das kräftige Blasen des Windes aushalten.

Seitdem jedenfalls hatte Lindsay sie nicht widergesehen und so geriet die Kleine schnell wieder in Vergessenheit.

Sie kannte nicht einmal ihren Namen, wenn sie sich auch sicher war, dass der König diesen bei ihrer Ankunft erwähnt hatte.

Lindsay hatte sich umgesehen, als sie sich der „Krone“ näherte.

Auch hier schien bisher noch alles intakt zu sein.

Vermutlich gab es tatsächlich heute nicht viel zu tun, was Lindsay aufseufzen ließ.

Sie hatte gehofft, den Tag mit Aufbauarbeiten verbringen zu können, denn das waren die leichteren, aber auch selteneren Tage in Tiéfwâas.

Langsam leckte sie sich die Lippen, als ihr Blick noch einmal prüfend über die Baumhausreihen glitt, um nicht doch eine Bruchstelle durch den Drachentrupp zu finden, aber zu ihrem Bedauern war alles soweit in vollkommener Ordnung.

Leicht biss sie die Zähne zusammen und machte auf dem Absatz kehrt, als sie langsam den Weg zurückging.

Vielleicht sollte sie heute den Versuch wagen...?

Nein, sie entschied sich auch am heutigen Tage dagegen, das Tal durch den Felsen hindurch zu verlassen. Seit ihrer Ankunft im Tal war sie nicht einmal wieder aus diesem herausgetreten, wenn sie sich auch nicht selbst erklären konnte, was der Grund dafür gewesen war.

Irgendetwas in ihr schien sie davon abzuhalten, als würde dort oben eine Realität warten, derer sie sich noch nicht bereit war zu stellen.

Schnell verwarf sie diesen Gedanken wieder und suchte nach anderen Alternativen für den heutigen Tag.

Kurz ging sie den Tagesablauf von Shadow durch.

Für gewöhnlich machte er sich früh auf in die „Krone“. Er gehörte zu den Vertrauten des Königs, kümmerte sich um die Ländereien, das Volk, behielt den Überblick über die Bewohner des Tales und dass jeder seine Regeln einhielt. Wenn er nicht gerade auf der Jagd nach irgendwelchen Armeen war.

Bei dem Gedanken daran huschte Lindsay ein schiefes Grinsen über die Lippen.

So friedfertig sie Shadow auch kennengelernt hatte, musste er es doch in sich haben. Zumindest schien er Erfolg zu versprechen, wenn er schon für Außeneinsätze fortgeschickt wurde.

Doch seitdem sie hier wohnte, war dies erst zwei Mal passiert.

Einen Moment schüttelte Lindsay den Kopf, um jede Chance der Erinnerung an diese Tage zu verdrängen, und entschied sich dazu, zurück in sein Haus zu kehren.

Er würde nicht dort sein.

Also würde sie die Chance nutzen und im Innenhof ein paar Übungen durchführen.

Probedurchläufe für Kämpfe, zu denen sie nie gerufen wurde.

Sie wusste nicht, wieso sie diese vollführte, wieso sie sich im Training bis an ihre Grenzen brachte, wusste sie doch, dass allein der Drachentrupp für alle militärischen Angelegenheiten in Tiéfwâas zuständig war.

Abgesehen davon hatte sie schließlich das Tal noch nie verlassen seit ihrer Ankunft.

Dennoch war das Training etwas, das sie beruhigte.

In den meisten Fällen trainierte sie allein und versetzte sich dabei in einen tranceähnlichen Zustand, der sie innerlich zu entspannen schien.

Und Entspannung konnte sie wahrlich gebrauchen, wenn sie auch in Tiéfwaâs kein anstrengendes Leben führte, so zwang eine innere Unruhe sie Tag für Tag in die Knie.

Shadows Haus war recht zentral im Elfental gelegen, sodass er schnell handeln konnte, wenn seine Hilfe in der „Krone“ gefragt war.

Nur wenige Straßen vom Marktplatz entfernt hauste er in einer riesengroßen Eiche, die so voller Leben zu stecken schien, dass es Lindsay im ersten Moment beinahe schon verboten vorgekommen war, inmitten des Stammes eine Tür zu schlagen.

