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1. Frust und Ärger

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Es war ein miserabler Tag gewesen, einer von vielen in letzter Zeit. Eigentlich gab es ohnehin seit einer ganzen Weile kaum noch gute Tage, sondern fast nur noch schlechte und wirklich schlechte. Der heutige Tag hatte wieder einmal alles gehabt, was die Stimmung so richtig versaute. Der Chef hatte wie immer lustig Arbeitsaufträge verteilt, obwohl er ohnehin kaum noch hinterher kam. Die Arbeitsbelastung hatte in den letzten Jahren ständig zugenommen. Neue Stellen waren nicht geschaffen worden, alte wurden stillschweigend gestrichen, wenn Kollegen den Betrieb verließen. Stattdessen hatten interne Reorganisationen immer damit geendet, dass seiner Stelle neue Zuständigkeiten zugefallen waren. So kam es dann zu Fehlern. Die führten dann zu Ermahnungen, dass er müsse sorgfältiger arbeiten. Es wurden zusätzliche Kontrollsysteme eingeführt, zusätzliche Formulare waren auszufüllen, und es gab einfach mehr tun.

Er mühte sich ab, aber so allmählich fühlte er sich den Anforderungen einfach nicht mehr gewachsen. Doch die Sachen einfach hinschmeißen, das ging auch auch nicht. In seinem Alter war es nicht so einfach, eigentlich sogar fast unmöglich, einen Job in seiner Branche mit vergleichbarem Gehalt zu finden. Die Alternativen waren Hartz IV oder vielleicht ein Job im Callcenter.

Die Tochter war zwar aus dem Haus, aber sie studierte, und dadurch wurde sein Bankkonto auch gefordert. Seine Frau hatte ihn zwar vor ein paar Jahren verlassen und war selbst berufstätig, trotzdem war die Trennung finanziell nicht folgenlos geblieben.

Beförderungen waren schon lange kein Thema mehr, es ging nur noch darum, irgendwie über die Runden zu kommen. So ging es dann jeden Tag aufs Neue in die Tretmühle. Gerade heute hatte es wieder ein ausgesprochen unerfreuliches Telefongespräch mit einem wichtigen Kunden gegeben. Ein blöder Fehler war ihm unterlaufen, eigentlich nicht mal ihm selbst. Aber das Dokument, das rausgegangen war, hatte seine Unterschrift getragen. Und so hatte er am Telefon die ätzende Kritik über sich ergehen lassen müssen.

Am Ende war der Tag doch irgendwie zu Ende gegangen, und er war jetzt auf dem Weg zu seinem Auto. Georg Milden war Anfang 50, leicht übergewichtig und schwer desillusioniert. Seit einiger Zeit betrieb er Sport, Fitness-Studio, Schwimmen, Laufen. Vor ein paar Wochen hatte er am Halbmarathon teilgenommen und war lebend ins Ziel gekommen. Seiner Gesundheit hatte dies gut getan. Aber an besonders schwarzen Tagen fragte er sich auch schon mal, ob ein Herzinfarkt denn nicht die reizvollere Alternative wäre.

Dann, auf halbem Weg zwischen Büro und seinem Wagen, fing es an zu regnen. Er hatte morgens einen Schirm eingesteckt, aber der lag jetzt im Auto. So ein Mist. Er wollte nur noch nach Hause. Endlich erreichte er den Parkplatz. Den Luxus leistete sich Georg Milden, trotz hoher Benzinpreise fuhr er täglich mit dem Auto nach Köln. Auf dem Weg zur und von der Arbeit wollte er ein bisschen Ruhe und Privatsphäre haben, in der S-Bahn war das nicht möglich.

Er schloss den Wagen auf und ließ sich in den Fahrersitz sinken. Dann legte er eine CD ein. Manowar, Heavy Metal. Das brauchte er jetzt. So setzte er sich in Bewegung, fuhr vom Parkplatz runter und quälte sich durch den Feierabendverkehr, die Abenddämmerung und den immer heftiger werdenden Regen in Richtung Autobahn. Aus dem Lautsprecher tönten die harten, elektrisierenden Rhythmen von 'Die with Honor'. Er summte mit und trommelte mit den Fingern rhythmisch aufs Lenkrad. Aber heute war er so schlecht gelaunt, dass die Musik ihn nicht wirklich ablenkte. Ehrenvoll sterben, der Ehre entgegen reiten. An dem täglichen Wahnsinn, der sein Leben prägte, war nichts wirklich großartig und ehrenvoll. Und überhaupt, ehrenvoll sterben, was sollte das denn? Er wollte sein Leben bewältigen und brachte nicht mal das zustande.

