Читать книгу Meine verlorene Heimat - Viktoria Schwenger - Страница 7
ОглавлениеKinderjahre
Meine Kindheitserinnerungen reichen weit zurück. Ich sehe mich als kleines Mädchen in der Straßenbahn sitzen. Meine weiß bestrumpften Beinchen baumelten hin und her und ich blickte neidvoll auf die Erwachsenen, deren Beine lang genug waren, um sie auf den Boden zu stellen. Die Meinen waren noch viel zu kurz. Einige Jahre später begann der Ernst des Lebens.
In einem roten Seidenkleidchen, das meine Mutter genäht und unter dem Halsausschnitt mit einer goldenen und einer schwarzen Rose bestickt hatte, fuhr ich mit ihr nach Mährisch-Ostrau zur Schuleinschreibung.
Artig reichte ich dem Herrn Oberlehrer, der mir mit seiner Glatze und dem Bäuchlein so alt wie Methusalem vorkam, die Hand und knickste, wie es sich damals gehörte.
Errötend beantwortete ich, mit ängstlichen Kinderaugen unter dem frisch gestutzten Pony scheu zu ihm aufblickend, seine Fragen, woraufhin er mir wohlwollend die Wange tätschelte. Ich spürte, wie mein Gesichtchen erglühte.
Meine Volksschulzeit verlief problemlos. Ich bekam gute Zeugnisse und bereitete dem Herrn Oberlehrer Freude. Dennoch verdrosch er mich einmal in einem für mich unerklärlichen Anfall von Zorn.
Unter die korrigierten Rechtschreibübungen pflegte er mit Rotstift ein dickes »R«, den Anfangsbuchstaben seines Namens, zu schreiben. In kindlicher Verspieltheit kam es mir in den Sinn, das dicke »R« mit Schreibfeder und Tinte in der Mitte nachzuziehen. Der so verzierte Buchstabe gefiel mir gut, nicht aber meinem Lehrer.
Wutentbrannt fiel er über mich her und schlug auf mich ein. Prügelstrafe an den Schulen war seinerzeit üblich und keinesfalls verpönt, doch auf ein kleines Mädchen einzuschlagen war selbst damals nicht in Ordnung. Ich wusste nicht, wie mir geschah. Hatte ich ahnungsloses Kind das verdient? Aber so ist es, wenn man, ohne böse Absicht die Initialen des Namens seines Lehrers »schändet«. Es war dies meine erste und letzte Dresche in der Schule. Doch zu Hause erzählte ich aus Scham und Furcht nichts.
Ich war ein stilles und schüchternes Kind, kein Problem für unsere Familie wie mein Bruder Erich. Er war zwei Jahre jünger als ich, ein schwer erziehbares Kind, wodurch das Familienklima sehr beeinträchtigt wurde. Er bereitete meiner Mutter und auch mir ein Leben lang große Sorgen und Schwierigkeiten, auch noch lange nach dem Krieg.
In seinen späteren Jahren war er an den Rollstuhl gefesselt und damit nach einem bewegten Leben den Versuchungen dieser Welt, denen er nicht widerstehen konnte, entzogen. Dabei war Erich hochbegabt und sehr musikalisch, beherrschte eine Vielzahl von Musikinstrumenten, und das ohne jeglichen Unterricht. Alles fiel ihm leicht, während ich mir alles erst erarbeiten musste.
Er war der Liebling und Stolz meines Vaters, der ihm zu vieles durchgehen ließ.
Erich war wie mein Vater, vermutlich von diesem beeinflusst, überzeugter Nationalsozialist. Er meldete sich schon als 17-Jähriger freiwillig zum Kriegsdienst und trat sofort der SS bei, der berüchtigten Schutzstaffel Hitlers. Dort stieg er auf der Karriereleiter schnell empor.
Meine Mutter legte viel Wert auf schöne Kleidung, obwohl das Gehalt meines Vaters gering und die Zeiten schlecht waren.
