Читать книгу Mein großer Freund von nebenan - Viveca Lärn - Страница 5
Jonas, der lustige Nachbar
ОглавлениеEs war ein ganz gewöhnlicher Donnerstag Anfang Oktober. Trolls Mutter saß am Küchentisch und las in einer Illustrierten, wie man ohne Mühe innerhalb von vier Wochen sechs Kilo abnimmt. Sicherlich handelte es sich um Gurken.
„Mmm“, sagte sie, als Troll aus der Wohnung ging.
Auf der Straße sah Troll zuerst nach rechts. Dort stand nur ein Haus, und auf dem Balkon waren keine Leute. Zur Linken bemerkte sie einen grünen VW-Bus mit offenen Türen. Er war voller Möbel. Troll spähte hinein, doch niemand saß hinter dem Steuer. Dann sah sie sich um. Die ganze Straße lag still und verlassen in der Nachmittagssonne.
Da stellte sie sich auf die äußerste Kante des Bürgersteigs und rief: „Himmeldonnerwetter, Kruzitürken, Teufel noch mal, zum Geier, Scheißkram und dreimal verfluchter Scheibenkleister!“
Jetzt war es heraus. Sie fühlte sich nicht besser, aber es war heraus. Da passierte etwas sehr Peinliches. Aus einer Decke unter einem alten Schaukelstuhl, der in dem VW-Bus mit der Schiebetür stand, sah ein etwas verschlafener Kopf hervor. Er gehörte zu einem jungen Mann.
„Hat sich jemand weh getan?“ fragte er.
Eine dümmere Frage konnte er wohl nicht stellen! Troll sah ihn an und dachte, daß sie ihm die Sache wohl erklären mußte.
„Ich fluchte“, sagte sie, „weil ich nichts zu tun habe. Und ich ärgere mich schon den ganzen Nachmittag, weil mir so langweilig ist. Nie gibt es etwas, was ich tun könnte. Und es passiert auch nichts Gescheites. Und versuch jetzt bloß nicht, mir zu sagen, daß ich zu den Pfadfindern gehen oder Pingpong spielen soll, weil ich dich sonst auf der Stelle niederschlage!“
Der Fremde machte ein beeindrucktes Gesicht. Er war nun aus dem Bus geklettert und erwies sich als furchtbar groß und dünn.
Troll stieß mit dem Fuß gegen ein Rad seines komischen Autos, um ihm zu zeigen, daß sie es ernst meinte.
„Laß meine Reifen in Ruhe“, sagte der junge Mann. „So was tut mir richtig weh. Du könntest mir statt dessen beim Einziehen helfen,“
„Wirst du in Nummer fünf wohnen?“
„Ja, das habe ich vor. Besonders, wenn lauter so friedliche Leute wie du in dem Haus sind.“
„Nein, sag ehrlich. Wirst du hier wohnen? Woher kommst du?“
Der Fremde lächelte. „Ich bin von Östersund hierhergefahren. Und ich werde heute hier einziehen. Genügt dir das?“
„Nein. Wie heißt du?“
„Jonas. Und du?“
„Jennifer.“
„Was für ein Name! Hübsch ist er natürlich, aber trotzdem ein bißchen hochtrabend. Hat deine Mutter zu viele englische Filme im Fernsehen gesehen?“
Jennifer schwieg zuerst, aber dann mußte sie doch ein wenig lachen.
„Ich werde aber Troll genannt.“
„Tatsächlich? Hast du einen Trollschwanz?“
Für einen Erwachsenen war er wirklich lustig.
„Nein, hab ich nicht. Aber vielleicht nennen sie mich so, weil ich mich nicht jeden Tag kämme. Oder weil … Ach, es ist eben einfach so.“
Jonas ging um den Bus herum. Wie groß und schmal er war! Er trug einen abgeschabten grünen Monteuranzug mit großen Taschen. Seine Haare waren ziemlich dicht und fast schwarz. Und er hatte so nette Augen. Ungewöhnliche, graue Augen. Und sehr schwarze, ganz gerade Augenbrauen, die fast über der Nase zusammenwuchsen.
„Wie groß du bist!“
„Ja, ganz im Gegensatz zu dir, so gleicht es sich ja wieder aus“, sagte Jonas. „Was meinst du, womit fangen wir an?“
Troll sah sich im Bus um. Er war wirklich voll. Zuoberst thronte ein Käfig mit einem grünen Papagei darin. Er saß ganz still auf seiner Stange.
„Den nehmen wir zuerst“, sagte sie. „Er friert vielleicht.“
Jonas sollte eine Zweizimmerwohnung im ersten Stock beziehen. Er fand es seltsam, daß Troll keine Ahnung hatte, daß dort jemand ausgezogen war. Sie wohnte schließlich im nächsten Aufgang.