Schließlich erreichte er die Autobahn, und dort kam er zunächst ganz gut voran. Dann kam es, wie es kommen musste: Stau. Es ging kaum noch vorwärts, und Georg Milden hatte jetzt wirklich genug. Zum Glück befand er sich in der Nähe einer Ausfahrt, da fuhr er ab. Andere Fahrer hatten sich ebenfalls für diese Variante entschieden, und der Verkehr auf der Bundesstraße war nur geringfügig weniger dicht als auf der Autobahn. Weiter der Bundesstraße zu folgen, hieße eine schier endlose Abfolge von Ampeln erdulden zu müssen, was selbst ohne hohes Verkehrsaufkommen nervend war. Deshalb entschied er sich dafür, lieber noch einen weiteren Umweg machen, und zwar über eine für gewöhnlich wenig befahrene Landstraße, die durch ein Waldstück führte. Also Blinker raus und links abgebogen.

Hier war es besser. Mann, hatte er die Faxen dicke. Er hatte keine Lust mehr, er hatte absolut keine Lust mehr.

Die Baustelle sah er erst im letzten Moment. Totalsperrung, die Straße war unpassierbar. Den Wagen konnte er noch gerade so abbremsen. Warum verdammt war denn da an der Abzweigung kein Schild gewesen, das auf die Sperrung hinwies. Oder hatte er es einfach übersehen? Mist, jedenfalls, Mist. Drehen konnte Georg Milden hier nicht. Aber etwa 50 Meter hinter ihm befand sich ein Wanderparkplatz, da würde er wenden. Genervt legte Georg Milden den Rückwärtsgang ein, setzte den Wagen zurück und lenkte ihn auf den Parkplatz. Als er gerade den Wagen wenden und auf die Straße zurückfahren wollte, bemerkte er aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Verdammt, da lag am Waldrand doch jemand am Boden. Es war jetzt fast dunkel, und er konnte nur Umrisse erkennen. Auch das noch. Was würde dieser Tag noch alles bringen, nur um ihn zu quälen und von der wohlverdienten Ruhe zu Hause fernzuhalten.

Einen Moment lang war Georg Milden versucht, einfach wegzufahren. Aber er wusste, dass er sich dann den ganzen Abend Gedanken machen würde: Was, wenn er jemanden, der vielleicht verletzt war und Hilfe brauchte, sich selbst überlassen hätte?

Sich in sein Schicksal ergebend löste er den Sicherheitsgurt und stieg aus. Es regnete immer noch, und der Boden war matschig. Er ging zum Waldrand und wirklich, da lag eine alte Frau und wimmerte. Na, dann war es ja besser, das er sich einen Ruck gegeben hatte. Die Frau hatte ihn entdeckt. 'Söhnchen, so gut von Dir, komm und hilf mir.' Sie sprach mit einem komischen Akzent und trug altmodische Kleidung, ein knöchellanges Kleid, eine Strickjacke und ein Kopftuch, das wohl beim Sturz verrutscht war.

'Warten Sie, ich helfe Ihnen. Sind Sie verletzt?' 'Hilf mir, Söhnchen, hilf mir auf.' Komischer Akzent und “Söhnchen“, wahrscheinlich eine Russlanddeutsche oder aus Kasachstan oder von sonst wo. 'Kommen Sie, dann wollen wir mal sehen, ob Sie stehen können.' Die alte Frau streckte die Hand aus, und Georg Milden ergriff sie und zog vorsichtig. Doch dann sprang die Alte überraschend flink auf, und ehe er wusste, wie ihm geschah, kletterte sie auf seinen Rücken und klammerte sich fest. Mit veränderter, krächzender, böser Stimme schrie sie ihm ins Ohr. 'Du dummer Esel, jetzt bist Du mein Sklave bis in alle Ewigkeit. Vorwärts Esel, trage Deine Besitzerin. Du wirst mich nie mehr abschütteln können. Und jetzt lauf!'

Völlig überrascht gehorchte Georg Milden. Wie ferngesteuert stolperte er vom Parkplatz in den Wald, wo ihn die Alte hin und hertrieb. Ihr Gewicht lastete schwer auf ihm. Es war ein Albtraum, es musste ein Albtraum sein. Oder er war gegen einen Baum gefahren und war jetzt tot und in der Hölle. Aber er konnte sich genau erinnern, wie er den Wagen angehalten hatte. Und er spürte seine durchnässten Schuhe und seine kalten Füße. Das war kein Albtraum, und die Hölle war es auch nicht. Die Szene erinnerte ihn dunkel an ein angeblich russisches Märchen, dass er in der Grundschule gelesen hatte. Entweder war das Ganze ein übler Scherz, oder die Alte war durchgeknallt und aus irgendeinem Heim abgehauen.

