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Endlich ein »Backfisch«!

Ich konnte es kaum erwarten älter zu werden, ein »Backfisch« zu sein, heute würde man es »Teenager« nennen.

Endlich war es so weit: Die Schuleinschreibung für das Mädchenrealgymnasium stand bevor. Etwas beklommen marschierte ich mit meiner Mutter zum Schulgebäude.

Der Direktor war ein imposanter Mann mit stahlblauen Augen und schwarzem Vollbart. Dass er sich einige Jahre später das Leben nehmen würde, weil er Jude war, konnte man nicht ahnen.

Er stellte die obligatorischen Fragen, die von mir schüchtern beantwortet wurden, wobei ich mir aus Verlegenheit ständig mit der Hand eine Haarsträhne unter meinen roten Matrosenhut strich. Die Aufnahmeprüfung war erfolgreich, und so begann meine achtjährige Oberschulzeit.

Die gesamte Familie war nun auf ihre Gymnasiastin stolz. Täglich musste ich etwa eine halbe Stunde mit dem Zug von Orlau nach Ostrau fahren und dann von der Bahnstation etwa zwanzig Minuten zur Schule gehen. Bei strengem Winterwetter, wenn es einen an den Fingern und Füßen fror, schien mir der Weg endlos.

Der Großteil meiner Klassenkameradinnen und auch einige Lehrer waren jüdisch. Damals fragte niemand danach, wir vertrugen uns und waren befreundet.

Als meine jüdische Mitschülerin Ruth einmal zu mir sagte, »du hast ja Kuhaugen«, war ich schrecklich wütend auf sie.

Wegen meiner langen Nase, meiner abstehenden Ohren und meiner dünnen Haare fand ich mich als Backfisch absolut hässlich. Nun wurden mir auch noch »Kuhaugen« zugeschrieben!

Die Familie dieser Jüdin war sehr wohlhabend. Ruth spielte Tennis, lernte reiten und fuhr in den Ferien ins Salzkammergut. Das alles waren Privilegien, die sich nur reiche Leute leisten konnten.

Kurz nach Kriegsende las ich in einem Amtsblatt, dass sie für tot erklärt worden war. Das hat mich tief erschüttert. So war auch sie in dieser schrecklichen Zeit mit größter Wahrscheinlichkeit den Weg von Millionen von Juden zur Ermordung in einem deutschen Konzentrationslager gegangen.

Kleine Unterschiede unter uns Schülerinnen gab es wohl in der Herkunft: »Akademikertochter« oder »Beamtentochter«, aber das verwischte sich im Laufe der Jahre. Als wir 1939 durch die Annexion der Tschechoslowakei »heim ins Reich« kehrten, hielten wir uns als Deutsche ohnehin für etwas Besseres als die Tschechen oder Juden.

Die Schulzeit brachte ihre Höhen und Tiefen.

Wenn ich heute meine damaligen Lehrer Revue passieren lasse, fällt mir auf, dass mir einige von ihnen sehr alt vorkamen. Doch so alt konnten sie nicht gewesen sein, da sie noch im Schuldienst waren. Aber als jungem Menschen kommen einem selbst die Eltern alt vor.

Einen Mathematikprofessor fürchtete ich in der untersten Klasse ganz besonders. Es war Professor Franz Lorenz, der schon äußerlich den Eindruck eines sehr alten Herrn machte. Mit seinem dicken, grauen Schnauzbart erinnerte er mich an einen Seelöwen. Selbst heute noch muss ich, wenn ich einen Seelöwen sehe, an ihn denken.

Er war wohl krank, denn er war quittengelb im Gesicht und schrecklich »grantig«. In seinem Zorn schmetterte er gelegentlich einen ganzen Stoß Hefte auf den Boden, nicht selten flog der schwere Tafelzirkel samt Transporteur in die Klasse, sodass alle schnell die Köpfe einzogen.

Ab und zu bekam er einen Niesanfall, bei dem er gar nicht aufhören konnte zu nießen, was uns sehr belustigte. Mit seinem im Taschentuch vergrabenen Gesicht konnte er unser Feixen glücklicherweise kaum wahrnehmen, sonst hätte es ein schreckliches Donnerwetter gegeben.

Eines Tages hatte Mama die glorreiche Idee, für mich ein blaues Band mit Schleife als Haarschmuck zu nähen. Dieser Blickfang wurde mir zum Verhängnis.

Obwohl ich mich in der Bank klein machte und hinter meiner Mitschülerin verkroch, hatte mich der gefürchtete Lehrer bemerkt: »Die da mit dem blauen Mascherl!«, rief er, und holte mich vor an die Tafel. Ich habe diese Szene überlebt, verwünschte aber mein blaues Mascherl und nahm es immer vor der Schule vom Kopf.

