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Mein neuer Freund von nebenan

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„Hallo, kleine Jennifer“, sagte Trolls Vater. Er saß an seinem braunen Schreibtisch und korrigierte Hefte. „Wo bist du gewesen?“

„Draußen“, erwiderte Troll.

„Ach, wirklich?“ murmelte ihr Vater, ohne aufzusehen.

Troll seufzte ein wenig und sah ihn an. Er war kahlköpfig bis auf einen Kranz von dünnen Haaren an den Seiten. Und er trug ein kariertes Hemd, das wenigstens nicht ganz hoffnungslos war. Glücklicherweise hatte er ja auch nicht so eine überkämmte Glatze wie jener Mann, der im Haus wohnte. Dieser Typ frisierte seine Haare vom einen Ohr über den Kopf und auf der anderen Seite wieder herunter. Troll und Liselotte beschatteten ihn einmal, als es windig draußen war, doch nichts geschah. Er strich sich bestimmt Fettcreme ins Haar. Trolls Mutter sagte stets, wenn sie ihn sah: „Besser eine ehrliche Glatze als eine überkämmte.“

Nun war sie gerade damit beschäftigt, das Abendessen zu richten. Es duftete nach Tomaten, Porree und verschiedenen anderen Gemüsesorten. Liselotte und Kent sollten abends kommen, und Trolls Mutter fürchtete immer, daß Liselotte nicht ordentlich aß, wo sie doch jetzt ein Baby erwartete.

Liselotte und Kent aßen wirklich nicht viel. Die einzige, die eine Menge verzehrte, war Trolls Mutter. Typisch. Sie, die eigentlich nur eine halbe Tomate zu sich nehmen sollte!

Liselotte seufzte während des Essens darüber, daß ihre elektrischen Lockenwickler kaputtgegangen waren.

„Daß du dich mit solchem Zeugs abgibst!“ sagte Troll. „Das werde ich bestimmt nie tun.“

Sie verschwand rasch in ihr Zimmer und schloß die Tür, sobald das Abendessen beendet war. Dort versuchte sie Jonas aus dem Gedächtnis zu zeichnen. Es klappte aber nicht so recht.

Sie ärgerte sich richtig, als ihre Mutter rief, sie sollte doch wenigstens noch mit Tee trinken. Troll haßte Gebäck. Ihre Mutter hatte zu allem Überfluß auch noch so besonders ekelhafte Hörnchen gekauft, die wie kleine Staubsauger aussahen. Oder wie Fadenspulen.

Schließlich ging Troll doch ins Wohnzimmer, um Streit zu vermeiden, doch es war wirklich langweilig. Ihr Vater hielt einen kleinen Vortrag über die Ausgaben des Staates für das Gesundheitswesen. Kent saß auf dem. Ledersofa, ein Bein übers andere geschlagen, und hörte sehr höflich zu. Trolls Mutter suchte nach alten Fotografien, und während sie in einer Schublade kramte, hielt es Troll nicht länger aus.

Sie flüsterte Liselotte zu: „Du, heute hab ich einen Freund gefunden!“

Typisch, typisch! Gerade in dieser Sekunde waren zufälligerweise alle mäuschenstill. Kein Wort von Krankenhäusern oder Bildern oder etwas in dieser Art.

Und Trolls Geflüster fiel ungefähr siebenmal so laut aus wie sie es beabsichtigt hatte. Alle sperrten die Augen auf, und Trolls Mutter lächelte und tätschelte ihr die Hand.

„Aber wie schön für dich, Herzchen. Du vermißt doch schon so lange eine Freundin. Wie heißt sie denn?“

„Jonas“, erwiderte Troll.

Ihre Eltern wechselten einen raschen Blick.

„Ach so, ach so“, sagte ihr Vater. „Und wo wohnt er?“

„Hier im Haus. Er ist heute eingezogen. Nicht in so eine riesige Wohnung wie unsere, sondern in eine kleine. Eigentlich ist sie viel hübscher.“

„Aha.“ Trolls Vater nickte. „Dann kommt er ja in die gleiche Schule wie du.“

Troll mußte bei der Vorstellung, daß Jonas zur Schule gehen sollte, so lachen, daß sie beinahe vom Sofa fiel.