Doch dem Baum schien dies nie etwas ausgemacht zu haben, wirkte er noch immer voller Lebenskraft.

Die Eiche war ungewöhnlich hoch und breit, hatte sie doch auch, soweit sie sich erinnern konnte, so etwas noch nie gesehen. Direkt in den Baumstand hatte man eine Tür platziert, selbst ein Fenster fand daneben Platz. Alle Türen und Fenster im gesamten Haus waren so mit dem Baum verschmolzen, dass es so natürlich aussah, als wäre der Baum von ganz allein so gewachsen und für einen winzigen Augenblick hatte Lindsay dies sogar in Erwägung gezogen, wenn der Gedanke daran nicht vollkommen absurd gewesen wäre.

Um den dicken Stamm gewoben erkannte man fingerbreite Wurzeln, die sich vom Boden herauf bis nach oben zu den Ästen wanden, welche das Dach des Hauses bildeten. Diese Wurzeln waren mit einer solchen Naturmagie versehen, dass man stets einen Fluss weißer, purer Energie darin erkennen konnte, als würde der Baum aus der Erde all seine Energie schöpfen und das gesamte Haus damit segnen.

Es war faszinierend gewesen, diesem Fluss einen Moment zuzusehen, und beinahe hatte es auf Lindsay eine beruhigende und fast schon hypnotisierende Wirkung. Die Elfen standen der Natur so unfassbar nahe, dass die Natur auf diese Art und Weise ihre Dankbarkeit zeigte.

Als Lindsay am Haus von Shadow ankam, griff sie nach dem wurzelartigen Knauf daran und öffnete einfach die Tür, war diese doch nicht abgeschlossen gewesen.

Das war sie nie.

Hier im Tal gab es keine Diebe, keine Einbrüche, also hielt man es nicht für nötig, all sein Hab und Gut vor Fremden zu schützen.

So ungewöhnlich Lindsay dieses Verhalten auch vorgekommen war, umso mehr hatte sie sich daran gewöhnen müssen.

Sie erinnerte sich zwar nicht daran, jemals mit Dieben in Berührung gekommen zu sein, doch regte sich in ihr in dieser Hinsicht eine unerklärliche Vorsicht, welche sie nur mit Mühe abzuschütteln versuchte.

Mit schnellen, beinahe schon unruhigen Schritten ging Lindsay durch das Haus, ehe sie an der hinteren Wurzeltür ankam und wieder hinaus ins Freie gelangte.

Im Innenhof seines Hauses war der Boden voller Moos bedeckt, samtig weich unter den Füßen wie an so vielen Stellen in Tiéfwâas.

In der Mitte des Hofes stand ein weiterer großer Baum mit breiten Ästen, die bis hinüber über das Dach des Hauses reichten und mit diesem zu verschmelzen schien, als sei das Dach des Hauses auch aus eben diesem Baum gemacht.

Solch einen Baum besaßen die meisten Häuser der Elfen, wenn sie nicht sogar in einem der Bäume gebaut worden waren oder ähnlich wie Shadows Haus eine solche Größe besaßen, dass sie zwei Bäume in Anspruch nahmen. Und wieder wirkte es so, als schöpfte das Haus selbst all seine Energie aus der Erde, aus der Natur und wirkte dadurch so lebendig, dass Lindsay an so manchen einsamen Tagen in Shadows Abwesenheit schon vermutet hatte, das Haus hätte seinen eigenen Charakter, schlüge Türen zu, wenn sie zu laut auftrat oder ließ das Holz im Inneren der Wände knarren, wenn sie im Bett lag und die Unruhe sie wieder einmal gepackt hatte, als wollte es sie trösten.

Lindsay zog ein kleines, schwarzes, seidenes Band aus ihrer schwarzen, ledernen Hosentasche und Band sich damit die langen blonden Haare zu einem einfachen Pferdeschwanz zusammen.

Sie entschied sich dazu, zur Aufwärmung ein paar leichte Übungen zu machen, wie sie es so oft tat.

