Читать книгу Meine verlorene Heimat - Viktoria Schwenger - Страница 9
ОглавлениеEine neue, eine andere Zeit bricht an
Am politischen Himmel zogen dunkle Wolken auf, die sich mehr und mehr verdichteten. Konrad Henlein, ein Deutscher aus dem Sudetengebirge, der ursprünglich Bankbeamter und Turnlehrer war, hatte die »Sudetendeutsche Heimatfront« gegründet. Sie wurde später, vom Deutschen Reich unterstützt, zur »Sudetendeutschen Partei«, abgekürzt »SdP«.
Diese Partei war maßgeblich mit daran beteiligt, dass mit dem »Münchner Abkommen« – einem Vertrag, der 1938 in München zwischen Deutschland, Italien, Frankreich und Großbritannien ohne die Tschechoslowakei vereinbart worden war – die Abtretung der sudetendeutschen Gebiete in der Tschechoslowakei an das Deutsche Reich verfügt wurde. Man stelle sich vor, dass diese Staaten den verbrecherischen Machthunger Hitlers unterstützten!
Durch die Parolen dieser »SdP« beeinflusst, besannen wir uns mehr und mehr unseres »Deutschtums« und zogen als Ausdruck unserer deutschen Gesinnung in Dirndlkleidern und weißen Kniestrümpfen mit Zopfmuster, »Sieg Heil« rufend, zu den angeordneten Kundgebungen. Nichts anderes wollten wir als »Heim ins Reich«. Damals konnten wir nicht im Geringsten ahnen, unter welch furchtbaren Umständen sich dieser Wunsch Jahre später verwirklichen sollte.
In wenigen Jahren nach dem verlorenen Krieg würden die jetzt unterdrückten, verfolgten und diskriminierten Tschechen die Deutschen ihres Hab und Guts berauben. Sie würden ihre Unterdrücker, soweit sie sie nicht ermordet hatten, aus ihrer Heimat vertreiben: »Jetzt könnt ihr heim in euer Reich!«, würden sie uns Deutschen höhnisch nachrufen, wenn sie uns, wie Tiere in Güterwaggons gepfercht, aus dem Land trieben. Die Rache der Tschechen für die an ihnen verübten Gräueltaten und Diskriminierungen würde schrecklich sein.
Doch damals ahnte man das alles nicht, wir Deutschen fühlten uns als die »Herrenrasse« im Recht, wie es uns der »Führer« eingetrichtert hatte.
Die politischen Machenschaften während der Henleinzeit, der später von Hitler zum Gauleiter des Sudetenlandes und Reichsstatthalter befördert wurde, hatte ich als Jugendliche nicht registriert. Es interessierte mich nicht, man machte halt das, was auch die anderen machten: Man »siegheilte« und jubelte enthusiastisch mit: »Ein Volk, ein Reich, ein Führer!«. Wir sahen eine glänzende Zukunft vor uns. Erst viele Jahre später wurde uns bewusst, welche Verbrechen von den Nazis verübt worden waren.
An einem Märzabend im Jahre 1939 geschah es:
Ich saß zu Hause über einer Lateinaufgabe, als ich durch das Fenster draußen in der Finsternis eine lange Lichterkette die Anhöhe von Schlesisch-Ostrau herunterkommen sah. Es waren deutsche Panzer!
Die tschechischen Mieter im Haus, mit denen wir bis dahin in guter Nachbarschaft gewohnt hatten, waren außer sich vor Angst. Beklommen fragten sie meine Mutter: »Was wird nun mit uns geschehen? Es ist doch unsere Heimat, die ihr jetzt in Besitz nehmen wollt!«
Meine Mutter beruhigte sie: »Nichts«, sagte sie, »nichts wird Ihnen geschehen. Wir Deutsche sind anständige Menschen.« Es geschah den Tschechen auch nichts – vorerst.
In der Nähe unserer Wohnung war eine tschechische Kaserne. Die tschechischen Soldaten hatten die Wahl, sich widerstandslos zu ergeben oder in die Luft gejagt zu werden. Sie entschieden sich für Ersteres. Nun brach ein unbeschreiblicher Jubel aus, ein wahrer Rausch erfasste alle Deutschen.