„Er geht nicht zur Schule!“ stöhnte sie, als sie genug gelacht hatte.

Nun runzelten ihre Eltern die Stirn. Sie sahen beinahe wie Ziegen aus. „Was macht er denn dann?“ fragte Trolls Mutter.

„Er ist Drucker“, antwortete Troll. „Er druckt Zeitungen.“

Ihr Vater räusperte sich. „Wie alt ist dieser Jonas, den du deinen Freund nennst?“

„So um die fünfundzwanzig herum, ich weiß nicht genau. So was spielt doch keine Rolle. Er ist mein Freund, begreift ihr das nicht?“

Wieder wechselten ihre Eltern einen Blick.

„Es ist wohl besser, wenn du Umgang mit Gleichaltrigen hast, Kleines“, sagte ihr Vater mit seiner allerdeutlichsten Schulstimme.

„Ach, ihr versteht ja überhaupt nichts!“ rief Troll, stürzte in ihr Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Durch die Wand hörte sie ihre Familie miteinander sprechen.

„Sie hat es ja so schwer, Freunde zu finden …“

„Keine richtigen Interessen …“

„Als ich ein Kind war, ging man gemeinsam in den Wald und freute sich.“

„Es muß ja nicht jeder Pfadfinder sein …“

„Beruhigt euch doch! Es ist wohl nicht verboten, Leute zu mögen, die nicht genauso alt sind wie man selbst.“ Das war Liselottes Stimme. „Denkt doch einmal an euch selbst. Zwischen euch sind zehn Jahre Altersunterschied. Als du so alt wie Troll warst, Mama, war Papa auch schon dreiundzwanzig.“

„Aber wir haben uns damals schließlich noch nicht gekannt!“ Troll zog sich aus, schlüpfte in ihr rosa Nachthemd und zog die Jalousie herunter. Sie konnten ihr alle gestohlen bleiben!

„Baß und Refrain“, summte sie in ihr Kopfkissen. „Gute Nacht und schlaf gut, Baß und Refrain!“

Der Kleinbus stand nicht mehr auf der Straße, als Troll am nächsten Tag zur Schule ging. Während der Unterrichtsstunden fiel es ihr nicht leicht, aufzupassen. In der Vormittagspause ging sie mit dem Hund spazieren, der der Besitzerin des Blumenladens neben der Schule gehörte. Fast alle anderen Mädchen gingen paarweise über den Schulhof, manche sogar Arm in Arm. Troll hatte nie eine richtige Freundin gehabt. Wenigstens keine richtige beste Freundin.

„Hör mal, Moses“, sagte sie zu dem Hund. Es war ein Schäferhund, aber ein gutmütiger. „Ich hoffe, du bist nicht beleidigt. Ich habe nämlich einen neuen Freund – einen Menschen. Er heißt Jonas, aber ich nenne ihn Baß und Refrain. Er hat ziemlich dichtes, fast kohlschwarzes Haar und ganz graue Augen. Und glaube mir, er ist nicht wie andere Erwachsene. Überhaupt nicht.“

Moses sah nachdenklich drein und drehte eine Extrarunde um einen Stein.

Als Troll von der Schule nach Hause kam, ging sie geradewegs zu Jonas’ Tür und klingelte. Ein Namensschild hatte er noch immer nicht angebracht.

„Nur hereinspaziert!“ rief er.

Troll lachte. Genau das sagten ihre Eltern auch immer, wenn sie auf dem Land waren und jemand an die Tür ihres Sommerhauses klopfte. Doch in der Stadt ist so etwas ja nicht üblich. Man versperrt seine Tür und öffnet nur ganz vorsichtig, legt vielleicht sogar eine Sicherheitskette vor.

Jonas’ Tür aber war nicht versperrt. Er lag im großen Zimmer auf dem Fußboden und sah zur Decke hoch. Troll trat ein.

„Welche Platten hörst du für gewöhnlich?“ fragte sie, als sie den Schallplattenspieler entdeckte, und setzte sich neben ihn auf den Boden.

