Читать книгу Der Schauspieler im Maelström - Vladimir Pavic - Страница 7
Die Masse der ersten Eindrücke
ОглавлениеLuxemburg als Probenort ist eine aufregende Sache. Zum ersten Mal im Ausland, zum ersten Mal an einem großen „Ding“ teilnehmend, zum ersten Mal freischaffend tätig sein. Die Enge meines Studios am Nationaltheater Weimar hinter mir gelassen zu haben verschafft mir ein Gefühl der Freiheit, erfüllt mich mit Stolz und lässt eine aufregende Aufbruchsstimmung in mir entstehen. Mein Bedürfnis, mich in dieses Abenteuer einzulassen, wird getragen von der Hoffnung, künstlerisch und persönlich von Hansgünther Heyme viel zu lernen, einen weiteren Flecken zu knüpfen, den man zu den bereits mühsam erworbenen hinzufügen kann, damit ein noch größerer Teppich entstehen möge.
Vor der Konzeptionsprobe lasse ich mich von den oben beschrieben Gefühlen und Stimmungen tragen, doch mit Heymes Vortrag setzt ein enormes Lampenfieber ein. Der Bauch erwärmt sich, das Herz klopft im Hals und meine Aufmerksamkeit ist hündisch wach. Heyme schildert seine Eindrücke aus Madrid bei seiner „Kaufmann von Venedig“-Inszenierung. Er hätte den Spaniern das Leid bzw. die Katastrophe der Juden erst erklären müssen. Warum habe der Schauspieler des Shylock eine gelbe Pappnase zu tragen? Warum erinnere die Bühne an einen Duschraum? Usw. Bildungslücken oder Geschichtsignoranz? Die Juden-Diskussion in Spanien ist, geschichtlich motiviert, eine andere bzw. findet erst gar nicht statt. Heyme schildert deswegen so detailliert, weil die spanische „Kaufmann“-Inszenierung und unser „Diener“ konzeptionell eine Einheit bilden sollen, sozusagen ein Portrait Venedigs, seiner Geschichte, Menschen und Extreme. Auf die Frage, warum diese beiden Stücke im Zusammenhang gezeigt werden, antwortet Heyme im Programmheft der Ruhrfestspiele: „In beiden Stücken gibt es das Oben und das Unten. Gegen die Welt der Kaufleute Antonio und Pantalone stehen die Diener, bei Goldoni Truffaldino, Brighella, Smeraldina und viele andere, bei Shakespeare vor allem Lanzelot Gobbo. Das sind getretene Kofferträger einer kaputten Geldschicht. Die völlige Verschimmelung dieser Ebene, der Adelswelt, ist bei Shakespeare noch nicht so weit fortgeschritten wie 150 Jahre später bei Goldoni, wo sie bereits vollzogen ist. So wird beispielsweise im `Kaufmann´ die Gefahr gezeigt, dass Rechtssicherheit, Rechtssprechung unterlaufen werden kann, käuflich ist. Bei Goldoni gibt es überhaupt kein öffentliches Recht mehr. Geld ersetzt das Recht. Ohne Geld kein Recht.“ (2)
Unser Spielort wird die stillgelegte riesige Gebläsehalle der ARBED-Stahlwerke in Esch (geschluckt von ArcelorMittal - mittlerweile größter Stahlkonzern der Welt), ein Ort im Süden Luxemburgs sein. Sie misst etwa 160m!!! in der Länge (das sind knapp zwei Fußballfelder hintereinandergereiht) und ist ganze 27m!!! hoch (etwa die Höhe des Hochhauses in München-Giesing, in dessen Schatten ich aufgewachsen bin). Ein allgemeines Raunen macht sich breit, entsetzte Blicke treffen in der Mitte des großen Tisches zusammen und lassen die alles entscheidende Frage sichtbar werden: „Wie sollen wir diesen Raum bespielen und besprechen?“
Das Modell der Bühne, auf der beide Inszenierungen stattfinden werden, zeigt einen kühlen, sterilen, aseptischen Raum. Maßgeblich für diesen Eindruck sind ein grüngekachelter, glänzender Boden, ein verwirrendes System aus Messingrohren, sowie Schlachtervorhänge aus dickem, durchsichtigem Weichplastik. Den optischen Fixpunkt oder die Pointe des Raumes bildet eine grüngekachelte hochstehende Wanne, die von zwölf kleinen Wasserhähnen aus Messing und einem großen Silberhahn gespeist wird, eine Art Wasser-Altar, zweifellos ein delikates religiöses Bühnenbildmoment.