Er suchte nach einem weichen Untergrund und blieb dann stehen, ohne auf das Kreischen und Fluchen der Alten zu achten, die ihn weiter antrieb. Unsanft packte er ihre Hände, mit denen sie sich in ihn verkrallt hatte, und löste gewaltsam ihren Griff. Dann schüttelte er sich, und die Alte landete im Dreck. Zunächst blieb sie still. Ihr Gesicht konnte er in der Dunkelheit nicht erkennen, aber sie hatte offensichtlich nicht mit so etwas gerechnet. Dann aber brach ein Schwall übelster Flüche und Beschimpfungen aus ihr hervor. Georg Milden hatte genug und ging einfach weg. Das Fluchen verwandelte sich in Wimmern und Betteln und Flehen, aber er hörte nicht mehr hin.

Der Regen hatte aufgehört. Irgendwas musste er jetzt tun. Am besten würde er die Polizei rufen, denn vielleicht war die Alte einfach nur verwirrt und hatte Wahnvorstellungen. So zog er sein Handy aus der Jackentasche und wollte den Polizei-Notruf wählen. Aber klar, kein Empfang. Es wäre ja auch zu schön gewesen, wenn an diesem Tag irgendetwas geklappt hätte. Also zurück zum Auto, er würde die Polizei von unterwegs anrufen. Er versuchte, sich zu orientieren. Aber es war stockdunkel, und er konnte sich nicht mehr daran erinnern, in welcher Richtung die Straße lag. Auf gut Glück entschied er sich für eine Richtung.

Er lief eine ganze Weile durch den Wald, ohne zurück zum Parkplatz zu gelangen. Offensichtlich hatte er die falsche Richtung eingeschlagen. Aber er hatte auch keine Ahnung, welches die richtige Richtung war. Daher war es am besten, einfach weiter zu gehen, um aus diesem verdammten Wald herauszukommen. Schließlich sah Georg Milden Lichter durch die Bäume hindurch schimmern. Na gut, da waren wenigstens Häuser. Er zog sein Handy wieder aus der Tasche, doch es gab immer noch keinen Empfang. Mist, aber im Notfall würde er einfach an einem der Häuser klingeln und darum bitten, das Telefon benutzen zu dürfen.

So stolperte er aus dem Wald und kam zu einer Wiese. Über ihm leuchteten die Sterne, keine Wolke war mehr am Himmel zu sehen. Nicht weit weg lag im Dunkeln ein Dorf, aus den Fenstern schienen Lichter. Eine Straße sah er nicht und auch keine Autos oder Straßenlaternen. In der Ferne, einige Kilometer entfernt, schien ein anderes Dorf zu liegen. Irgendwie war das alles seltsam. Im Grunde war er immer noch im Kölner Stadtgebiet. Hier müssten jede Menge Häuser zu sehen sein oder ein Gewerbegebiet, auf jeden Fall aber Straßen mit Beleuchtung und Verkehr. Denn so spät war es ja auch noch nicht.

Und wie konnten sich die Wolken, aus denen es bis vor ein paar Minuten noch heftig geregnet hatte, in der kurzen Zeit so vollständig verzogen haben? Wie auch immer, er würde in das Dorf gehen. Wenn er dort immer noch keinen Handy-Empfang hatte, ein Telefon, Festnetz, würde es schon irgendwo geben.

Missmutig stapfte Georg Milden durch das Gras. Er hatte keine Ahnung, wann er nach Hause kommen würde. Morgen musste er wiederum früh raus und zurück in die Tretmühle. Das war also sein Feierabend, na großartig! Schließlich erreichte er das Dorf, und auch dieses wirkte seltsam. Die Straßen waren unbefestigt, die Häuser alle eingeschossig, viele waren aus Fachwerk. Das Licht hinter den Scheiben war relativ schwach und flackerte: Kerzenlicht? Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Das war eine Filmkulisse. Dies musste ein Studiogelände sein. Ob die verrückte Alte dazu gehörte? Nun, er würde es gleich herausfinden.

Zunächst lief er durch eine kleine Seitengasse, aber kurz darauf stand er auf der Hauptstraße des Dorfes. Kein Mensch war auf der Straße unterwegs. Etwa dreißig Meter von der Stelle entfernt, an der er stand, sah Georg Milden über einer Tür etwas, das wie ein Wirtshausschild aussah. Er ging darauf zu, und als er näher kam, hörte er Lärm aus dem Inneren des Hauses. Neben dem Schild brannten zwei Fackeln. Offensichtlich nahmen die es hier sehr ernst mit historischer Authentizität. 'Zur Goldenen Fackel', so hieß die Gaststätte. Wahrscheinlich befanden sich um diese Zeit darin die Schauspieler und das andere Personal und erholten sich vom Stress des Tages. Vor der Tür zögerte er etwas, hoffentlich platzte er jetzt nicht in eine Filmaufnahme.

Der Mann aus Anderland

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