Ein schicker, neuer Frühjahrshut, mit Maiglöckchen oder Veilchen als Zierde, war zu jedem Osterfest unbedingt nötig. Mit vor Schmerzen zusammengebissenen Zähnen stolzierte sie in Stöckelschuhen zur Kirche, selbst wenn diese noch so drückten.
Die Auferstehungsprozession an Ostern mit Blasmusik und »Frühjahrsmodenschau« gehörte zu den Höhepunkten des Jahres und war stets ein großes Ereignis. Der liebe Gott mag wohl gelächelt haben über so viel weibliche Eitelkeit, doch es geschah auch zu seiner Ehre. Ich muss gestehen, dass ich mich in meiner jeweiligen neuen Frühjahrsausstattung nie wohlfühlte und eher schüchtern den Kopf einzog. Nach der Prozession gab es ein feierliches Abendessen mit gefärbten Eiern und Schinken, den wir uns jedoch nicht immer leisten konnten.
Wir Geschwister bekamen alljährlich weiße Matrosenblusen mit einem marineblauen Plisseerock für mich und blauen Hosen für meinen Bruder. Meine Mutter war sehr stolz, wenn die Leute sagten, dass wir wie die Kinder von Kaiser Karl aussähen. Der bereits verstorbene Monarch war der letzte Kaiser von Österreich-Ungarn gewesen, wurde aber immer noch als »Friedenskaiser« verehrt.
Meine Mutter, die immer sehr modisch gekleidet war, konnte uns Kinder schön herausputzen, weil sie viel selbst nähte.
Als ich in der Oberschule immer noch die gleiche Matrosenbluse wie mein Bruder tragen musste, rebellierte ich innerlich, doch niemals hätte ich es gewagt, vor den Eltern etwas zu kritisieren oder mich gar zu beschweren.
Eine meiner Mitschülerinnen meinte kess, ich solle mir ein Tintenfass über die weiße Matrosenbluse schütten, dann wäre das Thema gleich erledigt. Doch so etwas Ungezogenes hätte ich nie getan! Eines Tages war der Matrosenlook aus der Mode gekommen und damit dieses Thema von selbst passé.
Meine Heimat lag in der Tschechoslowakei, die 1918 nach dem Ersten Weltkrieg durch den Versailler Vertrag entstanden war und aus Böhmen, Mähren, einem Teil Schlesiens und der Slowakei bestand.
Wir wohnten in Nordmähren, genauer gesagt im Ostrau-Karwiner Industriegebiet, das früher zur Österreichisch-Ungarischen Monarchie gehört hatte. Neben den Tschechen lebten dort auch viele deutsche und österreichische Familien, die seit Generationen ansässig waren. Das Gebiet liegt etwa dreihundert Kilometer östlich von Prag und war zweisprachig, tschechisch und deutsch. Viele Deutsche beherrschten wie ich die tschechische Sprache. Das sollte mir später einmal sehr zugute kommen.
5. Mai 1932 – Ich bin zehn Jahre alt
Eisenwerke, Kohlegruben und rauchende Schlote prägten die Landschaft. Rot leuchtete bei Nacht der Himmel über Ostrau, flammende Essen loderten empor und verliehen der Stadt eine gespenstische Silhouette. In diesem Gebiet, genauer gesagt in Orlau, einem Städtchen im Ostrau-Karwiner Industriegebiet, hatte ich das Licht der Welt erblickt. Viele Stiegen führten zu der Kirche hinauf, in der meine Taufe stattfand.
Mein Vater war bei der Ostrau-Karwiner Lokalbahn, die von Orlau nach Karwin führte, angestellt, deshalb durften wir die Bahn kostenlos benutzen.
Die Strecke betrug etwa 25 Kilometer bei einstündiger Fahrzeit. Jeder dieser kleinen Orte, die die Bahn miteinander verband – wir nannten sie »Elektrische«, im Schülerjargon »Kiste« – hatte eine oder mehrere Kohlegruben mit dazugehörigen Bergarbeiterkolonien. Viele Bergbauingenieure und Beamte besaßen dort ihre Villen.