„Für gewöhnlich?“ wiederholte er schläfrig. „Ich tue nie etwas für gewöhnlich. Das ist ein langweiliger Ausdruck, ‚für gewöhnlich“, finde ich. Was machst du denn für gewöhnlich?“

„Oh, ich mache wahnsinnig vieles für gewöhnlich“, sagte Troll. „Zum Beispiel bürste ich mir die Zähne für gewöhnlich jeden Morgen um zwanzig vor sieben. Dann esse ich für gewöhnlich Corn-flakes mit Milch und anschließend trinke ich für gewöhnlich Fruchtsaft, wenn noch einer da ist. Sonntags fahre ich für gewöhnlich zu meiner Großmutter. Sie hat übrigens genauso eine Stupsnase wie ich. Und jeden Samstag, das ist morgen, fahre ich für gewöhnlich auch zum Großvater, aber da fährt Mama für gewöhnlich nicht mit, weil sie dann für gewöhnlich Kopfschmerzen hat. Doch ich hab das für gewöhnlich nicht, denn Großvater macht für gewöhnlich Knüpfteppiche und Rindenboote und alle möglichen schönen Sachen, obwohl er nur zwei Finger an der einen Hand hat. Und dann gehe ich für gewöhnlich …“

„Herrje, mir geht all dein ‚für gewöhnlich‘ auf die Nerven!“ erwiderte Jonas. „Wie hältst du das bloß aus? Da habe ich einen besseren Vorschlag. Wir nehmen die Gitarre und fahren an irgendeinen hübschen kleinen See mit Wellen drauf. Dann setzen wir uns unter einen Baum und schauen, ob man vielleicht schon merkt, daß der Winter kommt.“

Schließlich fuhren sie tatsächlich an einen See. Jonas spielte unter einem Baum Gitarre, und Troll füllte ihre Holzpantoffeln mit roten und goldenen Herbstblättern. Die Blätter sahen aus wie Trolls Haare, fand Jonas.

„So“, sagte er, „jetzt spielen wir so laut und schön, daß das Seeungeheuer aus dem Wasser kommt. Das gibt’s doch wohl hier am Ratsee. Jedenfalls haben wir zu Hause im Großsee eines.“

„Ich weiß nicht so genau. Hier gibt’s vielleicht nur Räte.“

„Räte?“

Troll lachte.

„Ich hab nur Spaß gemacht. Du willst mir doch nicht weismachen, daß du in eurem Großsee ein Seeungeheuer gesehen hast?“

„Und ob ich es gesehen habe!“ rief Jonas.

Er legte die Gitarre beiseite.

„Paß mal auf“, sagte er. „Wenn man frühmorgens an den Strand kam und ein hübsches Lied sang, dann kam es heraus. Es kletterte natürlich langsam aus dem See, um nicht Häuser zu überschwemmen oder sonst ein Unheil anzurichten. Es ist nämlich lieb und freundlich, weißt du. Nein, das Seeungeheuer kroch sehr vorsichtig und langsam aus dem Wasser. Fünf- oder sechsmal hat es sich neben mich gelegt, soweit ich mich erinnere. Und ich war ja nicht viel größer als sein rechter Fuß …

‚Kannst du mir die Zähne putzen, Jonas?‘ fragte es. ‚Ich hab schon wieder ekliges Öl von so einem verflixten Außenbordmotor verschluckt. Ich fühle mich nicht so recht frisch.‘

‚Aber selbstverständlich!‘ erwiderte ich. Und dann nahm ich meine Zahnpasta und meine kleine Zahnbürste aus der Jackentasche. Und ich bürstete dem Ungeheuer ganz sorgsam die Zähne. Das war eine Riesenarbeit, kann ich dir sagen. Es hatte schöne Zähne, genau wie du, aber viel größer. Jeder Zahn war so groß wie ein Schuhkarton. Da freute es sich, und ich mußte sein Lieblingslid singen. Das heißt: ‚Mir geht’s so gut, mir geht’s so gut, ja, richtig gut, und hoffentlich euch auch …‘ Es ist ein griechisches Lied, weißt du.“

Jonas strich sich übers Haar.