Langsam hob sie die Hände nach oben, ließ ihre ausgestreckten Arme in einer fließenden Bewegung in die Waagerechte geradeaus gleiten, ehe sie mit einem geruhsamen Bogen beide Arme zu ihrer linken Seite führte, die Handflächen dabei langsam nach außen drehte und die Augen schloss.

In ihrem Inneren hörte sie ein leises Ticken in sich aufkommen, wie eine Uhr, die ihr den Takt anschlug und langsam begann.

Im richtigen Takt ließ sie ihre Arme in einer fließenden Bewegung über ihren Kopf gleiten und streckte sich dabei so sehr, dass sie den Blick langsam gen Himmel richtete, als versuchte sie, in den Ästen über ihr etwas zu erreichen.

In ihren Handflächen begann es zu kribbeln, als sie das Holz über sich erkannte und sie holte tief Luft. Dann spürte sie eine innere Wärme in sich aufkommen.

Langsam drehte Lindsay sich um ihre eigene Achse, senkte leicht den Blick, verfolgte mit diesem ihre Hände, die in einer fließenden Bewegung geruhsam um ihren Körper fuhren.

Erneut schloss sie die Augen, führte ihre rechte Handfläche langsam über ihre linke entlang zu ihrem Arm, ohne diesen direkt zu berühren. Glitt den Arm Stück für Stück entlang, ehe sie an ihrem Brustkorb ankam und das Ticken in ihr wurde lauter, schneller.

Ihre Bewegungen passten sich dem Rhythmus an und die Wärme in ihr stieg immer mehr an.

Als das Ticken immer deutlicher und lauter in ihr wurde, öffnete sie mit einem Mal die Augen und führte ihre Hände ruckartig geradeaus, als hätte sie die Energie, die sich in ihr aufgestaut hatte, von sich stoßen wollen.

Doch an ihren Fingerspitzen hörte sie nur ein leises Zischen, welches sie aus dem Rhythmus brachte und sie sofort aufhören ließ.

Fast schon enttäuscht ließ Lindsay ihre Arme sinken, wenn sie auch nicht genau den Grund ihrer Enttäuschung kannte.

Irgendetwas fehlte ihr.

Sie fühlte sich unvollständig, als würde etwas in ihr die Kraft zurückhalten, die in ihr ruhte und nach draußen zu gelangen versuchte.

Lindsay seufzte leicht, als sie einen kleinen Moment brauchte und sich wieder auf die Ruhe konzentrierte, die der Baum ausstrahlte. Sie leckte sich flüchtig die Lippen, schloss erneut die Augen und ließ noch einmal die Stille um sie herum auf sich wirken, das leise Rauschen der Blätter.

Sie lauschte auf den Wind, der durch die Baumkronen strich und begann erneut mit ihren Bewegungen.

Diesmal glichen diese doch schon eher einem Kampf, als Lindsay recht schnell begann, einen Schlag mit der flachen Hand waagerecht nach vorne zu setzen und dabei einen Ausfallschritt nach vorne machte.

Direkt drehte sie sich um ihre eigene Achse, schlug mit der linken Faust nach hinten, als hätte sie dort einen Gegner aus dem Hinterhalt erwischt und setzte ihre Rechte auf den unsichtbaren Gegner direkt hinterher.

Sie duckte sich unter einem imaginären Angriff hinweg, als sie merkte, wie sich ihre Sinne schärften.

Einen Moment hielt Lindsay mitten in ihren Bewegungen inne, schloss noch einmal die Augen und lauschte auf das leise Rauschen des Windes.

Tief holte sie Luft, als sie sich mit einem Mal umdrehte, die Augen öffnete und ein Blatt entdeckte, welches der Wind soeben aus der Baumkrone gefegt hatte und langsam zu Boden segelte, nun jedoch in einer winzigen Flamme stand und einen Augenblick später gänzlich als Asche zu Boden fiel.

Zufrieden lächelte Lindsay, als wäre es genau das gewesen, was sie gesucht hatte.

Doch noch ehe sie hätte lange darüber triumphieren können, hörte sie hinter sich das leise Knacken eines am Boden liegenden Astes und sie wirbelte herum.