Einige Jahre später hatte ich nochmals ein Erlebnis mit ihm. Bei einer Schulveranstaltung im Turnsaal, bei der etwa vierhundert Schülerinnen versammelt waren, wurde mir plötzlich schwarz vor Augen. Als ich blinzelnd wieder zu mir kam, lag eine Hand auf meiner Stirn. Mein Mathelehrer beugte sich mit fürsorglichem Blick über mich. Vor Schreck schloss ich die Augen und täuschte eine weitere Ohnmacht vor. Seine väterliche Besorgnis aber hatte mich doch beeindruckt, er schien gar nicht so böse zu sein.

Professor Karl Ruis war unser Deutschlehrer. Er war Junggeselle und verbrachte seine Abende bis in die frühen Morgenstunden in einem Weinlokal in Ostrau. Oft kam er vormittags mit einer Fahne aus Rauch und Alkohol in die Klasse.

Heute denke ich, dass er sich einsam fühlte und seinen Kummer im Wein ertränkte. Er war sehr sentimental und konnte kein Gedicht vorlesen, ohne dass sich seiner eine heftige Gemütsbewegung bemächtigte, besonders, wenn es im Gedicht um Liebe ging. Er war unfähig, seiner Rührung Herr zu werden und seine Tränen zurückzuhalten.

Wir spotteten, lachten und feixten darüber, aber eigentlich hatten wir ihn ganz gern. Worüber amüsiert man sich in diesem Alter nicht? Es musste in Geografie nur vom »Meerbusen« die Rede sein, schon wurde hinter vorgehaltener Hand gekichert.

Unserem Zeichenlehrer Professor Julius Spiegel setzte die Klasse besonders zu. Er war Jude und von kleiner, zierlicher Statur. So konnte er sich gegenüber seinen Schülern nur schlecht behaupten, sie konnten ihm buchstäblich auf den Kopf spucken.

Als wir einmal auf der Rückseite einer seiner ausgehängten Zeichnungen eine von ihm gefertigte Aktstudie fanden, nahm das Gespött kein Ende, der Arme konnte sich des hämischen Gelächters kaum erwehren.

Nicht zu übersehen war Professor Ernst Gretzer, unser Religionslehrer, der uns alles lehrte, nur nicht Religion.

Er sah gut aus, war groß und schlank. Und lackierte sich die Fingernägel! Der Wahnsinn! Er ließ sich von uns Schülerinnen anhimmeln und sonnte sich in seinem Glanz.

In der Früh holten wir ihn vom Pfarrhof ab. Inmitten der Mädchenschar schritt er mit hoch gereckten Schultern und dem stolzen Lächeln eines Siegers zur Schule. Seine Schwäche war halt die Eitelkeit.

Ansonsten war er ein sehr guter Prediger. Bei seinen Maiandachten war die Kirche rappelvoll. Schon deswegen, so bin ich überzeugt, wird Gott beim letzten Gericht trotz seiner »Wurzelsünde«, der Eitelkeit, ein Auge zugedrückt haben.

Wir hatten auch Lehrerinnen. Eine war Professor Valerie Ruźička, was auf Deutsch »Röschen« heißt. Sie war für Sprachen zuständig. Ein Röschen war sie freilich nicht mehr, sondern bereits im Stadium einer verwelkenden Rose.

Vergeblich versuchte sie, mit viel Puder und Schminke die Spuren zu verbergen, die der Zahn der Zeit auf ihrem Gesicht hinterlassen hatte. Zu ihren rot gefärbten Haaren trug sie mit Vorliebe lila Tücher und extravagante Kopfbedeckungen. Obwohl wir über sie kicherten, mochten wir sie im Grunde genommen ganz gerne.

Eine unangenehme Situation ereignete sich damals in der Abiturklasse, als ich mit meinem Verlobten Franz in der Straßenbahn fuhr und bemerkte, dass sie uns gegenübersaß. Es war mir so peinlich! Ich brachte keinen Ton heraus und zählte die Minuten bis zum Aussteigen. Riskierte ich einen scheuen Blick in ihre Richtung, starrten ihre Augen unbewegt ins Leere.

So war das damals mit der Autorität!

Vor Lehrern und Erziehungsberechtigten hatte man Respekt! Dabei hätte ich doch stolz darauf sein können, mich in Begleitung eines deutschen Offiziers zu befinden, der noch dazu eine Uniform trug.

Die übrigen Lehrer waren mehr oder weniger unauffällig und blieben mir nicht besonders in Erinnerung. Doch auch sie haben meine Jugend mitgeprägt.

Sie alle leben längst nicht mehr, sind zu Staub geworden. Doch in meinem Gedächtnis werden sie bis zum Ende meiner Tage gegenwärtig sein, denn das Wissen, das sie mir vermittelten, begleitet mich durch mein ganzes Leben.

Meine Eltern waren strikt dagegen, dass ich, wie meine Mitschülerinnen, mit den Schülern des benachbarten Gymnasiums Kontakte pflegte.