„Wenn das Seeungeheuer dieses Lied hörte, und seine Zähne richtig sauber waren und nach Pfefferminze statt nach Öl rochen, dann war es glücklich“, sagte er. „Dann wedelte es mit seinem langen, grünen, glänzenden Schwanz und scherte sich den Teufel um die Leute. Seine Augen leuchteten, und wir wurden alle miteinander naß bis auf die Haut – Menschen, Autos, Häuser und Felsen. Und doch war es, als würde ringsumher alles singen.“

Troll sah Jonas an. Seine Augen waren groß, klar und grau.

„Wenn ich so ein Ungeheuer träfe, würde ich es bitten, daß ich lange Zeit in seinem Mund liegen und schaukeln darf“, sagte sie.

„Ja, das wäre schön“, bestätigte Jonas. Und er spielte auf seiner Gitarre und sang dazu: „Mir geht’s so gut, mir geht’s so gut, ja, richtig gut …“

Aber kein Seeungeheuer kam aus dem Ratsee.

„Ihr habt zuviel Schmutz in euren Seen“, sagte Jonas schließlich.

„Wer – wir?“ fragte Troll beleidigt.

Doch Jonas gab keine Antwort. Es war ein ziemlich windstiller Tag, und sie mieteten ein Ruderboot. Troll konnte recht gut rudern, und das wollte sie Jonas zeigen. Er verstaute seinen langen, schmalen Körper auf dem Boden des Bootes, lag dort und sah zu den Wolken, die Gitarre zwischen den Füßen, während Troll ruderte. Das Boot schaukelte ein bißchen hin und her, aber er schien es nicht zu merken.

Es war, als fände er es ganz selbstverständlich, daß Troll rudern konnte. Nicht das kleinste Lob kam über seine Lippen.

„Wenn wir in den Ferien sind, darf ich fast nie rudern“, sagte Troll versuchsweise. „Wenn Mama dabei ist, will sie rudern, weil man dabei so viele Kalorien verliert, und dann wird sie nicht dicker. Und wenn Papa dabei ist, will er rudern, weil er Wert darauf legt, daß das Boot ganz schnurgerade fährt und kein bißchen hin und her schaukelt.“

„Ein bißchen hin und her schaukeln ist am schönsten“, meinte Jonas und schloß die Augen.

Die Dämmerung brach schon herein, als sie nach Hause fuhren. Jonas hatte keine Uhr.

„Ich mag keine Uhren“, sagte er. „Wenn man immer weiß, wie spät es ist, muß man dauernd etwas tun. Himmel, jetzt ist’s acht Uhr, jetzt muß ich essen! Oder: Herrje, jetzt ist es drei, ich muß Tabak kaufen. Oder: Jetzt ist es zehn, da muß ich schlafen. Ohne Uhr geht alles von selbst. Natürlich verpaßt man manchmal einen Zug, aber es gibt so viele Züge.“

„Aber in der Arbeit mußt du doch wohl eine Uhr haben? Oder klingelt es bei euch wie in der Schule, so daß du weißt, wann du anfangen und aufhören mußt?“

„Bei uns in der Arbeit darf man wirklich keine Uhr tragen“, sagte Jonas. „Da kommt der Meister wie eine Rakete angeschossen. Uhren könnten in den Maschinen steckenbleiben, und dabei würde einem vielleicht die ganze Hand abgerissen. Oder ich würde zu Mus zerquetscht. – Nein, das geht nicht, eine Uhr kann ich in der Arbeit nicht brauchen. An den Wänden hängen große Uhren, weißt du. Und im übrigen besteht keine große Gefahr, daß man weiterarbeitet, wenn die anderen Pause machen. Das hat man doch im Gefühl, wenn’s soweit ist.“

Er parkte seinen Kleinbus am Straßenrand, schlug einen munteren Akkord auf der Gitarre und sprang heraus.

„Ich möchte so werden wie du“, sagte Troll leise.

Jonas schüttelte den Kopf. „O nein, du sollst nicht so wie ich werden. Versuch statt dessen lieber, du selbst zu sein. Das ist am besten. Sieh dir meinen Papagei an. Der versucht nicht so zu sein wie andere Papageien. Er ist stark und klug und frißt Nüsse. Er ist großartig.“

Troll seufzte. Sie hatte sich in Baß und Refrain verliebt.

Mein großer Freund von nebenan

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