Die Kirche in Orlau, in der ich getauft wurde
Meine Kindheit fiel in eine Zeit, in der die Grenzen meiner Heimat noch vor Beginn des Zweiten Weltkrieges oft verschoben wurden.
Nach dem Münchner Abkommen 1938 wurde das Sudetenland von der Tschechei getrennt und Deutschland zugeschrieben, dann die »Rest-Tschechei« im März 1939 von Deutschland faktisch annektiert und zum »Protektorat Böhmen und Mähren« erklärt. Später fiel die polnisch besetzte Hälfte des Ostrau-Karwiner Industriegebietes an Oberschlesien und somit an das Deutsche Reich. Als Kind hatte ich das freilich nicht registriert, sondern als natürlich hingenommen.
Es bestand nun eine reichsdeutsche Grenze in Radwanitz zwischen dem Protektorat Böhmen und Mähren und Polen. Wenn wir von Peterswald, wo wir später wohnten, nach Ostrau in die Schule fuhren, mussten wir im Grenzgebiet in Radwanitz unsere Grenzausweise vorzeigen, gelegentlich sogar unsere Schultaschen nach Schmuggelware untersuchen lassen. Selbst wir Kinder und Jugendliche wurden gefilzt!
Einmal hatte ich mir einen Hut in Ostrau gekauft und aufgesetzt, ohne ihn anzumelden. Eigentlich hätte er verzollt werden müssen. Wohl war mir nicht dabei, mein Herz klopfte vor Aufregung, zumal mich der Zollbeamte misstrauisch musterte. Doch er ließ mich laufen, ohne mich zu kontrollieren. Was für eine Erleichterung!
Es gab unter den Grenzbeamten auch einige nette Typen, für die wir Mädchen schwärmten. Wir himmelten alles an, was reichsdeutsch war und Uniform trug.
Mein Vater stammte aus Nordböhmen, aus der Gegend von Neu-Paka, Trautenau-Gablonz. Das Riesengebirge war nicht weit entfernt. Mein Großvater war Bahnwärter, vermutlich deshalb arbeitete auch Vater bei der Bahn. Er wohnte mit meiner Großmutter in einem bescheidenen Häuschen. Als kleines Mädchen war ich einige Male dort zu Besuch gewesen, ich erinnere mich noch gut an meine Großeltern.
Wenn mich mein Großvater auf die Wange küssen wollte, rannte ich davon, weil ich seine kratzigen Bartstoppeln fürchtete. Seinen Wunsch, mir Zöpfe wachsen zu lassen, wofür er mir sogar ein neues Kleid versprach, konnte ich ihm mit meinem dünnen Haar nicht erfüllen. So kam ich weder zu Zöpfen noch zu einem Kleid von Großvater. Er sprach nur Deutsch und konnte kaum Tschechisch. Meine Großmutter hingegen war Tschechin und beherrschte kein Wort Deutsch, dennoch hatten sie sich gefunden.
Ich frage mich heute noch, wie sie sich unterhalten konnten, doch es schien zu funktionieren. Immerhin hatten sie zusammen drei Kinder gezeugt, doch dazu braucht es keine Sprache.
Zu den kleinen Vergnügungen, die mir die Großmutter bieten konnte, gehörten in einem Mörser zerstampfte und mit Zucker vermischte Walnüsse.
Oft sagte ich zu ihr auf Tschechisch: »Großmütterchen, komm, Nüsse stampfen«. In dieser Sprache klang das freilich viel schöner, zumal es da das nüchterne Wort »Großmutter« nicht gibt, sondern eben nur das zärtliche »Großmütterchen«. Dieses »Babička, budeme tlouct oŕechy«, konnte ich bereits als ganz kleines Kind auf Tschechisch sagen.
Vorne mein Großvater (deutsch), Großmutter (tschechisch), dahinter von links nach rechts: Wenzel und Anna (tschechisch) und mein Vater (deutsch)
Einmal habe ich der lieben Babička einen Schock versetzt. Sie brachte mir aus der Stadt einen Kleiderstoff mit, wobei sie jammerte, nichts »Gescheites« gefunden zu haben. Eigentlich war es eine Untertreibung, denn sie war stolz auf ihren Einkauf. Obwohl sie nicht viel Geld hatte, wollte meine Babička ihrem Enkelkind eine Freude machen.