„Woher soll ich das denn wissen?“ fragte sie verwundert. „Bestimmt haben die Leute keine Kinder gehabt. Ich glaube nämlich, daß ich alle Kinder kenne, die hier im Haus wohnen. Drei sind es: Christina, die dauernd Klavier spielt. Und Thomas, der Pfadfinder. Dann noch Erik, der ist Orientierungsläufer, weißt du. Jeden Sonntagmorgen um sieben Uhr rennt er los und stapft mit dem Kompaß im Wald herum. Dann kommt er mit zerrissener Hose und Tannenadeln in den Haaren wieder heim und ist wahnsinnig glücklich. Aber so was ist nichts für mich. Es gibt nichts, was ich tun könnte.“
Sie begannen Jonas’ Habseligkeiten ins Haus zu tragen. Jonas war wahnsinnig stark. Er trug sein Bett auf dem Kopf. Troll trug nur den Papagei im Käfig.
„Später machen wir eine Umzugsmahlzeit“, sagte Jonas. „Wenn wir fertig sind.“
Doch als sie zur Tür von Jonas’ neuer Wohnung kamen, an der noch kein Namensschild befestigt war, blieb Troll stehen und faßte sich an den Kopf.
„Oje, ich darf ja nicht zu Fremden in die Wohnung gehen!“ „Dann springst du eben hinein, wenn du meinst, daß ich ein Fremder bin“, sagte Jonas.
Aber Troll trug nur alles bis zur Türschwelle, und Jonas brachte die Sachen dann in seine Wohnung.
„So gibt’s keinen Streit“, sagte Troll.
„Dabei mag ich Streit gern“, sagte Jonas zwinkernd. „Für mich gibt’s keinen Samstag ohne eine ordentliche Prügelei.“
Wenn er lächelte, wurden seine Augen ganz schmal. Troll fühlte sich richtig aufgekratzt. Es war schön, einen neuen Freund zu haben.
„Wie alt bist du?“ fragte sie.
„Fünfundzwanzig“, erwiderte Jonas. „Jedenfalls ungefähr. Wenn du willst, sehe ich mal in meinem Führerschein nach.“
Er muß doch wenigstens wissen, wie alt er ist! dachte Troll verwundert.
„Aber willst du mich nicht fragen, wie alt ich bin?“ sagte sie schließlich.
„Nein, warum denn? Spielt das eine Rolle?“
„Also, du bist wirklich ein komischer Typ“, sagte Troll.
„Alle Erwachsenen fragen doch, wie alt man ist und in welche Klasse man geht und worin man am besten ist.“
„Also gut“, erwiderte Jonas. „Wie alt bist du und worin bist du am besten – und was war da außerdem noch?“
„Wenn du es unbedingt wissen willst“, sagte Troll, „ich bin dreizehn Jahre und zwei Monate und sieben Tage. Ungefähr jedenfalls. Und ich bin in keinem Fach am besten. Besonders nicht in Gymnastik, wo ich gern am besten wäre, damit jeder mich Schmetterling oder Sperber oder so was nennen würde. Einmal, als ich an der Sprossenwand hing, sagte die Lehrerin, daß ich wie eine Eule aussehe, aber das ist ja wohl nicht ganz dasselbe.“
Jonas lachte, und Troll freute sich. Der Papagei sah sie an. Er hatte vielleicht Heimweh nach seinem früheren Zuhause. Es war wohl auch nicht immer ein reines Vergnügen, ein Papagei zu sein.
Es begann dunkel zu werden, als der Bus leer und der Flur in Jonas’ neuer Wohnung voll war. Jonas und Troll seufzten gleichzeitig, und dann nahm Jonas einen Christstollen, eine Flasche Saft und eine Gitarre aus seinem grünen Rucksack.
„Christstollen!“ sagte Troll. „Im Oktober!“
„Christstollen ist doch etwas Feines“, erwiderte Jonas verwundert und zupfte an seiner Gitarre. „Wenn man Christstollen mag, kann man ihn wohl das ganze Jahr über essen, sooft man Appetit darauf hat. Christstollen ist übrigens das einzige, was mir an Weihnachten gefällt. Alles andere ist so anstrengend.“
Jonas saß genau innerhalb der Türschwelle und Troll genau außerhalb auf dem Steinfußboden des Treppenhauses. Es war ein prima Umzugsschmaus. Eine Frau, die die Treppe herunterkam, musterte sie neugierig und mißbilligend zugleich.
„Hätten Sie gern ein Stück Christstollen?“ fragte Jonas.
Sie antwortete nicht, sondern polterte nur die Treppe hinunter, daß die Räder ihres Einkaufswägelchens ratterten.
„Kannst du nicht etwas Schönes spielen?“ schlug Troll vor. „‚I do, I do, I do‘ vielleicht?“
„Nein, so was Komisches kann ich nicht. Zu Hause habe ich immer mit einem Freund zusammen gespielt. Ich war meistens für Baß und Refrain zuständig. Ja, Baß und Refrain, das bin ich.“
„Ach so“, sagte Troll. „Tschüs dann, Baß und Refrain, jetzt muß ich heim.“
Jonas nickte nur und zupfte weiter an seiner Gitarre. Er war wohl nicht gerade der Typ, der „bis bald“ sagt.
Er spielte und sang leise dazu: „Wir fahren in einem Boot nach Cytherae, mit dem Nachtwind als Segel, und keiner sieht uns dabei …“
Lustig klang das. Eigentlich sogar richtig schön, fand Troll.