Sofort sah sie ein violettes Licht vor sich erstrahlen, eine Silhouette, die eines Kriegers glich und mit dem Schwert nach ihr schlug.

Rein im Reflex zuckte Lindsay zurück, ließ ihren Oberkörper so weit nach hinten beugen, dass sie gerade so der violett leuchtenden Klinge ausweichen konnte.

Direkt holte der merkwürdige Gegner nach einem weiteren Schlag aus und Lindsay machte ein paar Schritte zurück, als sie in ihrer Hand ein eigenartiges Gefühl vernahm.

Sofort blickte sie hinab und erkannte in ihrer Hand, dass ein violettes Leuchten auf ihrer Handfläche entstanden war, welches sich langsam ausbreitete und sich zu einem Schwert materialisierte, welches der Klinge des Gegners glich.

Flüchtig zuckte ihr linker Mundwinkel, als sie direkt zu ihrem Gegner blickte und imstande war, den erneuten Angriff schnell genug zu parieren.

Die seltsame Klinge in ihrer Hand fühlte sich hart und kalt an, wenn sie auch aussah, als wäre sie aus purem Licht geschaffen.

Der Gegner vor ihr ließ ihr keine Chance über ihre Waffe nachzudenken, schlug mit unnatürlicher Geschwindigkeit auf sie ein und Lindsay hatte Mühe, in dem Tempo mitzuhalten.

So konnte sie lediglich die meisten Schläge parieren, den anderen Ausweichen und war gezwungen, immer weiter rückwärts zu gehen, ehe sie an die Wand des Hauses stieß.

Leise entwich ein Knurren ihren Lippen und sie suchte einen Ausweg aus ihrer Lage.

Noch einmal parierte sie einen schnellen Schlag des Gegners, versuchte, diesen mit einem heftigen Stoß nach vorne zu bringen, und löste sich dadurch soweit von der Hauswand, dass sie ein Kribbeln in ihrem Rücken wahrnehmen konnte.

Mit einem Mal zuckte sie zusammen, krümmte ihren Rücken und aus dem ledernen Stoff an ihrer Wirbelsäule brachen Knochen heraus, die sich zu Neuem formten.

Im Reflex hatte Lindsay mit den Flügeln schlagen wollen, doch schaffte sie es lediglich, sich wenige Zentimeter vom Boden zu erheben und mit einem harten Aufprall wieder auf ihren Füßen zu landen, sodass es sie in die Knie trieb.

Mit einem schnellen Blick sah Lindsay zu ihrem Rücken und erkannte die verkrümmten, zerfledderten Stummel an der Stelle, an der sie Flügel erwartet hatte.

Das Blutrot der weichen Federn hing in gebrochenen Strähnen beinahe schon leblos herunter und ließen ihr den Atem anhalten.

„Das ist nicht deine Welt“, sagte die tiefe Stimme und sie verschränkte langsam die Arme.

„Dann sag mir, wo meine Welt ist. Bring mich hin. Leite mich. Führe mich“, erwiderte sie und trat mit jedem Satz immer näher an ihn heran.

„Verdammt nochmal, das bist du mir nach allem schuldig!“, fügte sie hinzu und in ihren Augen blitzte etwas auf, welches sich in Gebrochenheit verlor.

Er hatte seinen kalten Blick auf sie gerichtet, ließ die Armbrust in seiner Hand sinken und verdrehte die Augen, ehe er sich von ihr abwandte.

Das war nicht das, was er geplant hatte.

Er hatte sich nicht vor einigen Jahren dazu entschieden, das Kloster zu verlassen, um nun wieder bei ihr zu sein.

Das passte nicht zusammen.

Auch wenn seine primären Gründe andere gewesen waren, so war ein Teil von ihm auch gegangen, um ihr aus dem Weg zu gehen.

Wie sollte er nach all dem, was seine Kindheit geprägt hatte, einem Dämonen in die Augen sehen, der seine eigene Schwester war?

Langsam fuhr er sich durch die Haare, als sie noch immer auf eine Antwort von ihm wartete und die Ungeduld in ihm wuchs.