Die Figurinen weisen auf Kostüme in Anlehnung an die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hin, eine Feydeau-Kostüm-Atmosphäre soll entstehen. Wir werden ohne Masken spielen.
Nach der ausführlichen Vorstellung des Konzeptes haben sich alle Schauspieler nacheinander dem Ensemble vorgestellt. Zuallererst Ekkehard Schall. Er wirkt bescheiden, scheu, alt. Seine Rede - ruhig, klar, knapp, selbstbewusst und intelligent. Er verliert zwei Sätze über seine Vergangenheit. Schade, aber wir haben ja noch so viel Zeit. Er spricht von seiner Verantwortung für das ganze Stück, also nicht nur für seine Szenen. Er unterstützt Heymes Vorhaben, das Stück ohne Masken zu spielen, denn es gebe nichts Beengenderes für einen Schauspieler als eine Maske. Dieser Satz erstaunt mich, eröffnet eine Maske doch völlig neue Räume. Er beschreibt in kurzen Zügen seine Vorstellung der Figur und nimmt dabei Anlehnung an Dantes „Göttlicher Komödie“. Arrlecchino sei ein Teufel und kein geplagter, mitleiderregender armer Schlucker. Er spielt den Truffaldino.
Peter Kaghanovitch erinnert in seiner äußeren Erscheinung an den italienischen Koch und Opernkomponisten Rossini. Wohl beleibt, eine sich prächtig schwarzlockende Haarpracht, ein vokalistisch lautes, nicht unmelodiöses Sprechorgan mit leichtem schweizer Akzent. Dieses Erscheinungsbild wird nochmals durch impulsiv großräumige Gebärden sympathisch belebt. Über dem dritten Shakra, das durch das bis zum Brusthaaransatz offene Hemd sichtbar geworden ist, hängt ein daumendicker in Golddraht eingefasster, oktagonal geschliffener Bergkristall. Er wird den Dottore spielen.
Ein Komödiant, der sich ohne viele Worte vorstellt, ist Wolfgang Robert. Er ist der älteste im Bunde, 74 Jahre alt (Schall ist meines Wissens erst 71 Jahre alt), er kennt Heyme bereits seit 25 Jahren und hat in einer Vielzahl seiner Inszenierungen mitgewirkt. Er und Peter Kaghanovitch werden die Sunny Boys der Produktion sein. Beide haben wir vier Studenten bereits in der „Ion“-Inszenierung in Lausanne erlebt. Er wird den Pantalone spielen.
Brigitte Horn wirkt auf mich wie die Zwillingsschwester von Christine Kaufmann, macht einen verträumten, zerbrechlichen Eindruck auf mich und lässt ab und an, vor allem wenn sie Wolfgang Robert nachäfft, eine nicht unsympathische Zickigkeit durchblicken. Ihre dünne Fistelstimme ist sehr charmant. Sie spielt die Smeraldina.
Sie, Wolfgang Robert und Peter Kaghanovitch kennen sich schon sehr lang und sie zeigen es auch auf eine lockere Art und Weise. Zusammen mit Ekkehard Schall sind sie etwa 250 Jahre alt und repräsentieren 50 Jahre deutsche Theatergeschichte.
Ingrid, Kerstin, Jörg und ich sind allesamt 70iger Jahrgänge und machen unsere ersten Schritte auf den Brettern, die die Welt bedeuten.
Brighella und die restliche Diener-, Kellner- und Trägerschaft werden von luxemburger Laienschauspielern gespielt. Eine Heyme´sche Spitze gegenüber dem reichen und Banken-schwangeren Gastgeberland, wie ich bereits zu diesem Zeitpunkt feststellen konnte.
Hier ein kurzer Abriss der Handlung des „Dieners“:
Beatrice reist als Mann verkleidet unter dem Namen ihres Bruders von Turin nach Venedig. Dort sucht sie ihren Geliebten Florindo, der aus der Heimatstadt fliehen musste, weil er Beatrices Bruder getötet hat. Beatrice und Florindo steigen, ohne voneinander zu wissen, im selben Gasthof ab. Da Beatrice ihren Diener Truffaldino schlecht bezahlt, tritt dieser heimlich auch in den Dienst Florindos. Um als Diener zweier Herren nicht ertappt zu werden, muss er das verhindern, was seine Herrschaften innig erreichen wollen: sich zu treffen. Dies erfordert ein geschicktes Jonglieren mit den Fäden der Handlung, das manchmal geradezu halsbrecherische Formen annimmt. Doch am Ende finden Beatrice und Florindo so wie auch das zweite Paar Silvio und Clarice wieder zusammen – und auch für Truffaldino ergibt sich mit der Zofe Smeraldina eine passende Verbindung… (3)