Mir gefiel der gelbe Seidenstoff mit den blauen Blümchen und winzigen Punkten sehr, aber ich wollte so klug wie meine Großmutter sein und ihr nach dem Mund reden. So sagte ich altklug: »Ja, es ist ein Fetzen, aber für die Schule wird es gut sein«.
Sie war so enttäuscht! Ich schäme mich heute noch dafür.
Als Dreijährige kehrte ich einmal nach wochenlangem Aufenthalt bei den Großeltern nach Hause zurück. Ich hatte meine Muttersprache vergessen und sprach nur noch Tschechisch, wie mir später erzählt wurde.
Es herrschte bei den Großeltern noch einfaches, unverfälschtes Landleben. Ich erinnere mich vage an Bauernkinder und einen Puppenwagen, in dem wir kleine Katzen spazieren fuhren. Ich liebte es, bei den Großeltern zu sein, obwohl es einfach und sparsam zuging.
Seit jenen Kindheitstagen habe ich meine Großeltern nicht mehr gesehen. Vielleicht war die Entfernung zu groß, vielleicht gab es andere, mir unbekannte Gründe, sodass der Kontakt zu ihnen abriss.
Als ich 15 war, starb meine Großmutter im Alter von 74 Jahren. Ich fuhr zu ihrer Beerdigung in das kleine Dorf. Sie lag im Haus im Sarg aufgebahrt, schwarz angezogen, mager und gelb im Gesicht. Man versteckte damals die Toten nicht im geschlossenen Sarg so wie heute. Die Zurückgebliebenen sollten Gelegenheit haben, die Toten noch einmal zu sehen, um Abschied von ihnen nehmen zu können.
Ich erinnere mich noch heute mit Schaudern, wie mit dumpfen Schlägen der Sarg zugenagelt wurde.
Genau in dem Moment, als der Kirchenchor begann, ein Marienlied zu singen, fiel vom Fensterbrett ein Blumentopf herab und zersprang. Die Trauergäste sahen sich erschrocken an, sie hielten es für ein schlechtes Omen.
Ein Jahr später starb mein Großvater im Alter von 79 Jahren. Nach dem Tod seiner Frau war er vereinsamt, konnte ihren Verlust nicht verwinden und erschoss sich an ihrem Grab. Ich habe das lange nicht erfahren, es wurde innerhalb der Familie streng geheim gehalten. Ich habe nie verstanden, warum.
Die drei Kinder meiner Großeltern gingen verschiedene Wege. Bruder und Schwester meines Vaters bekannten sich zur tschechischen Nationalität, mein Vater hingegen war ein fanatischer Deutscher. Selbst unser Türschild musste in den Nationalfarben schwarz-rot-gold angefertigt sein.
So spalteten die damaligen politischen Verhältnisse die Familien. Vielleicht war dies der Grund, dass der Kontakt zu den Großeltern abgebrochen worden war.
Im Ersten Weltkrieg diente mein Vater bei der Gendarmerie der österreichisch-ungarischen Monarchie. Nach dem Krieg fand er Arbeit bei der Ostrau-Karwiner Lokalbahn in der am 28. Oktober 1918 neu gegründeten, tschechoslowakischen Republik. Er arbeitete dort als Bahnhofsvorsteher, Revisor, zeitweise auch als Wagenführer.
Sein Fanatismus hätte ihn beinahe seine Stelle und womöglich mehr gekostet, als er im Stationsbüro das Bild des damaligen tschechischen Präsidenten Masaryk, des Mitbegründers der unabhängigen Tschechoslowakei war, von der Wand riss und zertrampelte. Einflussreiche Freunde konnten den Vorfall vertuschen und das Schlimmste abwenden.