Man kann nicht beschreiben, was sich auf Ostraus Straßen und Plätzen tat.
Lautsprecherwagen spielten Marschmusik, die Menge tanzte, sang und schunkelte. Im Triumphzug wurden die deutschen Soldaten auf den Schultern der Männer in die Häuser getragen und königlich bewirtet. Ein Jubel ohnegleichen.
Wir Jugendliche saßen im »Deutschen Haus« und trennten tschechische Fahnen auf, um aus dem Stoff Hakenkreuzfahnen zu nähen! Tschechische Frauen gingen am Haus vorbei und zeigten uns hasserfüllt die Zunge. Wir aber lachten nur, wir waren die Sieger!
Es dauerte Tage, bis man sich beruhigt hatte und wieder zum Alltag überging. Wir jungen Mädchen schwärmten von den deutschen Soldaten und sahen zu ihnen auf wie zu Göttern. Die armen Gymnasiasten wurden, nun uninteressant geworden, ins Abseits gestellt. Was war schon ein Gymnasiast gegen einen deutschen Soldaten?
Im Bräuhaushof von Radwanitz teilte die »Nationalsozialistische Volkswohlfahrt« (NSV) an die arme Bevölkerung Suppe und Brot aus, während in den Nebengebäuden Soldaten mit ihren Pferden lagerten.
Manchmal half ich bei der Brotausgabe mit, so auch am Ostermorgen im April 1939. Plötzlich sah ich mich im Hof von Soldaten umringt, die sich mit mir unterhalten wollten. Wir Mädchen waren nämlich sehr gefragt.
In vorlauter, frecher Backfischmanier ließ ich angeberisch meine Schulweisheiten einschließlich lateinischer Vokabeln auf die jungen Männer niederprasseln, was sie sehr zu beeindrucken schien. Sie standen da mit offenem Mund. Eigentlich war Angeben nicht meine Art. Wir lebten jedoch in einem Ausnahmezustand, und da waren alle wie berauscht.
Ich hätte sicher munter mit meinem Wissen weiter geprahlt, hätte sich nicht ein großer, blond gelockter Gefreiter der Gruppe genähert, und damit trat Franz in mein Leben.
Er nahm das Wortgefecht mit mir auf und erwies sich als ebenbürtiger Gesprächspartner, der meiner Angeberei durch entsprechendes Kontra Einhalt gebot.
Als ich meinen Eltern davon erzählte, ermunterten sie mich, den jungen Mann mit nach Hause zu bringen, immerhin war er Soldat und damit etwas Besonderes. Man bewunderte die jungen Männer, die bald in den glorreichen Krieg ziehen würden, zur Rettung des Vaterlandes.
Nichts war mir lieber als dieser Vorschlag meiner Eltern, und als ich den Gefreiten am nächsten Tag wie zufällig wieder traf, lud ich ihn zu uns nach Hause ein. Er war hoch erfreut.
Franz besuchte mich zwei Mal und wir musizierten zusammen. Ich spielte Klavier, er begleitete mich auf der Geige.
»Träume von der Südsee« spielten wir hingebungsvoll, und weil Franz auch noch schön sang, eroberte er nicht nur mein Herz, sondern die Herzen der ganzen Familie im Sturm.
Als er das zweite Mal kam, bat er um Schuhputzzeug, um seine staubigen Stiefel reinigen zu können. In dem Augenblick als er sich bückte, geschah etwas ganz Seltsames: Für den Bruchteil einer Sekunde schoss, wie auf einem Foto, das Bild von einem gemeinsamen Leben mit Franz durch meinen Kopf. Es war wie ein Fenster in die Zukunft.
Nie hatte ich vorher an so etwas wie Ehe gedacht, ich war doch noch viel zu jung und hatte erst meinen 16. Geburtstag gefeiert. Außerdem währte die Begegnung mit Franz noch nicht lange. Trotzdem, so scheint es mir heute, hatte mir das Schicksal für einen winzigen Moment einen Blick in mein künftiges Leben gezeigt.
Nach fünf Tagen musste die Einheit von Franz den Ort verlassen und zog weiter. Zurück blieben eine schöne, zarte Erinnerung und ein Briefwechsel, der uns in der nächsten Zeit die einzige Gelegenheit bot, uns näher kennenzulernen.