Was sollte er ihr denn antworten?

So sehr er das, was sie auch war, verabscheute, so sehr liebte er sie noch.

Oder zumindest den Teil in ihr, der nichts mit all der Dunkelheit zu tun hatte.

Ihre Worte hallten in seinem Kopf immer wieder.

War er ihr das wirklich schuldig?

Langsam schüttelte er den Kopf und wandte sich erneut zu ihr.

„Knie nieder“, sagte er ihr in dunklem Tonfall und erwartete keinen Widerstand.

Sie blickte ihm entgegen und holte tief Luft.

Dieses starre Befehlen hatte er schon gehabt, als sie noch Kinder gewesen waren und damals hatte sie sich nie dagegen gewehrt.

Er war ihr großer Bruder.

Er traf immer die richtigen Entscheidungen, dessen war sie sich sicher, auch wenn sie das ein oder andere Mal Schwierigkeiten hatte, diese zu verstehen.

Auch wenn sich etwas in ihr dagegen sträubte, zuckte sie leicht mit den Schultern und tat, wie ihr geheißen wurde, als sie vor ihm auf die Knie ging.

„Breite deine Flügel aus“, befahl er und sie blickte ihm einen Moment überrascht entgegen.

„Wie meinst du-?“, begann sie, doch er unterbrach sie direkt.

„Das ist das, was einen Dämon ausmacht“, erwiderte er barsch, beinahe schon mit Abscheu in seiner Stimme.

Sie zögerte, als sie jedoch sich auf das konzentrierte, was er von ihr verlangte.

In ihrem Rücken kitzelte es und sie verkrümmte sich, als sich ein harter Knochen schmerzhaft aus ihrer Haut bohrte und zu großen, blutroten Flügeln erstrahlte.

Jedes verdammte Mal schmerzte es, wenn ihre Flügel zum Vorschein kamen.

Doch jedes Mal gaben sie ihr das Gefühl von Freiheit, von gnadenloser Grenzenlosigkeit.

Gabriel ließ die Armbrust auf den Boden gleiten und wandte sich noch einmal von Lindsay ab, um zu einem Mann zu treten, der einige Meter von ihnen entfernt gestanden hatte.

Es war einer der patrouillierenden Krieger um Tiéfwâas gewesen.

Er streckte die Hand nach ihm aus und verlangte wortlos die kleine Klinge an seiner Gürtelscheide, in welcher sich ein Kris befand.

Lindsay verfolgte die Bewegungen ihres Bruders genau, ließ sich nichts davon entgehen, als er langsam mit dem Kris auf sie zukam.

„Du musst mir vertrauen“, sagte er nun noch immer mit derselben harten Stimme, wenn sein Blick auch einen Moment weicher wurde.

„Alles, was ich je getan habe, diente dazu, dich zu beschützen“, sagte er, wenn auch Lindsay den Sinn dahinter nicht ganz verstehen konnte, doch nickte sie wortlos und ließ ihren Blick langsam zu dem Kris in seiner Hand gleiten.

Ihr dämmerte sein Vorhaben und etwas in ihr schrie laut nach Hilfe, doch rührte sie sich keinen Millimeter.

Langsam senkte sie den Blick zu Boden, ehe sie die Augen schloss.

Ihre Flügel legte sie nach und nach an ihrem Körper entlang, spürte einen Moment den wärmenden Schutz, den sie ihr gaben, spürte noch einmal die Freiheit, welcher sie ihr schenkten.

Ehe sie die kalten Finger von Gabriel an den weichen Federn spüren konnte.

„Ich vertraue dir“, sagte Lindsay schließlich mit einem erschreckend ruhigen Tonfall, ehe Gabriel die Klingel am Ansatz ihrer Federn ansetzte.

Noch immer hielt sie die Augen geschlossen, presste die Lippen aufeinander, als das warme Blut ihren Rücken entlang floss.

Sie schluckte hart, holte tief Luft, spürte Tränen stumm ihre Wangen entlang gleiten und doch wusste sie: Er würde das Richtige tun, um sie zu beschützen.

Joayna

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