Meine Mutter stammte aus einem entgegengesetzten Winkel der Tschechoslowakei, nämlich aus Leutschau in der Zips, einem Landstrich in der nördlichen Slowakei. Sie schwärmte oft von ihrer Geburtsstadt, die auf Grund ihrer Kunstwerke und prächtigen Gebäude auch das »slowakische Nürnberg« genannt wurde. Gerne erinnerte sie sich an sonntägliche Standkonzerte der K. und K.-Militärmusik, an promenierende, elegante Frauen und fesche Offiziere – vergangener Glanz der damaligen Donaumonarchie.
Ich bezweifle aber, dass sie selbst das alles erlebt hatte, denn bereits mit zwei Jahren verlor sie ihre Mutter, worauf sie bei einer sprichwörtlich hartherzigen Stiefmutter eine traurige Kindheit durchmachen musste.
Als sie zwölf Jahre alt war, starb auch ihr Vater. Sie lebte eine Weile bei ihrer um elf Jahre älteren Schwester. Sie beide waren die Einzigen, die von neun Geschwistern übrig geblieben waren. Die anderen hatte der Tod im Kindesalter dahingerafft. Die Kindersterblichkeit war damals sehr hoch, doch dass von neun Kindern gleich sieben starben, war selbst zu dieser Zeit ungewöhnlich und erschütternd.
Später kam meine Mutter zu einer Baronin »in Stellung«, wie man damals die Arbeit als Hausangestellte nannte. Dort ging es ihr sehr gut, sie wurde wie eine Tochter behandelt und eignete sich viele Kenntnisse an. Als Waise musste sie früh lernen, auf eigenen Beinen zu stehen, errang Selbstständigkeit und Selbstbewusstsein, was mir fehlte.
Oft erzählte sie von »ihrer« Baronin, die dahinschmolz, wenn feurige Roma und Sinti sie »umgeigten«. Mag sein, dass aus jener Zeit ihr Hang zu Höherem stammte, den sie zeitlebens nicht verlor.
Ihren ersten Verlobten hatte sie mitleidlos sitzen gelassen, da er ihr zu klein von Statur und zu weichherzig war und sie ständig umturtelte, was ihr nicht gefiel. Sie verließ ihn während einer gemeinsamen Zugreise, stieg einfach aus und fuhr in der Gegenrichtung davon.
Später heiratete sie meinen Vater, der groß und energisch war und Uniform trug, wenn auch nur eine Eisenbahneruniform. Doch Uniformen zogen junge Mädchen an wie Nektar die Bienen. Mag sein, dass sie sich meinen Vater im Laufe der Jahre etwas weniger energisch gewünscht hatte.
In meiner Kindheit besaßen wir immer Hunde, denn mein Vater war ein Hundenarr und dressierte die Tiere stundenlang. Meist waren es Deutsche Schäferhunde, die Lux hießen.
Doch der Liebste unserer Hunde war mir ein Bernhardiner. Ich brachte ihn eines Tages in der Schultasche nach Hause. Als ich ihn herauskullern ließ, sah er aus wie ein kleines Wollknäuel auf kurzen Beinchen. Nach und nach entwickelte er sich zu einem riesigen Tier, tollpatschig und gutmütig, der einen aus großen, braunen Augen, mit schräg geneigtem Kopf, treuherzig ansah. Er packte meinen kleinen Bruder gerne am Kragen und zog ihn, zu dessen Begeisterung, in der Küche herum.
Einmal jedoch bereitete er uns Kummer. Er sprang nachts im Garten in ein Frühbeet aus Glas und schnitt sich dabei den inneren Oberschenkel auf. Eine lange Blutspur hinter sich ziehend kam er in die Wohnung gelaufen. Wir gossen im ersten Schreck ein Fläschchen Jod auf die Wunde, was schrecklich gebrannt haben musste, doch er ertrug es geduldig. Er wurde verbunden und in die Kammer gesperrt. Ich betete die ganze Nacht, dass Bary am Leben bleiben solle.