Einmal aber machte mir doch ein Gymnasiast namens Walter den Hof. Der gut aussehende Sohn einer italienischen Mutter hatte braune, lockige Haare. Er bemühte sich, mit mir in Kontakt zu kommen, was bei einem so schüchternen Mädchen wie mir nicht leicht war. Wann ich mich mit ihm treffen könne, wollte er von mir wissen. So ein Rendezvous sahen meine Eltern nicht gern, doch wenn man etwas fest will, findet man einen Weg.

Also benutzten wir meinen Nachmittagsunterricht, bei dem ich bis 16.30 Uhr Stenografie lernte. Walter wartete an der Ecke und amüsierte sich vermutlich über meine Besorgtheit im Hinblick auf meine Eltern.

Um Zeit zu gewinnen, schwindelte ich zu Hause vor, meine Tante besuchen zu wollen. Der Weg dauerte zwanzig Minuten, also vierzig Minuten hin und zurück.

Folgsam besuchte ich die Tante, wenn auch nur für schnelle fünf Minuten, damit für den Spaziergang mit Walter etwas mehr Zeit blieb. Dabei war ich schrecklich angespannt und sah dauernd auf die Uhr, denn meine Eltern hatten mir befohlen, spätestens mit der Straßenbahn um 18.40 Uhr heimzukommen.

Oft musste ich in schnellem Tempo über die Promenade hetzen, um diese Straßenbahn noch zu erreichen, während meine Mitschülerinnen mit ihren Freunden verliebt auf und ab spazierten. Der arme Walter musste dann hinter mir herrennen. Viel Freude hatte er in den wenigen Wochen unserer ersten Verliebtheit sicher nicht!

In diesen Jahren hatte ich einige »offizielle« Auftritte, vor denen mir schrecklich graute.

Einmal war es meine Aufgabe, in der Kirche neben der Marienstatue ein tschechisches Gedicht zur Maiandacht aufzusagen, dabei an einer bestimmten Stelle des Textes auf die Statue zu schauen und mir gleichzeitig theatralisch ans Herz zu fassen.

Meiner Meinung nach war das kitschig und übertrieben, mir war nicht wohl dabei, aber meine Mutter war sehr begeistert. Nebenbei bemerkt trug ich zu dieser Zeit bereits voller Stolz meine ersten Seidenstrümpfe und Stöckelschuhe, was mir das Gefühl gab, schon sehr erwachsen zu sein.

Bei der Begrüßung von Kardinal Bertram, der die Firmung durchführte, musste ich erneut auftreten. Wir gehörten damals zur Diözese Breslau. Weil der Kardinal nicht Tschechisch konnte, musste ich ihn in unserem überwiegend tschechischen Ort mit einem deutschen Gedicht und gelben Rosen begrüßen.

»Ein Freudentag ist angebrochen, es feiert ihn der ganze Ort, die Kinderherzen jubelnd pochen, der Mund hat nur ein dankend Wort …«, musste ich vortragen. Aber mein Herz pochte nicht jubelnd, sondern schlug in panischer Angst bis zum Hals.

Seine Eminenz sprach ein paar nette Worte zu mir und nahm mir das Versprechen ab, immer brav und katholisch zu bleiben. Dann stotterte er mehr schlecht als recht einen tschechischen Satz, womit er die Sympathien der heimischen Bevölkerung errang.

Ein weiteres nachhaltiges Ereignis war meine Teilnahme an der Primizfeier eines Nachbarsohnes, eines stillen jungen Mannes, der seine Berufung ernst nahm.

Ich durfte mit anderen Mädchen Ehrenjungfrau sein. Es waren etliche Vertreter der Geistlichkeit anwesend, ob schon zum Priester geweiht oder nicht, weiß ich nicht. Jedenfalls waren sie sehr übermütig und schäkerten ausgelassen mit den Mädchen herum. Auch in ihren frechen Liedern, die von vergeblicher Liebe und Frauen im Beichtstuhl handelten, war keinerlei Frömmigkeit zu erkennen.

Sehr enttäuscht, ja fast entrüstet kam ich nach Hause. Diese jungen Männer entsprachen überhaupt nicht meiner Vorstellung von einem Priester!

Einmal marschierte ich in einer slowakischen Tracht, mit Ährenkranz auf dem Kopf, zu einem Erntefest im Wiesengrund, das der Katholische Verein veranstaltete.

Gleich zu Beginn schenkte mir der Herr Pfarrer sein Tombola-Los. Natürlich zog ich damit den Hauptgewinn, der eigentlich dem Herrn Pfarrer zugedacht war. Es war ein lebendiges Suppenhuhn!

Ratlos stand ich da, den Käfig mit dem Huhn in der Hand. Irgendwie brachte ich das Federvieh nach Hause, und wir aßen dann vergnügt die Hühnersuppe, die für den Herrn Pfarrer bestimmt war.

So verbrachte ich eine schöne Kindheit und Jugend, an die ich mich immer noch gerne erinnere.

Meine verlorene Heimat

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