In der Früh wagte niemand, nach ihm zu sehen, aus Angst, er sei verendet. Doch als ich zur Kammertür kam, nahm ich ein gleichmäßiges, vertrautes Klopfen wahr. Er hatte mich gehört und wedelte freudig mit dem Schwanz. Wie waren wir froh, dass er lebte! Später mussten wir ihn aus Platzmangel verkaufen, er war zu riesig für unsere kleine Wohnung geworden. Bei seinem neuen Besitzer lief er in ein Auto und wurde so schwer verletzt, dass man ihn einschläfern musste. Das machte mich sehr traurig.
Der nächste Hund – mein Vater hielt es nie lange ohne Hunde aus – war ein eleganter Windhund, der »Blitz« genannt wurde. Er war nicht mehr jung, als wir ihn erhielten, aber er war ein wunderschönes, reinrassiges Tier.
Oft führte ihn meine Mutter, in grünem Lodenmantel und ein Hütchen mit Gamsbart auf dem Kopf, stolz durch den Ort spazieren. Einmal jedoch rannte er mit Riesensprüngen querfeldein davon und zog meine Mutter hinter sich her. Das imposante Bild »Dame mit Hund« war dahin! Sie erwischte ihn noch – leider, muss ich sagen. Denn kurz darauf biss er mich knapp neben der Hauptschlagader in den Arm, weil es ihm nicht passte, dass ich ihn streicheln wollte.
Ich höre heute noch, wie er wütend knurrte, seine spitzen Zähne fletschte und zubiss. Mein Vater griff mit dem Schürhaken ein, worauf Blitz von mir abließ. Ich musste zum Arzt, um die Wunde versorgen zu lassen. Noch heute sieht man die Narben auf meinem Arm. Blitz wurde schleunigst verkauft, weil er eben unberechenbar und bissig war, was vermutlich der Vorbesitzer aus demselben Grund getan hatte.
Die Sonntagnachmittage meiner Kindheit bestanden überwiegend darin, dass wir mit der Straßenbahn zur »Tanta«, der Schwester meiner Mutter, nach Ostrau fuhren. Sie war mit einem Malermeister verheiratet und kinderlos.
Mein Vater saß dann vor dem »Kristallradio«, einem einfachen Gerät mit Detektoren aus den Anfangstagen des Rundfunks mit Detektoren, und stocherte am Kristall herum, um die Sender zu finden.
Mutter und Tante tauschten sich über ihre diversen Krankheiten aus, was ich schon nicht mehr hören konnte. Dann zückte Mama ihre Tarotkarten, um für die Tante Ereignisse der kommenden Woche vorherzusagen. Und manchmal gingen ihre Prophezeiungen sogar in Erfüllung!
Wir waren katholisch. Erstkommunion und Firmung wurden ausschließlich in der Kirche gefeiert, weltliche Feiern waren nicht üblich.
Auch Süßigkeiten wurden einem nicht so nachgeworfen, wie den Kindern heute. Ein Nikolaus oder ein Osterhase aus Schokolade war etwas Besonderes. Ich versteckte die Leckereien meist, um mir nach und nach ein kleines Stückchen zu genehmigen. Wenn mein Osterhase dann von mir aus seinem Versteck hervorgeholt wurde, musste ich oft voll Wut feststellen, dass ihm mein Bruder ihm heimlich die Füße oder Ohren abgebissen hatte.
Eigentlich war ich ein gesundes Kind, doch mit zehn Jahren brachte man mich mit Scharlach für ganze sechs Wochen ins Krankenhaus, wo ich vollkommen isoliert wurde.
Der einzige Kontakt zu meinen Eltern bestand durch das geschlossene Fenster, wobei ich mich mittels Schreien verständlich machen musste. Was für ein Stimmengewirr, wenn die mehr als zwanzig kleinen Patienten an den Fenstern hingen und nach draußen brüllten!
Was er mir mitteilen wollte, schrieb mein Vater auf ein Stück Papier, das er an die Scheibe hielt, sodass ich es lesen konnte.
Das waren meine frühen Jahre der Kindheit.